Liebe braucht Gelassenheit
Wohl ist ein See in mir,
ein einsiedlerischer,
selbstgenügsamer;
aber mein Strom der Liebe reißt ihn mit sich
hinab – zum Meere!
Friedrich Nietzsche
Ich habe zwei Namen. In meiner Geburtsurkunde steht der Name Jens Olaf Christian Nölke. Auf ihn wurde ich getauft. Noch heute steht er in meinem Pass. Ausgesucht habe ich ihn mir nicht. Anders verhält es sich mit meinem Mönchsnamen. Mein Meister erlaubte mir, den Namen frei zu wählen, als ich in Japan zum Zenmönch ordinierte. Fünfundzwanzig Jahre ist das nun her. Die zwei Schriftzeichen, mit denen man den Namen schreibt, bedeuten »keine Richtung« – was nicht Ziellosigkeit heißen soll, sondern ein Offensein für die Welt. Ich wollte mich nicht von vorgefassten Meinungen leiten lassen und keinen Einbahnstraßen folgen. Ich wollte meinen Weg ohne Scheuklappen gehen.
Die zwei Namen verraten es schon – mein Leben spielt sich in zwei Welten ab. Ich wurde 1968 in Berlin geboren und bin bis zu meinem sechsten Lebensjahr in einem Pfarrhaus in Braunschweig aufgewachsen. Mit vierzehn wurde ich in Tübingen konfirmiert und kehrte mit sechzehn wieder nach Braunschweig zurück, um ein christlich geführtes Internat zu besuchen. Ausgerechnet dort kam ich zum ersten Mal mit Zazen in Berührung, der »Meditation im Stil des Zen-Buddhismus«, wie man damals sagte. Dieser Moment sollte mein Leben verändern. Nicht nur las ich fortan alles, was ich zum Thema Buddhismus in die Finger bekam; nach einiger Zeit beschloss ich auch, nach dem Abitur Japanologie und Philosophie zu studieren. Ich wollte mich so auf einen längeren Aufenthalt in einem Zenkloster vorbereiten. Dass ich als Fünfzigjähriger einmal Abt eines japanischen Klosters sein würde, hätte ich mir gleichwohl nicht träumen lassen. Das lag schlicht jenseits meiner Vorstellungskraft.
Inzwischen lebe ich seit mehr als zwei Jahrzehnten in Antaiji, einem tief in den japanischen Bergen gelegenen Kloster. Sowohl in Deutschland als auch in Japan werde ich gerne vorgestellt als der deutsche Zenmeister, der mehr als die Hälfte seines Lebens in Japan verbracht hat; der christlich erzogen wurde, aber zum Buddhismus konvertiert ist; der fließend Japanisch spricht, dessen deutschen Akzent aber jeder bemerkt.
Trotzdem kommt es so gut wie nie vor, dass man mich wie Goethes Faust seufzen hört über die zwei Seelen in meiner Brust. Es gibt schließlich trotz allem nur einen Muho: nämlich den mit deutscher Staatsbürgerschaft und christlichen Wurzeln, der als Abt einem japanischen Zenkloster vorsteht. Das bin ich. Und gerade weil mir beide Welten und beide Religionen vertraut sind, vermag ich vielleicht das Christentum wie den Buddhismus etwas anders wahrzunehmen und auch darzustellen als jemand, der nur eine Seite kennengelernt hat. Wenn daher in diesem Buch nicht nur aus buddhistischen Schriften, sondern auch aus der Bibel zitiert wird, verweist das auf meinen ganz persönlichen Lebensweg – zu dem im Übrigen auch die Beschäftigung mit Philosophen wie Friedrich Nietzsche oder Sören Kierkegaard gehört. Auch auf ihre Schriften werde ich das eine oder andere Mal zurückkommen.
In Japan bittet man mich häufig, den Buddhismus, den ich mir als meine eigene Religion gewählt habe, mit dem Christentum, das mir in die Wiege gelegt wurde, zu vergleichen. Beispielsweise werde ich gefragt, was der Buddhismus vom Christentum lernen könne. Dann antworte ich: Gelebte Liebe!
Buddhistische Mönche sind Weltmeister, wenn es darum geht, Gleichmut zu bewahren. In diesem Punkt macht ihnen so schnell keiner etwas vor. Wann hat zuletzt den Buddha etwas auf die Palme gebracht? Niemand kann sich daran erinnern. Und doch stünde ein bisschen mehr Engagement vielen Buddhisten ganz gut zu Gesicht. Gleichmut muss lebendig sein. Wird er zur Gleichgültigkeit, verliert er alles, was ihn ausmacht. Buddhisten sollte es immer darum gehen, die Welt und jedes einzelne Wesen in ihr wertzuschätzen. Die Welt loszulassen und sie gleichzeitig so anzunehmen, wie sie ist, das gehört zusammen. Daher darf ein Buddhist der Welt nicht den Rücken zukehren und gleichgültig werden. Vielmehr muss er sich öffnen und da sein für die Welt, als Liebender. Gelassenheit ohne gelebte Liebe läuft Gefahr, Lethargie zu werden.
Gibt es umgekehrt etwas, das das Christentum vom Buddhismus lernen kann? Meine Antwort lautet: Gelassenheit. Das Christentum ist die Religion der Liebe. Oder zumindest, so sollte man vielleicht besser sagen, eine Religion, in der viel von Liebe die Rede ist. Von der Liebe zu Gott, von der Liebe zum Nächsten. Doch wenn man über eine Sache zu viele Worte verlieren muss, bedeutet das meist, dass man mitunter ein gar nicht so kleines Problem mit ihr hat. So ist es auch mit der Liebe. Über die Liebe zu reden und tatsächlich zu lieben sind zwei verschiedene Dinge. Die Geschichte hat es gezeigt, und in der Gegenwart verhält es sich nicht anders: Christlicher Liebe fehlt es häufig an Gelassenheit. Dann ist sie eine Liebe, die bekehren und herrschen will; die aufdringlich wirkt, selbstgerecht und intolerant.
Es ist nicht einfach, Japanern den Ausschließlichkeitsanspruch des Monotheismus verständlich zu machen. Juden, Christen und Muslime berufen sich auf denselben Gott. Auf Gott, den Vater, der seine Schöpfung liebt und dem Menschen den Auftrag gegeben hat, an seiner statt Liebe walten zu lassen. Wie kommt es aber dann, werde ich gefragt, dass der Krieg zwischen den Gläubigen dieses Gottes kein Ende nimmt? Meistens behelfe ich mich in solchen Situationen mit einem Vergleich und sage, dass dieser Krieg dem Streit zwischen kleinen Kindern ähnele. Mit den Geschwistern ringen sie, wen die Eltern am liebsten haben, und mit den Nachbarskindern debattieren sie darüber, wessen Eltern die größten, klügsten, gerechtesten sind. »Ja, okay«, sagen die Japaner dann, »das ging uns als Kindern nicht anders. Aber wir reden doch jetzt von erwachsenen Menschen!«
Jeder versteht es, kaum einer vermag es zu beherzigen: Liebe ist für den anderen da. Sie darf nicht, wie es leider allzu oft im Alltag der Fall ist, vergiftet sein von Eifersucht und Obsession. Liebe braucht Gelassenheit. Um gelassen zu sein, muss ich mich selbst wie auch den anderen annehmen können, ihn sein lassen. Nur wer sich und den anderen in seinem Sein annehmen kann, erfährt Gelassenheit. So einfach ist es – und so schwer. Wie können wir alle lernen, einen Weg zu finden, der Liebe mit Gelassenheit vereint? Nicht zuletzt um diese Frage soll es in diesem Buch gehen.
Für eine mögliche Antwort werde ich auch ausführlich auf einen Text des japanischen Zenmeisters Dōgen eingehen, in dem sich ganz handfeste Hinweise zur Praxis der Liebe finden lassen. Dōgen lebte im zwölften Jahrhundert und begründete die Soto-Schule, in der ich zum Mönch ordiniert wurde. Daher fühle ich mich seinem Werk in besonderem Maße verbunden. Der Text behandelt vier Arten praktizierter Liebe: das Geben; die Worte der Liebe; die selbstlose Hilfe und die Harmonie. Indem ich ihn anhand vieler Beispiele aus dem Alltag auslege, möchte ich versuchen, seine Aktualität deutlich zu machen und seine Relevanz auch für westliche Leser aufzuzeigen. Wir müssen versuchen, das Wunder, auf dieser Welt zu sein, mit anderen zu teilen. Denn zu lieben bedeutet, für andere da zu sein.
Wie wohl jeder kann auch ich mich noch sehr gut an den ersten Kuss erinnern. Die Welt war dieselbe wie zuvor und doch völlig verwandelt: bunter, strahlender, freundlicher. Das Leben zwinkerte mir zu, und alle Zweifel und Bedenken schienen auf einmal weit weg. Alles hatte sich verändert, denn ich war glücklich verliebt. Dieses kostbare Gefühl hütete ich wie ein Geheimnis. Unmöglich, jemandem davon zu erzählen. Ein anderer hätte die so fundamentale Veränderung, die alles erfasst hatte, ohnehin nicht verstanden.
Handelte es sich bei dieser Verliebtheit bereits um Liebe? Damals wäre ich mir absolut sicher gewesen: Ja, natürlich war das Liebe, große, unbedingte, rosarote Liebe. Heute allerdings sehe ich das anders. Ob man liebt, weiß nur die andere, die geliebte Person. Denn Liebe beschränkt sich nicht auf das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch. Liebe will nicht nur gefühlt, sondern auch gelebt werden. Ihren wahren Ausdruck findet sie im Alltag. Sie zeigt sich in Blicken, in Worten, in kleinen oder großen Geschenken. Vor allem aber weiß wahre Liebe, wann sie sich zurückhalten muss. Sie entspringt einer Gewissheit, die der verliebte Teenager noch nicht haben kann, die aber auch uns sogenannten Erwachsenen oft fehlt: der Gewissheit, in der Welt zu Hause zu sein.
Immer wieder werde ich in diesem Buch auf den Unterschied zwischen Verliebtheit und Liebe zurückkommen. Es ist der Unterschied zwischen einem wunderbaren Gefühl und einer lebenslangen Praxis, die man wahrscheinlich nie ganz meistern wird. Ohne gefühlte Liebe fehlt einem die Kraft, Liebe zu leben. Umgekehrt wird selbst die größte Liebe verebben, wenn sie nur im Herzen gefühlt und nicht im Alltag gelebt wird.
Wer hat es verdient, ein Liebender genannt zu werden? Nur der, der von sich aus einen anderen liebt? Oder nicht doch auch der, der auf die Liebe eines anderen hofft? Der eine will lieben, der andere geliebt werden. Beide sind sie aufeinander angewiesen – der aktiv Liebende auf den Empfänger seiner Liebe genauso wie der Geliebte auf jemanden, dem er alles bedeutet. Einen Unterschied gibt es jedoch: Wer lieben will, muss die Liebe erst einmal selbst erfahren haben. Wer nie geliebt wurde, kann auch nicht lieben.
Dieses Buch soll nicht nur graue Theorie enthalten. Ich will auch von meinen eigenen, manchmal bitteren Erfahrungen mit der Liebe erzählen. Ein...