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Was Sie schon immer über die deutsche Sprache wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten …
Die deutsche Sprache ist gar nicht so alt, wie man denken möchte – und gleichzeitig viel älter! Woher kommt dieser Widerspruch? Es gab schon vor langer Zeit eine Sprachform, die aus wissenschaftlicher Sicht hinreichende Ähnlichkeiten aufweist, um als Vorstufe unserer Sprache gelten zu dürfen – das Deutsche ist demnach gut 1500 Jahre alt. Wenn wir aber fragen, seit wann Deutsch so klingt, wie wir es kennen, schrumpft die Zeitspanne schnell auf einen Bruchteil davon zusammen. Unser heutiges Deutsch (das sogenannte NEUHOCHDEUTSCH) gibt es erst seit Mitte des 17. Jahrhunderts. Seither bildet es eine mehr oder weniger einheitliche Standardsprache. Das war nicht immer so. Lange Zeit gab es große dialektale Unterschiede, die sich allerdings schon zur Zeit des sogenannten FRÜHNEUHOCHDEUTSCHEN (1350 – 1650) in Drucken und Briefen etwas angeglichen hatten – sonst wäre damals eine Verständigung über größere Distanzen hinweg schwierig gewesen. Von Angesicht zu Angesicht wurde dagegen weiterhin Dialekt benutzt.
In diese Epoche fallen die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Metalllettern (ca. 1450), die »Entdeckung« Amerikas durch Christoph Kolumbus (1492), die Reformation (ab 1517) samt der Bibelübersetzung Martin Luthers (1534) und der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648), jener historische Einschnitt, mit dem eine nicht nur sprachgeschichtlich umwälzende Zeit endet.
Abb. 1: Sprachstufen des Deutschen.2*
Noch im Boot? Die erste Schleife haben wir jetzt hinter uns. Flusstechnisch gesprochen »oberhalb« des Frühneuhochdeutschen gelangen wir ins Hoch- und Spätmittelalter, eine Epoche, in der unsere Vorfahren3* MITTELHOCHDEUTSCH (1050 – 1350) sprachen – und dichteten: Under der linden / an der heide, / dâ unser zweier bette was … (›Unter der Linde auf der Heide, wo wir unser Bett hatten‹) beginnt eines der bekanntesten Gedichte aus dieser Zeit.1 Es stammt von Walther von der Vogelweide und ist Ihnen vielleicht noch aus dem Deutschunterricht vertraut. Auch das Nibelungenlied entspringt dieser Epoche. Und was war sonst los? Man begab sich auf Kreuzzüge (ab 1096) – aus heutiger Sicht recht unchristlich – und widmete sich bei Hofe dem schwärmerischen Minnesang. Politisch waren Kaiser wie Heinrich IV. an der Macht (*1050 – †1106), der in Canossa etwas mit dem Papst zu klären hatte, und Friedrich I. Barbarossa (*1122 – †1190), den man jahrhundertelang schlafend im Kyffhäuser vermutete und im 19. Jahrhundert zum Nationalmythos ausbaute.
Nicht nur politisch und gesellschaftlich war es ein spannungsreiches Zeitalter, auch in unserer Sprache hat sich Dramatisches ereignet. Die wohl folgenreichste mittelhochdeutsche Neuerung, die bis heute Wellen im Sprachsystem schlägt, war die »Nebensilbenabschwächung«. Sie wird uns im weiteren Verlauf immer wieder begegnen. Die Vokale, die zentralen, selbstlautenden Klangelemente, wurden in allen unbetonten Silben vereinheitlicht und damit vereinfacht. Mundfaul, wie man war, sprach man nun Wörter wie giboran oder apful viel relaxter aus: geboren und apfel. Das war keinem kaiserlichen Erlass geschuldet, sondern eine kaum merkliche Entwicklung, die ganz unbeachtet vor sich ging und den Sprecherinnen selbst wohl überhaupt nicht bewusst war.
Damit haben wir eine weitere Schleife hinter uns: Ein kurzer Blick auf die Karte verrät, dass wir uns mittlerweile im ALTHOCHDEUTSCHEN (500 – 1050) befinden. Wir haben die älteste deutsche Sprachperiode erreicht, in die unter anderem die Regierungszeit Karls des Großen (800 – 814 als Kaiser) fällt. Aus dieser Ära, dem Frühmittelalter, sind nur wenige schriftliche Quellen überliefert. Damals war Latein die vorherrschende Schriftsprache. Zuerst zaghaft, dann immer mutiger begann man, auch deutsche Dialekte aufzuschreiben. Hierzu griff man, da es keine ernstzunehmende Alternative gab, auf das lateinische Alphabet zurück. Besonders gut eignete es sich allerdings nicht: Auf der einen Seite besaß es Buchstaben, die man im Deutschen gar nicht brauchte (zum Beispiel <q> und <x>), andererseits fehlte für viele Laute ein entsprechendes Zeichen. Man behalf sich, indem man bestehende lateinische Buchstaben kombinierte, wie in <ch> oder <ph> (für pf). Oder man wandelte die Buchstaben nach und nach ab, wodurch Jahrhunderte später aus <a> und <e> das <ä> entstand. Eine Ahnung davon, mit welchen Schwierigkeiten die Schreiberinnen zu kämpfen hatten, als sie die ersten deutschen Texte niederzuschreiben versuchten, bekommen Sie, wenn Sie einmal selbst probieren, einen deutschen Dialekt aufzuschreiben – wie Ernst Jandl das in seinen »stanzen« getan hat:
zu nutz und frommen
jo brauch ma dn de germanistn?
jo de brauch ma, du suamm.
waun de ned umgromm und umgromm und umgromm duan
daun is füü, wos ma gschriamm hom, fiar olle zeit gschduamm2
Vom heutigen Bairisch-Österreichischen zurück in die althochdeutsche Zeit: Bei der schriftlichen Übermacht des Lateinischen nimmt es wenig wunder, dass das erste erhaltene deutschsprachige Buch – es entsteht Mitte des 8. Jahrhunderts – ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch ist. Es heißt »Abrogans«, zu deutsch ›demütig‹, nach dem ersten darin aufgeführten lateinischen Wort. Das stammt aus dem Wortschatz des damals aufkommenden Christentums und wird als dheomodi ins Althochdeutsche übersetzt.3 Aus diesem Bereich erhielten noch viele weitere Wörter neue Entsprechungen. So sah man zum Beispiel, dass r?gnum cael?rum wörtlich ›Reich der Himmel‹ bedeutete, und ahmte das im Deutschen als himilr?hhi, also Himmelreich nach. Das schon vorhandene germanische Totenreich hella deutete man kurzerhand zur christlichen ›Hölle‹ um.
Wir besitzen aus dieser Zeit viele kurze Texte, etwa die berühmten Merseburger Zaubersprüche, deren zweiter zur Pferdeheilung diente. Er beginnt:
Phôl ende Uodan uorun zi holza
du uuart demo Balderes uolon sîn uoz birenkit4
›Phol und Wotan ritten in den Wald, da verrenkte sich Balders Fohlen den Fuß‹
Pergament war kostbar, und so finden sich diese heidnischen Sprüche auf einer frei gebliebenen Seite einer geistlichen Sammelhandschrift. Ganz ähnlich erging es dem Hildebrandslied, einem Fragment des ältesten erhaltenen deutschen (und germanischen) Heldenlieds. Seine Verse wurden nachträglich auf der ersten und der letzten Seite einer christlichen Handschrift verewigt. Über 68 stabreimende Verse hinweg stehen sich Vater und Sohn in kriegerischer Auseinandersetzung gegenüber. Es kommt zwischen den beiden zum Duell, dann bricht der Text – wohl aus Platzgründen – am Ende der letzten Seite unvermittelt ab: ein Cliffhanger.
Doch das Althochdeutsche ist nicht deshalb die älteste Form des Deutschen, weil wir hier erstmals Schriftzeugnisse besitzen. Es hat sich vielmehr aus den westgermanischen Dialekten herausgelöst, weil es im Gegensatz zu seinen Schwestersprachen eine alles entscheidende sprachliche Veränderung mitgemacht hat: die sogenannte »Zweite (oder hochdeutsche) Lautverschiebung«. Die Bezeichnung mag recht akademisch klingen, dahinter stecken jedoch lautliche Veränderungen, die uns bis heute alltäglich begegnen: So fährt im Deutschen ein Schiff den Sprachfluss hinauf, im Englischen hingegen »noch« ein ship – denn das germanische p, in der Schwestersprache Englisch weiterhin erhalten, hat sich zu althochdeutsch f »verschoben«. Vergleichen Sie einmal englische und deutsche Wörter, die einander verdächtig ähneln. Sie werden darunter rasch einige finden, die im Deutschen schon die neuen, im Englischen noch die alten Laute zeigen:
Pfanne | Schiff | Herz | Straße | machen | Tür |
pan | ship | heart | street | make | door |
Warum ist diese zweite Lautverschiebung für die Etymologie so wichtig? Weil wir so herausfinden, welche Wörter verwandt sind und welche nicht: Da die zweite Lautverschiebung die westgermanischen Wörter »entstellt« und verfremdet hat, müssen wir sie nun auf unserem Weg zu ihren sprachlichen Quellen gleichsam rückgängig machen.
Rudern wir in der Sprachgeschichte noch weiter zurück, haben wir mit niedrigem Wasserstand zu kämpfen: Schriftzeugnisse gibt es so gut wie keine mehr, abgesehen von einzelnen Wörtern und einigen kurzen Runeninschriften. Das »Goldhorn von Gallehus«, grob 400 nach Christus, trägt zum Beispiel die nur wenig informative Runeninschrift Ek HlewagastiR holtijaR horna tawido. Übersetzt bedeutet das ›ich, Lebgast, Sohn des Holt, machte...