Prolog
Ich weiß, was ich mir wirklich zu Weihnachten wünsche. Ich möchte meine Kindheit wiederhaben. Niemand schenkt sie mir … Ich weiß, daß es unvernünftig klingt, aber was hat Weihnachten mit Vernunft zu tun? Weihnachten hat etwas mit einem Kind von ganz früher und ganz weit weg zu tun, und es hat etwas mit einem Kind von jetzt zu tun. In dir und in mir. Es wartet hinter der Tür unseres Herzens darauf, daß etwas Wunderbares geschieht.
Robert Fulghum
Als ich die Teilnehmer meines Workshops betrachtete, war ich von der Intensität ihres Engagements beeindruckt. Hundert Leute in Gruppen von sechs bis acht füllten den Raum. Jede Gruppe war selbständig, die Leute saßen dicht beieinander und flüsterten miteinander. Es war der zweite Tag des Workshops, und ein großer Teil der Interaktionen und des Miteinanders hatte bereits stattgefunden. Trotzdem waren sich diese Leute zu Anfang völlig fremd gewesen.
Ich näherte mich einer bestimmten Gruppe, die einem grauhaarigen Mann aufmerksam zuhörte. Er las ihnen einen Brief vor, den das Kind in ihm an seinen Vater geschrieben hatte.
Lieber Dad,
Du sollst wissen, wie sehr du mich verletzt hast. Als wir noch zusammen waren, hast du mich oft bestraft. Die Striemen und Schrammen hätte ich ja noch ertragen können, wenn du bloß mehr Zeit für mich gehabt hättest.
Ich habe dir nie sagen können, wie sehr ich mich nach deiner Liebe gesehnt habe. Wenn du doch nur mit mir gespielt oder mich zu einem Fußballspiel mitgenommen hättest. Wenn du doch nur ein einziges Mal gesagt hättest, daß du mich lieb hast. Ich wünschte, du hättest dich um mich gekümmert …
Er bedeckte seine Augen mit den Händen. Eine Frau in mittleren Jahren, die neben ihm saß, streichelte ihm zärtlich über das Haar; ein jüngerer Mann ergriff seine Hand. Ein anderer Mann fragte ihn, ob er in den Arm genommen werden wolle; der grauhaarige Mann nickte.
Eine andere Gruppe saß auf dem Boden, und alle hatten die Arme auf die Schultern ihres Nachbarn gelegt. Eine elegante Frau in den Siebzigern las ihren Brief vor:
Mutter, du warst immer zu sehr mit deinen Wohltätigkeitsveranstaltungen beschäftigt. Du hattest nie Zeit, mir zu sagen, daß du mich lieb hast. Du hast dich nur um mich gekümmert, wenn ich krank war oder wenn ich Klavier spielte und du stolz auf mich warst. Du hast mir nur die Gefühle gestattet, die dir paßten. Ich war nur dann wichtig, wenn ich dir Freude machte. Du hast mich nie um meiner selbst willen geliebt. Ich war so allein …
Ihre Stimme brach, und sie fing an zu weinen. Und mit ihren Tränen begann die Mauer, die sie siebzig Jahre lang aufrechterhalten hatte, einzustürzen. Ein junges Mädchen umarmte sie. Ein junger Mann sagte ihr, sie solle ruhig weinen und er bewundere ihren Mut.
Ich ging zu einer anderen Gruppe. Ein Blinder in den Dreißigern las einen Brief, den er in Blindenschrift abgefaßt hatte:
Ich habe dich gehaßt, weil du dich meinetwegen geschämt hast. Wenn deine Freunde zu Besuch kamen, hast du mich in das Zimmer hinter der Garage gesperrt. Ich habe nie genügend zu essen bekommen. Ich hatte immer solchen Hunger. Ich wußte, daß du mich haßt, weil ich dir lästig war. Du hast mich ausgelacht, wenn ich hinfiel …
Jetzt mußte ich mich einmischen. Ich konnte spüren, wie mich der immer noch vorhandene Zorn des eigenen verletzten Kindes in mir erfaßte, und ich hätte am liebsten vor Wut und Entrüstung geschrien. Das Gefühl der Traurigkeit und Einsamkeit der Kindheit war überwältigend. Wie konnte man sich überhaupt jemals von einem solchen Kummer erholen?
Aber am Ende des Tages hatte sich die Stimmung verändert und war friedlich und fröhlich geworden. Die Leute saßen beieinander; manche hielten sich bei der Hand, und bei den abschließenden Übungen lächelten die meisten. Einer nach dem anderen dankte mir, weil ich ihm geholfen hatte, das verletzte Kind in seinem Inneren zu finden. Ein Bankdirektor, der zu Beginn des Workshops offen Widerstand geleistet hatte, sagte mir, er habe seit vierzig Jahren zum erstenmal wieder geweint. Als Kind war er von seinem Vater in grausamer Weise verprügelt worden und hatte sich geschworen, im Leben nie verletzbar zu sein oder Gefühle zu zeigen. Jetzt sagte er, er wolle lernen, sich um den einsamen Jungen in seinem Inneren zu kümmern. Sein Gesicht hatte einen weichen Ausdruck bekommen, und er sah jünger aus.
Zu Beginn des Workshops hatte ich die Teilnehmer aufgefordert, ihre Masken abzulegen und aus ihren Verstecken herauszukommen. Ich hatte ihnen erklärt, daß sie das verletzte Kind in ihrem Inneren nicht verstecken dürften, weil es sonst ihr Leben vergiften würde. Wutanfälle, unangemessene Reaktionen, Eheprobleme und Suchtkrankheiten seien die Folge. Darüber hinaus könnten sie ihren eigenen Kindern keine guten Eltern sein und würden in ihren Beziehungen Schwierigkeiten haben und bittere Erfahrungen machen müssen.
Ich muß bei ihnen einen Nerv getroffen haben, denn sie reagierten tatsächlich. Ich war begeistert und dankbar, als ich in ihre offenen, lächelnden Gesichter blickte. Dieser Workshop fand 1983 statt. Seitdem ist meine Faszination für die heilende Kraft des Kindes in uns immer größer geworden.
Drei Dinge fallen bei der Arbeit mit dem inneren Kind besonders auf: die Schnelligkeit, mit der die Leute sich verändern, wenn sie diese Arbeit tun; wie tiefgreifend diese Veränderung ist; und welche Kraft und Kreativität freigesetzt werden, wenn die Wunden der Vergangenheit geheilt sind.
Ich habe die Arbeit an dem Kind in unserem Inneren vor zwölf Jahren begonnen und bei einigen Therapiepatienten mit einer selbstausgearbeiteten Meditationstechnik gearbeitet. Aber die Meditation führte zu dramatischen Ergebnissen. Wenn die Menschen zum erstenmal Kontakt mit dem Kind in sich aufnahmen, war das Erlebnis oft überwältigend. Mitunter mußten sie schrecklich weinen. Anschließend sagten sie mir dann zum Beispiel: »Ich habe mein ganzes Leben lang darauf gewartet, daß jemand mich findet.« oder: »Es ist, als käme ich nach Hause.« oder: »Seit ich mein Kind gefunden habe, hat sich mein Leben völlig verändert.«
Diese Reaktionen veranlaßten mich dazu, einen Workshop zu entwickeln, der nur dazu dienen sollte, den Menschen dabei zu helfen, das Kind in sich zu finden und anzunehmen. Dieser Workshop hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt, was vor allem dem ständigen Dialog mit den Teilnehmern zu verdanken ist. Es ist die erfolgreichste Arbeit, die ich je geleistet habe.
Der Workshop konzentriert sich darauf, den Leuten dabei zu helfen, über negative Kindheitserlebnisse zu trauern – Erlebnisse, die mit Verlassenheit, Mißbrauch in jeder Form und mit ungestillten Bedürfnissen zusammenhängen, die auf die entwicklungsbedingte kindliche Abhängigkeit zurückzuführen sind. Außerdem spielt es eine große Rolle, daß die Kinder in familiäre Probleme verstrickt werden, die nicht ursprünglich ihre eigenen sind. (Ich werde die einzelnen Punkte später noch ausführlich behandeln.)
In einem solchen Workshop verbringen wir die meiste Zeit damit, über die Vernachlässigung unserer entwicklungsbedingten Abhängigkeitsbedürfnisse zu trauern. Das ist auch das Hauptanliegen dieses Buches. Nach meinen Erfahrungen stellt der entwicklungsorientierte Ansatz die umfassendste und wirkungsvollste Art dar, wie wir unsere seelischen Verletzungen heilen können. Ich glaube, daß die Konzentration auf die Heilung jeder einzelnen Entwicklungsstufe meine Workshops von anderen unterscheidet.
Im Verlauf eines solchen Kurses beschreibe ich die normalen Abhängigkeitsbedürfnisse des Kindes. Wenn diese Bedürfnisse nicht befriedigt werden, besteht die Gefahr, daß wir als Erwachsene ein verletztes Kind in uns tragen. Wenn die Bedürfnisse unserer Kindheit befriedigt worden wären, wären wir keine »erwachsenen Kinder« geworden.
Zuerst skizziere ich die Bedürfnisse einer bestimmten Entwicklungsstufe und teile dann die Teilnehmer in Gruppen auf. Nacheinander steht jeder von ihnen einmal im Mittelpunkt und hört den anderen zu, die ihm in verbaler Form die Bestätigung geben, die er oder sie in der frühen Kindheit, als Kleinkind, in den Vorschuljahren und so weiter gerne gehört hätte.
Je nachdem, wo der Betroffene seine persönlichen Grenzen zieht, wird er von den Teilnehmern gestreichelt und moralisch unterstützt. Die Schmerzen, die ihm in seiner Kindheit zugefügt worden sind, werden von der Gruppe ernst genommen. Wenn der Betroffene eine Bestätigung bekommt, die er[1] als Kind so dringend gebraucht hätte, aber nicht bekommen hat, fängt er in der Regel an zu weinen, manchmal leise, manchmal sehr heftig. Ein Teil des eingefrorenen Kummers beginnt aufzutauen. Am Ende des Workshops hat jeder Teilnehmer zumindest einen Teil seiner Trauerarbeit geleistet. Das Ausmaß dieser Arbeit hängt von dem Stadium des Heilungsprozesses ab, in dem sich der Betroffene befindet. Manche Leute haben schon vor dem Workshop eine Menge Trauerarbeit geleistet, manche nicht.
Am Ende des Kurses gebe ich den Teilnehmern Anweisungen für eine Meditation, bei der sie das Kind in sich annehmen können. Wenn das geschieht, erleben viele Teilnehmer einen intensiven Gefühlsausbruch. Bevor sie dann den Workshop verlassen, ermuntere ich sie noch dazu, sich jeden Tag etwas Zeit zu nehmen, um einen Dialog mit dem Kind in sich zu führen.
Wenn die Menschen erst einmal den Anspruch auf das verletzte Kind in ihrem Inneren erhoben haben und es liebevoll umsorgen, wird die schöpferische Kraft dieses wunderbaren, natürlichen Kindes erkennbar. Wenn das Kind erst...