KAPITEL EINS
Einführung ins Mantra
IN MEINER COLLEGEZEIT IN INDIEN gehörte ich zum Debattierteam, und Debattieren machte mir großen Spaß. Ich bereitete mich gern vorzeitig vor, um beide Seiten der von den Debattierlehrern vorgeschlagenen Streitfragen darlegen zu können. Und wenn ich es dann mit einem wortgewandten und gut vorbereiteten Gegner zu tun hatte, genoss ich die Intensität des Streitgesprächs an sich. Für mich hatte dies alles das Dramatische eines Sportereignisses, mit seinen Möglichkeiten zur Beherrschung einer unter Druck mit Grazie dargebotenen schwierigen Kunstfertigkeit. Was ich jedoch gar nicht mochte, war das Gefühl heftigen Lampenfiebers, das mich meist eine Stunde vor dem angesetzten Beginn des jeweiligen Streitgesprächs befiel. In dieser Stunde litt ich unter all den wohlbekannten Symptomen dieses häufig vorkommenden Übels: schweißigen Handflächen, unregelmäßiger Atmung, starkem Herzklopfen und – was am schlimmsten war – der mir unentwegt durch den Kopf gehenden Frage: Wieso bin ich denn überhaupt in den Debattierklub eingetreten? – Und danach der schmerzerfüllten Antwort: Ich wünschte, ich hätte es nie getan! Ich kann das nicht durchhalten; ich kann das unmöglich durchziehen.
Ich war ein junger Hindubursche aus einem Dörfchen des Staates Kerala in Südindien, und es war mein erstes Jahr auf einem katholischen College, an dem Englisch die Unterrichtssprache war. Alles Debattieren erfolgte natürlich in Englisch. Ich hatte an meiner Highschool Englisch gelernt, aber es war nicht meine Muttersprache, und genau genommen war keiner meiner Highschool-Lehrer ein Muttersprachler in Englisch. Selbstverständlich fühlte ich mich unsicher hinsichtlich meiner Fähigkeiten, auf dem Debattierpodium mit Jungen Englisch zu sprechen, die Englisch zwar gleichfalls als Zweitsprache gebrauchten, aber in der Stadt aufgewachsen waren, wo sie Englisch sprechende Briten hören konnten. Außerdem kamen viele von ihnen aus Schulen, wo Englisch von jeher die Unterrichtssprache gewesen war.
Etwas subtiler betrachtet aber war ich ein Hindu und gehörte somit zur Minderheit unter der großen Mehrheit der Katholiken. Es war nicht so, dass ich mich ihnen gegenüber benachteiligt gefühlt hätte. Der Leiter des katholischen Colleges sorgte mit aller nur erdenklichen Mühe dafür, dass ich jede mir offenstehende Chance bekam. Aber in jenen Tagen der britischen Herrschaft in Indien nahm man einfach an, dass die westliche Kultur überlegen sei – dass man von einem Christen, selbst wenn er Inder war, natürlicherweise erwarten könne, seinem hinduistischen Bruder etwas vorauszuhaben.
Da stand ich also, begann gerade meine Collegelaufbahn, mit einer Vorliebe fürs Reden in der Öffentlichkeit und speziell fürs Debattieren, aber drauf und dran, dies alles aufzugeben, weil ich diese Schreckensstunde vor dem Hinauf steigen aufs Podium nicht aushalten konnte. Natürlich war es unvernünftig, aber die Stunde kam mir wie ein Hindernis vor, das ich einfach nicht überwinden konnte.
Deshalb ging ich zu meiner Großmutter, meiner spirituellen Lehrerin, und fragte sie, was ich gegen die Angst tun sollte, die mich jedes Mal packte, wenn ich mich hinstellen und vor einem Publikum reden musste. Sie sagte mir, ich solle mich mit der Angst erst gar nicht beschäftigen, sondern einfach nur ständig im Geiste die Worte Rama, Rama, Rama wiederholen. Ich wusste, dass dies ein Mantra war, das meine Oma verwendete. Früher, in meinen Kinderjahren, erwachte ich allmorgendlich in unserem geräumigen Stammhaus beim lieblichen Klang ihres Mantra-Singens, während sie den Innenhof mit ihrem Kokosnussfaserbesen fegte. Damals dachte ich über das Mantra nicht weiter nach; es war einfach etwas, das ich allmorgendlich aus dem Munde von jemandem hörte, den ich innigst liebte.
Ich wusste also, dass Rama als Gebet oder Mantra verwendet wurde, aber ich war kein besonders frommer junger Mann, und meine unausgesprochene Reaktion auf den Rat meiner Oma lautete: »Das ist zu einfach, zu simpel, zu esoterisch.« Ich war skeptisch, liebte aber meine Großmutter so sehr, dass ich es trotzdem ausprobierte. »Ich hoffe, es wirkt«, sagte ich mir, und als ich das nächste Mal auf dem Podium saß und darauf wartete, dass ich mit dem Reden drankam, wiederholte ich im Geiste ständig das Mantra. Und es schien zu helfen.
Daraufhin wiederholte ich jedes Mal, wenn ich zum Debattieren aufgerufen wurde, zuvor still das Mantra, und nach einer Weile sagte ich: »Ich glaube, es wirkt.« Ich bekam zwar noch immer ein leicht flaues Gefühl im Magen, aber litt nicht mehr unter dem starken Herzklopfen und unregelmäßiger Atmung.
Dann begann ich es bei jedem Anlass zu verwenden, den ich stressig fand. Heute, nach vielen Jahren persönlicher Verwendung des Mantras, kann ich aufgrund meiner eigenen Erfahrung behaupten: »Ich weiß, dass es wirkt.«
Dank der Weisheit meiner Großmutter hatte ich während meiner ganzen Collegelaufbahn Spaß am Debattieren, was dann an jenem Tag zu einem krönenden Abschluss gelangte, als unser Team die zwischen den Colleges ausgetragene Debattiermeisterschaft gewann. Später im Leben habe ich – gleichfalls infolge ihres segensreichen Rats – ausgesprochen gern zwei mit dem Reden in der Öffentlichkeit verbundene Berufe ausgeübt: den eines Universitätsprofessors für Anglistik und den eines Meditationslehrers. Und in beiden Karrieren wurde ich nie von Lampenfieber gelähmt, ganz allein deswegen, weil ich ihren schlichten Rat befolgte, einfach nur »Rama, Rama, Rama« zu wiederholen.
Die Kraft des Mantras
Vor vielen Jahren, nachdem ich mit dem Meditieren begonnen hatte, fing ich an, jeden Moment hoch zu schätzen, in dem ich das Mantra wiederholen konnte – nicht nur wegen Lampenfieber. Ich unternahm diese spirituellen Übungen nicht aus Frustration: Denn nach indischen Maßstäben war ich erfolgreich und hatte alles, was im praktischen Leben als erstrebenswert galt. Aber just in dieser Zeit der Erfüllung befriedigten mich diese Dinge nicht mehr. Der Boden verschob sich unter meinen Füßen, und ich wandte mich nach innen. Eben damals begann ich, das Mantra ernsthaft zu wiederholen und verwendete es überall, tagsüber wie nachts. Zwei Minuten hier, unterwegs zum Unterricht, zwei dort, beim Warten in der Bank, zwei Minuten da, beim Warten auf den Bus, fünf Minuten dort, beim Warten in einem Restaurant – ich glaube nicht, dass ich da viele Gelegenheiten ungenutzt verstreichen ließ.
Dies alles fiel mir nicht natürlich zu. In meiner Jugendzeit gehörte Frömmigkeit nicht zu meinen hervorstechenden Eigenschaften. Ich stammte zwar aus einer tief religiösen Familie, aber ich interessierte mich mehr für die moderne Welt und kam schon sehr früh im Leben unter den Einfluss der westlichen Kultur. Doch ich hatte das riesengroße Glück, dass ich mich, als ich mit den Stürmen des Lebens konfrontiert zu werden begann, an die unerschütterliche Stärke meiner Großmutter erinnerte. Deshalb konnte ich mich in schwierigen Situationen selbst auf ihr Mantra stützen. Seitdem brachte und bringt jeder Tag eine tiefere Bewusstwerdung und Realisierung der Kraft des Mantras, Furcht in Furchtlosigkeit, Zorn in Mitgefühl und Hass in Liebe zu verwandeln.
Nach vielen, vielen Jahren kommt ein Tag, an dem Sie vom Aufruhr des Geistes erlöst werden und das Mantra immerfort bei Ihnen ist. Dann kann keine Unsicherheit mehr in Ihr Herz, in Ihr Innerstes gelangen. Kein Übelwollen wird in Ihren Geist, Ihren Sinn gelangen. Sie können sich in jederlei Situation hineinbegeben, aber Sie werden nicht aus der Fassung geraten. Sie werden nicht überfordert oder überlastet sein. Sie werden Ihr Allerbestes geben können, und Sie werden in allerbester Form sein, unter welchen Umständen auch immer.
Das war mein Ziel: das Mantra so lange und so oft zu wiederholen, dass es sich schließlich integral in meinem Bewusstsein verankern würde. Heute muss ich mir keine Mühe geben, wenn ich das Mantra wiederhole. Es setzt sich von selbst ständig fort. Die Vorteile sind gewaltig, und ich werde Ihnen an späterer Stelle in diesem Buch darüber berichten.
Die Kraft der Tradition
Alle großen Religionen haben kraftvolle spirituelle Formeln hervorgebracht, die das höchste Symbol jener allwaltenden Realität sind, die wir »Gott« nennen. In der katholischen wie in vielen anderen Traditionen sowohl des Westens als auch des Ostens bezeichnet man eine derartige Formel als »heiligen Namen«; im Hinduismus und Buddhismus spricht man dagegen von »Mantra«. Der heilige Name steht für jene allwaltende Macht, von der der Apostel Johannes behauptet: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort« (Joh 1,1). Ein sehr einfacher und hingebungsvoller Mann Gottes, Swami Ramdas, den in Indien zu treffen meiner Frau und mir vergönnt war, teilt uns so ziemlich dasselbe mit, wenn er sagt: »Der Name ist Gott.«
Die gedankliche Wiederholung des heiligen Namens ist eine der einfachsten und wirkungsvollsten Möglichkeiten, »die Gegenwart Gottes zu üben«, um eine Formulierung des Bruders Lorenz von der Auferstehung, eines französischen Mystikers aus dem 17. Jahrhundert, zu benutzen. Sie ist absolut praktikabel, und sie kann unseren gesunden Menschenverstand ansprechen. Wenn wir das Mantra wiederholen, versetzen wir uns nicht in Hypnose, hängen wir keinen Tagträumen nach und kehren auch nicht der Welt den Rücken. Die Wiederholung des Mantras ist eine dynamische Übungsdisziplin, durch die wir uns Zugang zu unseren inneren Kraftreserven verschaffen und Geistesfrieden erlangen. Mithilfe des Mantras gewinnen wir unsere natürliche Energie, unser...