Anstelle eines Vorworts: Krankengeschichte eines ehemals chronischen Patienten
Erstmals traf es mich völlig unerwartet als ca. 15-jährigen Schüler auf einer Klassenfahrt. Ich war über Nacht so steif geworden, dass ich mir selbst nicht mehr die Schuhe zubinden konnte. Der Hausarzt gab mir nach der Rückkehr eine Spritze und verschrieb ein Schmerzmittel. Und nach wenigen Wochen war es wieder genauso: Hexenschuss nannte man das; ich kannte das von meinem Vater, der mit dem gleichen Problem zu kämpfen hatte.
Nachdem ich im Alter von 17 Jahren einen schweren Verkehrsunfall hatte (ein betrunkener Autofahrer hatte mich als Radfahrer gerammt und auf die Straße geschleudert), wurden mir gegen die Beschwerden in großem Umfang Massagen und Krankengymnastik verschrieben, was zu einer zeitweisen Linderung führte. Aber immer wieder kam es in der Folgezeit zu akuten Schmerzen.
Vier Wochen vor dem 2. Staatsexamen erwischte es mich besonders heftig: Ich konnte mich nach dem Geschirrspülen nicht mehr aufrichten und schleppte mich in dieser Zwangshaltung zu einem Orthopäden. Nach der üblichen Schmerzspritze und einer Verordnung von Schmerzmitteln lautete der Rat Ruhehalten, Stufenlage im Bett und ich wurde arbeitsunfähig geschrieben. Um die Prüfung nicht zu versäumen, machte ich dennoch und unter großen Schmerzen mit der Vorbereitung weiter, war zwei Tage vor dem Termin (arbeitsunfähig geschrieben) wieder vor der Klasse und habe das Examen dennoch bestanden. Schon vom nächsten Tag an war ich als Lehrer z. A. mit voller Stundenzahl im Dienst, nach wie vor aber unter extremen Schmerzen.
Immer wieder wurde es in den Folgejahren erforderlich, mich ärztlich behandeln zu lassen. Je nach Arzt (wegen mehrfacher Wohnortswechsel war ich bei verschiedenen Orthopäden) wurde gespritzt, Schmerzmittel oder Massagen mit bzw. ohne Wärmebehandlung verschrieben. Oft kam ich morgens vor Schmerzen kaum aus dem Bett und dann nur so krumm, dass der erste Weg als Akutpatient zum Orthopäden führte: Einmal einrenken und eine halbe Stunde später stand ich wieder vor der Klasse.
1989/90 nahm ich neben dem vollen Lehrerberuf das Studium für ein weiteres Lehramt auf und bestand nach nur einem Semester mit Bravour das Staatsexamen. Damit bewarb ich mich auf eine Schulleiterstelle. Schon die erste Bewerbung brachte den gewünschten Erfolg. Ich kam 1991 als Rektor an eine Schule, die jahrelang kommissarisch geleitet worden war, weil sich auf mehrere Ausschreibungen niemand beworben hatte. Erst im Laufe der Jahre wurde mir klar, worauf ich mich eingelassen hatte. In der neuen Schule galt ich als der von außen kommende „Fremdkörper“, der ich bis zu meiner vorzeitigen, krankheitsbedingten Pensionierung 1999 geblieben bin.
Nach einer jahrelangen Zeit der relativen Ruhe nahmen die Schmerzattacken wieder an Häufigkeit und Intensität zu, der morgendliche Gang zum „Einrenken“ beim Orthopäden wurde immer häufiger (mehrere Male im Jahr).
In die Sommerferien 1998 fuhr ich mit dem mulmigen Gefühl, dass gleich im Anschluss an diese Ferien gravierende Auseinandersetzungen mit dem Kollegium und den Schulgremien folgen würden. Am 25.7.1998 „zog ich (unbewusst) die Notbremse“: Beim Versuch, an der französischen Atlantikküste das Fahrrad auf das Wohnmobil zu heben, durchschoss mich ein so starker Schmerz, als habe mir jemand ein Messer ins Kreuz gerammt. Es ging gar nichts mehr, bei unerträglichen Schmerzen. In der Klinik wurde eine Röntgenaufnahme angefertigt: es gab keinen pathologischen Befund. Mir wurden sehr starke Schmerzmittel verschrieben, ich konnte mich dennoch fast nicht mehr bewegen. Eine Besserung zeigte sich nicht, so dass mich meine Frau nach Hause fahren musste, zwei ganze Tage lang, an denen ich vor Schmerzen kaum zu atmen wagte.
Der Orthopäde an meinem Wohnort vermutete einen Bandscheibenvorfall, was im MRT (Magnetresonanztomographie) als Vorfall L4/5 gesichert wurde. Es folgte die konservative Behandlung mit Ruhe, Fango, Massagen und sehr starken Schmerzmitteln. Der Erfolg war nur sehr mäßig, so dass ich nach einigen Wochen eine ambulante Reha-Maßnahme bekam. Während dieser Behandlung ging ich nach wenigen Wochen mit einem völlig tauben rechten Arm erneut zur MRT: Drei Bandscheibenvorfälle in der Wirbelsäule C5/6, 6/7 und C7/Th1 wurden festgestellt. Nach knapp drei Monaten kam ein weiterer Vorfall L5/S1 dazu. Unendliche Schmerzen waren der Beginn einer Odyssee von Arzt zu Arzt: von den Orthopäden zum Neurologen, von dort zur Neurochirurgie, schlussendlich zum Amtsarzt. Alle waren (wie ich dann später erfuhr glücklicherweise) der einhelligen Meinung, dass eine Operation nicht zur Diskussion stünde, da bei mir keine Lähmungserscheinungen zu beobachten waren. Trotz aller Spritzen, Infusionen, Akupunktur, Schmerzmittel, Massagen usw. blieben die erbärmlichen Schmerzen.
Einer der Orthopäden fragte mich, während er eine Infusion anlegte, ob ich mal an Psychotherapie gedacht hätte. Als ich das verneinte meinte er, 85% der Menschen mit solchen starken und so lange wie bei mir andauernden Schmerzen hätten „einen an der Klatsche“. Mir war sofort klar, dass ich zu den anderen 15% gehöre – das Thema war für mich durch. Heute weiß ich, dass mich diese flapsige Bemerkung zwei Jahre meines Lebens gekostet hat.
Etwa ein Jahr nach dem ersten Vorfall wurde ich an ein „Schmerzzentrum“ überwiesen. Nach knapp vier Wochen Wartezeit bekam ich dort den ersten Termin, und konnte mich nach einer Periduralanästhesie (PDA) während der Krankengymnastik erstmals seit langer Zeit wieder richtig ausstrecken – was für ein Gefühl! Ich war mittlerweile so weit, dass ich nur noch diese grässlichen Schmerzen los sein wollte. Dass ich seit mehreren Monaten nur noch an zwei Unterarmgehhilfen und auch so nur ganz stark vornüber gebeugt laufen konnte, störte mich schon gar nicht mehr. Nach einem knappen halben Jahr konnte ich meinen Ärzten und Therapeuten wieder richtig in die Augen sehen. Wenige Monate darauf aber war ich erneut dort und es begann eine weitere langdauernde Serie von Behandlungen (PDA oder Gelenkpunktionen, Infusionen, Krankengymnastik, Akupunktur). Noch immer benötigte ich dauerhaft die Gehhilfen. Meine vorgesetzte Behörde hatte in der Zwischenzeit meine Pensionierung betrieben, die nach mehreren amtsärztlichen Untersuchungen befürwortet wurde.
Bei einem Akuttermin im Schmerzzentrum kam vorsichtig die Sprache auf Psychotherapie. Meine Grundhaltung war nach wie vor abweisend, dennoch habe ich einen Termin für das Erstgespräch vereinbart. Ich war mir auch danach nicht sicher, ob ich das wirklich wollte. Vermutlich hatte ich bereits die Gewissheit, dass ich über mich Dinge erfahren würde, die mir im Unterbewussten wohl klar waren, die ich dennoch gerne unausgesprochen lassen wollte. Aber ich ging hin und je mehr ich über mich erfuhr, umso besser ging es mir. Auch in dieser Zeit kam es immer wieder zu Rückschlägen, die mich zwangen, die Krücken aus der Ecke zu holen, in der sie stets griffbereit standen.
In der Psychotherapie habe ich gelernt, dass Psyche und Körper in ständiger Wechselwirkung zueinander stehen und in einer „Schmerzkarriere“ von jetzt nahezu 40(!) Jahren war immer nur der Körper mit seinen Beschwerden behandelt worden! Heute weiß ich, was ich mir seit meiner frühesten Jugend immer wieder angetan habe: Ärger nicht äußern, ihn herunterschlucken, bloß nicht auffallen, versuchen es allen recht zu machen, aber dabei das Wichtigste zu übersehen – meine Bedürfnisse. Pflichterfüllung steht über allem, hieß es bei uns zu Hause immer. Damit hatte ich mir regelrecht „das Kreuz verbogen“.
Dass ich mich von aller sportlichen Betätigung, die durch gestärkte Muskulatur meinen Rücken hätte halten können, schon seit der frühen Kindheit ferngehalten habe, verdanke ich dem Leiter der Schule während meiner Volksschulzeit. 1957, ich war in der 2. Klasse, waren die Bundesjugendspiele noch für alle Schüler Pflicht. Als zaghaftes Kind wagte ich z. B. nicht den beherzten Sprung in die Sandkiste. Ich schloss alle Übungen (Laufen, Werfen, Weitsprung) zusammen mit genau 6 Punkten ab. Auf dem Schulhof wurden die Schülerinnen und Schüler aller Klassen 1 bis 8 zusammen geholt und die Sportlichsten erhielten ihre Sieger- oder gar Ehrenurkunden. Dann wurde ich vom Rektor in den Kreis gerufen und als er meine Punktzahl laut verkündete, fand das Gelächter der Mitschüler fast kein Ende mehr. Dass Sport für mich zeitlebens kein Thema mehr war, wer möchte mir das verdenken.
Nach knapp zwei Jahren Psychotherapie (insgesamt ca. 75 Sitzungen à 50 Minuten) habe ich von heute auf morgen alle Schmerzmittel abgesetzt (zeitweise hatte ich 300 mg Valoron am Tag genommen, 150 mg war das Minimum), ein bis zwei Mal in der Woche gehe ich in eine Wiesbadener Therme, Krankengymnastik/Massagen zahlt meine Krankenversicherung nicht mehr, das mache ich nun auf eigene Kosten. Die Schmerzen bin ich nahezu los, mit dem verbliebenen Rest habe ich umzugehen gelernt. Für mich ging es aufwärts, als ich als Einheit gesehen und nicht mehr nur ein Teilbereich behandelt wurde, sondern der gesamte Mensch: Schmerztherapie, Psychotherapie und Entspannung. Hätte mich nicht die Bemerkung des erwähnten Arztes so abgeschreckt und ich hätte viel früher die Psyche mit einbezogen, mir wäre jahrelanger Schmerz erspart geblieben!
Seit 1973 bin ich ehrenamtlich in einem Verein tätig auf kommunaler Ebene, seit 1982 zusätzlich auf Landes- und seit 1994 auch auf Bundesebene. Das habe ich beibehalten, bis auf die...