Die vier psychischen Grundbedürfnisse
Bevor ich dir jedoch erkläre, wie Michael beziehungsweise du alte Muster auflösen kannst, möchte ich auf die vier psychischen Grundbedürfnisse näher eingehen. Versuche beim Weiterlesen ein Gespür dafür zu entwickeln, wie dein Schattenkind und dein Sonnenkind hinsichtlich dieser psychischen Grundbedürfnisse geprägt worden sind.
Das Bedürfnis nach Bindung
Das Bedürfnis nach Bindung begleitet uns von der Geburt bis zum Tod. Wie bereits erwähnt kann der Säugling ohne Bindung nicht überleben. Sehr kleine Kinder sterben, wenn man ihnen Körperkontakt verweigert. Aber auch jenseits der körperlichen Versorgung gehört der Wunsch nach Bindung, Zugehörigkeit und Gemeinschaft zu unseren seelischen Grundbedürfnissen. Das Bedürfnis nach Bindung spielt in unzähligen Situationen eine Rolle, nicht nur in Liebes- und Familienbeziehungen. So kann unser Bedürfnis nach Bindung zum Beispiel erfüllt werden, wenn wir uns mit Freunden treffen, chatten, unsere Pause mit Kollegen verbringen, zum Public Viewing gehen oder einen Brief schreiben.
Das kindliche Bedürfnis nach Bindung kann seitens der Eltern durch Vernachlässigung, Ablehnung und/oder Misshandlung frustriert werden. Die Bandbreite der Vernachlässigung ist natürlich groß. In leichten Fällen fühlt sich ein Kind vernachlässigt, weil die, an sich liebevollen Eltern aufgrund äußerer Umstände gestresst und überfordert sind. Zum Beispiel weil ein Elternpaar vier Kinder und nur sehr wenig Geld hat. In schweren Fällen werden Kinder von ihren psychisch gestörten Eltern oder Pflegepersonen seelisch und/oder körperlich misshandelt.
Wenn ein Kind in seinem Bindungsbedürfnis frustriert wird, kann dies unterschiedliche Auswirkungen auf seine psychische Entwicklung haben. Dabei spielt natürlich eine Rolle, wie schwer die Vernachlässigung in der Kindheit war. Aber auch die seelische Veranlagung des Kindes spielt eine Rolle. Das Zusammenspiel dieser Faktoren entscheidet darüber, ob es zu einer leichten Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls kommt oder sich sogar eine schwere psychische Störung entwickelt. In den meisten Fällen ist jedoch die Bindungsfähigkeit des Kindes beeinträchtigt, und zwar entweder indem es als Erwachsener enge Bindungen vermeidet beziehungsweise diese immer wieder zerstört oder indem es ein anklammerndes Bindungsverhalten entwickelt und sich mithin zu abhängig von einem Partner und anderen Menschen macht.
Das Bedürfnis nach Autonomie und Sicherheit
Neben dem Bedürfnis nach Bindung haben Kinder – ebenso wie Erwachsene – aber auch ein Bedürfnis nach Autonomie. Für das Kleinkind bedeutet dies, dass es nicht nur gekuschelt und gefüttert werden will, sondern dass es auch seine Umgebung erforschen und entdecken möchte. Es hat einen angeborenen Erkundungsdrang. Kinder haben ein großes Bestreben, eigenständig zu handeln, sobald ihre Fähigkeiten dies zulassen. Sie sind sehr stolz darauf, wenn sie etwas ohne die Hilfe ihrer Eltern bewerkstelligen können. Bereits Kleinkinder bestehen deshalb gern auf »selber machen!«, wenn die Eltern ihnen zur Hilfe kommen wollen. Unsere ganze Entwicklung ist darauf ausgelegt, dass wir selbstständig und unabhängig von der Fürsorge unserer Eltern werden.
Autonomie bedeutet Kontrolle, und Kontrolle bedeutet wiederum Sicherheit. Wenn man von einem »Kontrollfreak« spricht, dann bezeichnet dies das Verhalten eines Menschen, der sehr auf seine Sicherheit bedacht ist, weil er sich im tiefsten Inneren (aufgrund der Prägung des Schattenkindes) unsicher fühlt. Zum Autonomiebedürfnis zählt neben dem Wunsch nach Sicherheit auch der Wunsch nach Macht. Wir sind von Geburt an bestrebt, einen gewissen Einfluss auf unsere Umgebung auszuüben und Hilflosigkeit und Ohnmacht zu vermeiden. Die Mittel, mit denen wir Einfluss nehmen können, verändern sich im Verlauf unserer Entwicklung. Am Anfang können wir nur durch Schreien auf uns aufmerksam machen. Später durch komplexe Sprache und durch Taten.
Das Bedürfnis von Kindern, sich autonom zu entfalten, kann von Eltern behindert und frustriert werden. Überbehütende, stark kontrollierende Eltern, die dem Kind zu viele Vorschriften machen und ihm zu enge Grenzen setzen, beeinträchtigen es in seiner Autonomieentwicklung. Das Kind wird in seiner Entwicklung diese Ängstlichkeit und überzogene Kontrolle der Eltern verinnerlichen. Vielleicht beschränkt sich dieser Mensch in seinem weiteren Leben immer wieder, weil er so sehr an seinen Fähigkeiten zweifelt.
Ebenso beeinflussen Eltern, die in wohlmeinender Absicht dem Kind zu viele Hindernisse aus dem Weg räumen, die Entwicklung ihres Sprösslings eher ungünstig. Diese Kinder erleben sich auch noch als Erwachsene als unselbstständig und abhängig von einer Person, die Verantwortung für sie übernimmt. Oder sie grenzen sich radikal gegen die elterliche Erziehung ab und entwickeln ein geradezu überwertiges Motiv, unabhängig und frei zu bleiben und in übersteigerter Form möglichst viel Macht auszuüben.
Exkurs: Der Autonomie-Abhängigkeit-Konflikt
Die innere Balance zu finden zwischen unseren Bedürfnissen nach Bindung auf der einen Seite und Autonomie und Selbstständigkeit auf der anderen Seite, ist eine Herausforderung, die jeder Mensch für sich lösen muss. Es handelt sich sozusagen um einen menschlichen Grundkonflikt, der in der Fachliteratur als der Autonomie-Abhängigkeit-Konflikt bezeichnet wird. Das Wort Abhängigkeit kann man hier als ein Synonym für Bindung verstehen. Gemeint ist die Abhängigkeit des Kindes von elterlicher Zuwendung und Versorgung. Diese Versorgung kann jedoch, wie gesagt, nur erfolgen, wenn mindestens eine Person eine Bindung zu dem Kind herstellt. In den meisten Fällen ist dies ein Elternteil oder sind dies beide Elternteile. Erfüllen die Eltern feinfühlig und liebevoll die körperlichen und seelischen Bedürfnisse des Kindes, dann werden in dessen Gehirn Verschaltungen gebildet, die mit »Abhängigkeit« nicht allein etwas Negatives, sondern auch einen Zustand der Geborgenheit assoziieren. Bindung wird also im Gehirn dieses Kindes als etwas »Sicheres und Vertrauenswürdiges« abgespeichert. In der Fachsprache sagt man deswegen auch, dass das Kind eine sichere Bindung an seine Pflegeperson entwickelt hat. Das Gegenteil ist eine unsichere Bindung, die entsteht, wenn das Kind die Pflegepersonen als nicht zuverlässig erlebt hat. Das Schattenkind von Menschen mit einer unsicheren Bindung weist einen tiefen Vertrauensschaden auf, während es dem Sonnenkind von sicher gebundenen Menschen viel leichterfällt, sich selbst und anderen Menschen zu vertrauen.
Im Idealfall erfüllen die Eltern sowohl die kindlichen Bedürfnisse nach Bindung und Abhängigkeit als auch nach freier Entfaltung und Selbstständigkeit. Kinder, die so aufwachsen, erwerben Urvertrauen, also ein tiefes Gefühl der Sicherheit, das sich sowohl auf die eigene Person als auch auf die Verlässlichkeit zwischenmenschlicher Bindungen bezieht. Das Urvertrauen kann allerdings in späteren Entwicklungsjahren noch durch traumatische Erlebnisse wie Gewalt und Missbrauch stark erschüttert werden. In den meisten Fällen bleibt es jedoch erhalten und dient als lebenslange Kraftquelle. Menschen mit Urvertrauen haben es im Leben erheblich leichter als Menschen, die dieses Urvertrauen nicht erwerben konnten. Sie halten sich oft im Sonnenkindmodus auf. Allerdings kann man das Sonnenkind auch in späteren Lebensjahren noch sehr fördern. Wie das geht, werde ich dir im Verlauf des Buches zeigen.
Wird ein Kind entweder in seinem Bindungsbedürfnis frustriert und/oder in seiner Entwicklung zur Selbstständigkeit, dann wird es Probleme haben, sich selbst und anderen zu vertrauen. Um diese Unsicherheit zu kompensieren, sucht es unbewusst nach einer Lösung beziehungsweise einer Schutzstrategie. Dieser Selbstschutz entsteht, indem es sich (unbewusst) entweder auf die Seite der Autonomie oder auf die Seite der Abhängigkeit schlägt. Ist die innere Balance zugunsten der Autonomie gestört, dann hat dieser Mensch ein überhöhtes Bedürfnis, frei und unabhängig zu sein. Als Folge vermeidet er – beziehungsweise das Schattenkind in ihm – (zu) nahe menschliche Bindungen. Sein Schattenkind ist überzeugt, dass es anderen Menschen nicht (wirklich) vertrauen kann. Sicherheit bedeutet für diesen Menschen also, sich seine Unabhängigkeit und persönliche Autonomie zu bewahren. Psycho-logischerweise haben diese Menschen Probleme damit, sich eng an jemanden zu binden, also einer Liebesbeziehung zu vertrauen. Sie leiden also unter Bindungsangst, das heißt, sie gehen entweder keine Partnerschaft ein, oder sie lassen den Partner nicht wirklich nah an sich heran beziehungsweise stellen sie nach Momenten der Nähe immer wieder Distanz zu ihm her.
Ist die innere Balance eines Menschen hingegen zugunsten der Abhängigkeit gestört, dann hat er ein übersteigertes Bedürfnis nach menschlicher Bindung. Er klammert sich an seinen Partner beziehungsweise hat er, also das Schattenkind in ihm, das Gefühl, nicht ohne einen Partner leben zu können. Diese Menschen haben diffuse Ängste, dass sie nicht wirklich auf eigenen Füßen stehen können.
Das Bedürfnis nach Lustbefriedigung
Ein weiteres Grundbedürfnis von Kindern – ebenso wie von Erwachsenen – ist jenes nach Lustbefriedigung. Dabei kann Lust auf sehr unterschiedlichen...