1. Zur Freiheit geboren
Tun, was ich will
Was ist Freiheit? Ich kann sie zunächst einmal als Freiheit von Zwang verstehen. Das bedeutet, dass der Mensch nicht tun muss, was er nicht will, wozu ihn aber der Wille eines anderen mit Macht zwingen will. Solche Situationen gibt es immer wieder, in politischen Zusammenhängen, in der Wirtschaft, überall da, wo Machtverhältnisse das Zusammenleben bestimmen. Zwang ist hier verstanden als die totale Beschneidung der Freiheit, als Beschreibung einer Situation, in der jemand sein eigenes Leben nicht mehr nach eigener Vorstellung, nach eigenen Wertvorstellungen, nach eigenem Gutdünken gestalten darf.
Ich kann Freiheit aber auch von der anderen Seite her verstehen: Die Freiheit des Menschen liegt ja nicht einfach schon darin, dass er das tut, was er will. Natürlich sollte er aktiv sein und das auch realisieren, was er will. Aber unter dem Vorbehalt: Er sollte natürlich das Gute wollen. Nicht das, wonach ihm gelüstet. Der momentane Impuls, der in mir hochkommt und den ich nicht unter Kontrolle habe, ist kein Zeichen von Freiheit, sondern Unterwerfung unter einen Trieb. Also das Gegenteil von Freiheit.
Freiheit besteht in der Praxis positiv darin, sich für das Gute entscheiden zu können und ungehindert das Gute tun zu können. So hat es schon Benedikt in seiner Regel verstanden. Er hat diese Regel auch so ausgerichtet: die Mönche darin zu üben, dass sie den Verlockungen des Zeitgeists widerstehen und sich durch tägliche Praxis darin stärken. So sollten sie sich aus Abhängigkeiten befreien können und sich nach den Geboten des Schöpfers ausrichten. Die Gelübde von Beständigkeit, klösterlichem Lebenswandel und Gehorsam haben diese Grundausrichtung. Die Einbindung in eine Gemeinschaft bildet dabei eine große Stütze. Wer sich darauf einlässt, lässt sich aus freiem Willen auch darauf ein, mit jenen Antriebskräften der Zivilisation zu brechen, die zumindest ein Doppelgesicht haben können. Der Drang nach Besitz, Sexualität und Macht – das sind Antriebe, die Menschen auch leicht in Abhängigkeiten und damit in den Zustand innerer Unfreiheit bringen. Benedikt will die Mönche davor bewahren, einen falschen Weg zur Selbstverwirklichung einzuschlagen. Unserer Neigung zur Absolutsetzung des Besitzes, der Gier oder der Habsucht setzt er etwas anderes entgegen: der Arbeit den Gottesdienst, der Habsucht die Armut, der Gier die Enthaltsamkeit und der Herrschsucht die Grundregel des gegenseitigen Dienens. Und in einer von Workaholikern bevölkerten Welt kann man noch hinzufügen: der Absolutsetzung der Arbeit setzt er den Gottesdienst entgegen und den ausgewogenen Tageslauf.
Auch jenseits des Klosters ist das ein Zeichen, gerade heute: Zur wahren Freiheit und zur wahren Selbstverwirklichung kommen wir, wenn wir uns nicht auf die eigene Person konzentrieren, sondern bereit sind, Gott als den Mittelpunkt unseres Lebens anzuerkennen.
Eine Fähigkeit,
die Ihr Leben verändert
In einer süddeutschen Großstadt war kürzlich ein Plakat zu lesen, das für den Vortrag eines berühmten Neurowissenschaftlers warb. Der Mann hatte sich auch als Lebenshilfeguru einen Namen gemacht. Der paradox formulierte Titel war: „Warum tun wir oft nicht, was wir wollen?“ Das interessierte mich, und ich las weiter, was auf diesem auf einer öffentlichen Litfass-Säule plakatierten Text – mit Verweisen auf den allerneuesten Stand der modernen Hirnforschung und auf aktuelle Publikationen in weltberühmten Zeitschriften wie „Science“ zu lesen war: „Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Fähigkeit, die jeder Mensch mehr oder weniger hat und von der Ihr gesamtes Leben ganz entscheidend abhängt und die dennoch kaum jemand kennt. Langfristig beschert sie uns Glück und Erfolg, ja sogar ein langes Leben. Die Fähigkeit lässt sich trainieren wie ein Muskel, am besten schon in der Kindheit und wer sie besitzt, hat in der Schule bessere Noten und im Alter bessere Zähne, verdient mehr und behält darum auch mehr Geld auf dem Konto, wird nicht kriminell und ist selten alleinerziehend, raucht eher nicht und fliegt auch eher nicht von der Schule. Diese Eigenschaft gibt es, sie heißt Selbstkontrolle und wirkt sich auf unsere Lebensqualität und sogar auf unser Leben aus. Eintritt 10 Euro. Ermäßigt 8 Euro. 10 Gratisplätze für Alleinerziehende.“ Abgesehen davon, dass ich die Freiplätze für die vorher mit Rauchern, Kriminellen und Schulabbrechern in einen Topf geworfenen Alleinerziehenden als einen eher zynischen Werbegag empfinde: Der Mann hat recht. Auch wenn das, was er sagt, in die Kiste der banalen Einsichten nach dem Muster „Die Wissenschaft hat festgestellt …“ gehört und eine uralte Lebensweisheit ist.
Die frühen Mönche haben es so gesagt: „Alles Übermaß ist von den Dämonen.“
Und bei Matthias Claudius heißt es: „Niemand ist frei, der über sich selbst nicht Herr ist.“
Einsichten werden nicht schlechter, wenn sie alt sind.
Leitplanken, nicht Fesseln
Es gab vor vielen Jahren einmal einen populären Bestseller von Werner Keller: „Und die Bibel hat doch recht.“ Vergleicht man manche Einsicht der Hirnforschung mit der Weisheit der Bibel, kommt man nicht umhin, zu sagen, dass Werner Keller immer noch recht hat. Denn in der Bibel findet man die Einsicht vom Wert der Selbstbeherrschung ganz lapidar formuliert. Etwa in Sprüche wie 16,32: „Ein Geduldiger ist besser als ein Starker und wer sich selbst beherrscht, besser als einer, der Städte gewinnt.“
Es ist also nicht einfach, und doch eine ganz alte Weisheit: Die Kultur der Freiheit muss eingeübt und ausgeübt werden. Ich muss mir immer wieder Selbstbeschränkung auferlegen, um frei zu bleiben und nicht irgendeinem Trieb zu unterliegen. Den Trieben nicht unbeschränkt freien Lauf zu lassen, ist keine Freiheitsbeschränkung. Im Gegenteil: Es ist die Ermöglichung der Freiheit.
Das ist alles andere als leicht. Keiner ist ganz frei. Wir alle sind immer irgendwo von bestimmten Dingen abhängig. Wir alle fallen immer wieder zurück in alte Abhängigkeiten, in gewohnte Emotionen und eingeschliffene Instinkte. (Ein Begriff, der etwas neutraler klingt als Trieb, wo jeder gleich die sexualisierte Assoziation von Triebtäter hat. Dabei hat „Trieb“ ja etwas Positives, er treibt ja auch an.)
Um solche Rückfälle zu vermeiden, brauchen wir Leitplanken. Jeder muss sich selber an solchen Planken orientieren, die ihm Halt geben. Das sind Voraussetzungen unserer Freiheit, keine Behinderung. Sie sollten nicht mit Fesseln verwechselt werden, die Freiheit einschränken. Sie sind ein Halt, der Freiheit erst ermöglicht. Gemeint sind damit keineswegs nur von außen vorgegebene Bestimmungen und Regelungen. Man errichtet solche Leitplanken auch selber – durch eigene Übung, die zur festen Gewohnheit wird.
Oft geht es dabei um das rechte Maß. Maß – das Wort hat für moderne Ohren einen etwas strengen Beigeschmack, es riecht nach Einschränkung, Zurückdämmung, nach Kandarre und Zügelung. Auch Mittelmaß schwingt mit. Lauter Begriffe, so scheint es, die nicht sehr nach Freiheit duften. Aber es ist nichts anderes als gezügelte Gier.
Platon gebraucht ein schönes Bild: Er vergleicht die Triebe mit Rössern, die einen Wagen ziehen und die in ihrer Kraft gefährlich werden, wenn sie anfangen zu scheuen. Da braucht es den Wagenlenker, der mit seinen Zügeln die Pferde bändigt und den Wagen in der richtigen Bahn hält. Alles andere wäre gefährlich. Die Zügel der Vernunft, das Instrument des Maßhaltens, geben die Möglichkeit, wachsam mit Gefährdungen umzugehen.
Wenn wir in die negative Richtung geraten, ist es sehr schwer, wieder zurückzufinden. Wir müssen uns dann entwöhnen. Auch das geht nur durch Selbstbeherrschung, Kontrolle und Übung. Bei Alkoholabhängigkeit wird das besonders deutlich. Da hilft nur radikale und konsequente Abstinenz, es sei denn, es gelingt wieder die Selbstkontrolle zu erwerben. Die Meinungen gehen da auseinander. Wir sollten uns jedenfalls in die Freiheit einüben, bevor wir abhängig werden.
Wirkliche Fülle
Wir leben immer länger. Und wir haben immer weniger Zeit. Warum sind die meisten Menschen so ruhelos? Und so maßlos? Was erwarten sie von ihrem Leben? Sie wollen frei sein und das Leben in Fülle haben. Aber im Grunde denken sich viele nichts dabei, sondern lassen sich einfach treiben. Leben in Fülle – das ist es ja, was wir alle wollen. Für viele bedeutet „Fülle“ freilich in erster Linie, alle Genussmöglichkeiten auszuschöpfen, jede Nacht eine andere Party, Urlaubszeiten voller Animation und Entertainment. Auch die Übersteigerung des Genusses in Drogen hat ja Konjunktur. Wirkliche Freiheit und damit auch Fülle aber findet der Mensch, der sich selbst kennt, seine Möglichkeiten und seine Grenzen. Er kennt sein Maß und weiß, dass die absolute Fülle erst in Gott erreicht werden kann. Jesus hat gesagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh 10,10)
Glückliche Sklaven
Es gibt die Situation, dass Menschen sich in ihren Zwangssituationen einrichten und ihre Unfreiheit gar nicht mehr spüren. Sie haben ihre Lage völlig verinnerlicht und umgedeutet. Manche subalterne Hofschranzen an den modernen Höfen der Macht – in den wirtschaftlichen Machtzentren, den Zentralen der Politik, der kirchlichen Hierarchie: „Wie der Herr es wünscht!“...