1. Warum so schüchtern?
Der Begriff Schüchternheit lässt sich wissenschaftlich schwer eingrenzen, obgleich – oder gerade weil – es für diesen Begriff unzählige Definitionen gibt. Am einfachsten und vielleicht auch am einleuchtendsten ist wahrscheinlich die Definition des amerikanischen Sozialpsychologen Philip G. Zimbardo, die besagt, dass derjenige schüchtern sei, der sich selbst für schüchtern halte.1
Als Synonyme für Schüchternheit gelten die Begriffe Scheu, Ängstlichkeit, Befangenheit, Selbstunsicherheit, Verschämtheit. Häufig wird Schüchternheit auch mit Introvertiertheit gleichgesetzt, obwohl zwischen beiden Eigenschaften ein Unterschied besteht. Während extrovertierte Menschen kontaktfreudig und kommunikativ sind und in Gesellschaft anderer aufleben, ziehen sich Introvertierte lieber zurück und schöpfen ihre Kraft aus sich selbst. Dabei gibt es sehr wohl introvertierte Menschen, die keineswegs schüchtern sind und in Gesellschaft anderer Menschen nicht die geringste Befangenheit spüren. Umgekehrt gibt es schüchterne Extrovertierte, die zwar viele Sozialkontakte pflegen, sich dabei jedoch unwohl, angespannt und ängstlich fühlen.
Angeboren oder anerzogen?
Schüchterne Menschen meiden nicht unbedingt die Gesellschaft, wohl aber die Aufmerksamkeit anderer, weil sie in solchen Situationen unangenehme Symptome spüren: Sie bekommen Herzklopfen, feuchte Hände, einen Kloß im Hals und – was sie meist als besonders quälend empfinden – sie erröten schnell. Doch je mehr sie versuchen, ihre Unsicherheit zu verbergen, desto stärker werden die Symptome.
Mit der Frage, ob Schüchternheit ererbt oder anerzogen ist, hat sich die Wissenschaft immer wieder beschäftigt, wobei die meisten Wissenschaftler heute darin übereinstimmen, dass Schüchternheit (genau wie jedes andere Verhalten des Menschen) sowohl durch die Gene als auch durch das soziale Umfeld beeinflusst wird.
Die Ängste schüchterner Menschen
Der Autor und Psychologe Rolf Merkle bezeichnet Schüchternheit als Begleiterscheinung zweier Ängste, »die wie eine Epidemie unter den Menschen auf fast der ganzen Welt wüten: der Angst vor Ablehnung und der Angst vor Versagen«2.
- Die Angst vor Ablehnung erklärt Merkle hauptsächlich durch Kindheitserfahrungen. Kinder brauchen die Gewissheit, von ihren Eltern bedingungslos geliebt zu werden. Wenn einem Kind diese Sicherheit verloren geht, weil es sich bei jedem Fehlverhalten zurückgewiesen fühlt (»Ich mag dich nicht, wenn du so unartig bist!«), kann das große Ängste schüren. Solche Ängste können bis ins Erwachsenenalter anhalten. Das Kind von damals steckt dann noch immer in der Zwangsjacke des Artig-sein-Müssens. Die Folge: Der Betroffene hat Hemmungen, sich durchzusetzen und seine Wünsche und Bedürfnisse zu äußern.
- Auch die Angst vor Versagen kann auf Kindheitserfahrungen beruhen und hat ebenfalls fatale Folgen: Die Betroffenen unterziehen sich bei allem, was sie tun, schon vorab einer selbstquälerischen Zensur. Sie sind ständig damit beschäftigt, ihr Verhalten zu korrigieren, was sie jedoch nicht von der Überzeugung abbringt, auf eine Blamage zuzusteuern. So nehmen sie sich und ihre Umwelt kaum wahr, weil sie ganz von ihren negativen Erwartungen eingenommen sind.
Der Einfluss des sozialen Umfelds
Schüchternheit kann in der Kindheit durch verschiedene Einflüsse vonseiten der Eltern, Erzieher, Geschwister und des gesamten sozialen Umfelds entstehen und insofern »anerzogen« sein. Eine bedeutende Ursache wurde dabei schon genannt: Zurückweisung und die damit verbundene Angst des Kindes, von seinen Eltern nicht mehr geliebt zu werden. Doch es gibt noch mehr Faktoren, die eine Rolle spielen.
- Nicht von ungefähr taucht das Wort »schüchtern« im Begriff »einschüchtern« auf, womit bestimmte Vorgehensweisen gemeint sind, die den Widerstand des Kindes brechen sollen. Das kann beispielsweise geschehen, wenn Eltern oder andere Erwachsene das Kind häufig zurechtweisen, ihm drohen, es anschreien oder gar schlagen. Solche »Erziehungsmaßnahmen« zerstören das Grundgefühl von Geborgenheit und Annahme und verhindern, dass das Kind ein gesundes Selbstvertrauen entwickelt.
- Eine bedeutende Rolle spielt außerdem die Scham. Wenn ein Kind häufig erlebt, dass es von seinen Eltern oder anderen Erwachsenen beschämt wird, kann sich das verheerend auf sein Selbstwertgefühl auswirken. Manche Kinder ziehen sich nach solchen Erlebnissen zurück und sondern sich auch von Gleichaltrigen ab. Dieses Verhalten kann wiederum dazu führen, dass sie von den anderen Kindern ausgegrenzt werden.
- Auch Gleichaltrige können das Selbstwertgefühl eines Kindes oder Jugendlichen demontieren, wenn sie mit Spötteleien unbarmherzig auf offensichtlichen Schwächen herumreiten: »Alles zur Seite treten, unser Fettsack braucht Platz!« – »Sag mal, sto-to-to-to-totterst du schon wieder?« – Solche Hänseleien, die das Selbstwertgefühl erheblich verletzen, wirken manchmal bis ins Erwachsenenalter nach.
- Ein weiterer bedeutender Faktor ist Entmutigung. Sätze wie »Das kannst du nicht!« oder »Aus dir wird nie etwas!« untergraben das Selbstvertrauen des Kindes. Weil ihm die anderen nichts zutrauen, traut es sich selbst nichts zu.
- Besonders schlimm ist es für ein Kind, wenn es von seinen Eltern oder anderen wichtigen Beziehungspersonen zu wenig beachtet wird und dadurch den Eindruck bekommt: Ich bin es nicht wert, dass man mir Aufmerksamkeit schenkt.
- Ebenso fatal wirkt es sich auf das Selbstwertgefühl eines Kindes aus, wenn die Eltern es spüren lassen, dass es für sie eine Last ist. Infolgedessen fühlt es sich oft auch von anderen abgewertet.
- Nicht zuletzt können elterliche Ängste eine Rolle spielen. Kinder haben meist ein feines Gespür dafür, wenn die Eltern überbesorgt sind und es vor allem beschützen wollen. Häufig übernehmen sie dann die Ängste der Eltern, sodass sie nur ein geringes Zutrauen in sich selbst entwickeln.
Alarmstufe im Mandelkern
Um den erblichen Ursachen für Schüchternheit auf die Spur zu kommen, führten Psychologen der Harvard-Universität in Boston unter der Leitung des Psychiaters Carl Schwartz vor geraumer Zeit eine Untersuchung mit 22 jungen Erwachsenen durch, deren Ergebnisse 2003 vorgelegt wurden.3
Die Probanden dieser Studie waren bereits 20 Jahre zuvor als Kleinkinder untersucht worden. Damals wollte man herausfinden, ob die Kinder auf unbekannte Dinge (wie etwa einen sprechenden Spielzeugroboter) eher scheu oder forsch reagierten. Als Erwachsene wurden die Probanden nun gebeten, sich Bilder von teils bekannten, teils unbekannten Gesichtern anzusehen, während ein Kernspintomograph ihr Gehirn durchleuchtete.
Im Ergebnis zeigte die Kernspintomographie bei den Probanden keinerlei Unterschiede der Hirnaktivität – ausgenommen in einem Bereich: dem Mandelkern. Dieses Hirnareal, in der Fachsprache Amygdala genannt, wird auch als »Angstzentrum im Kopf« bezeichnet, weil es in Angstsituationen alarmiert wird. Bei den Probanden, die bereits als Kleinkinder als scheu und zurückhaltend eingestuft wurden, war im Test der Mandelkern beim Anblick der unbekannten Gesichter deutlich mehr erregt als bei den anderen Probanden. Schüchternheit, so das Fazit der Studie, sei demnach zumindest teilweise angeboren.
Inzwischen ist das Ergebnis der Harvard-Studie durch zahlreiche andere Forschungsergebnisse bestätigt worden. Heute besteht so gut wie kein Zweifel mehr daran, dass Schüchternheit zumindest zum Teil genetisch bedingt ist. Dabei wird der Einfluss der Vererbung je nach Studie sehr unterschiedlich eingeschätzt, die Angaben schwanken zwischen 24 und 51 Prozent.4
In bester Gesellschaft
Es mag überraschen, doch tatsächlich befinden sich schüchterne Menschen zahlenmäßig in bester Gesellschaft. So schätzte der Sozialpsychologe Bernardo Carducci die Zahl der Schüchternen in Deutschland im Jahr 2005 auf nahezu 50 Prozent.5 Und der Angstforscher Borwin Bandelow wies in einem Interview darauf hin, dass bei einer Umfrage in Kanada sogar 61 Prozent der Befragten über sich selbst sagten, sie seinen »mindestens ein bisschen schüchtern«6.
Der Kabarettist und Autor Eckart von Hirschhausen erzählte in diesem Zusammenhang einmal, dass er in seinem Bühnenprogramm manchmal alle Schüchternen bitte, sich hinzustellen und laut zu sagen: »Ich bin schüchtern!« Da das höchst selten funktioniere, bitte er dann alle Schüchternen, einfach im Dunkeln zu summen. Der Effekt: »Und plötzlich merkt der ganze Saal, wie viele das sind! Dabei haben sich die richtig Schüchternen nicht einmal getraut mitzusummen.«7
Ist Schüchternheit eine Krankheit?
»Schüchternheit ist ein Fehler, den man nicht tadeln darf, wenn man ihn heilen will.« Diese Ansicht des französischen Schriftstellers François de La Rochefoucauld (1613–1680) klingt, als habe man es bei der Schüchternheit tatsächlich mit einer Krankheit bzw. einer Störung zu tun. Die moderne Psychologie scheint sich dieser Einschätzung zum Teil anzuschließen. Da der Reaktionsmechanismus bei Schüchternheit und bei Angst der gleiche ist (nämlich die erwähnte Übererregbarkeit der Amygdala), wird Schüchternheit heute oft in einem Atemzug mit sozialer Phobie genannt, wobei die Grenze zwischen beiden als fließend angesehen wird. Dass es zwischen beiden Erscheinungsformen einen Unterschied gibt,...