Ungünstige Prognosen schlecht verpackt
Es ist gut zehn Jahre her, dass ich mich einer Routineuntersuchung unterzog, obwohl ich erst Mitte dreißig war und eigentlich nicht wusste, warum dies notwendig sein sollte. Aber mein Hausarzt riet mir dazu, und ich folgte seinem Rat. Als er mit dem Ultraschall meine Galle durchleuchtete, stieß er auf kleine Gewächse. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an seine Worte. Noch bevor er die Knötchen in ihrer Größe vermessen hatte, sprach er von einer potentiell notwendigen Gallen-Operation. »Das könnten Polypen sein, und wenn die mal entarten, dann muss die Galle raus, bevor dort ein Krebsgeschwür entsteht.« Ich war so perplex, dass es mir die Sprache verschlug. Heute vermute ich, dass ich unter Schock stand und gar nicht in der Lage war, angemessen nachzufragen, um die Diagnose ins rechte Licht rücken zu lassen.
Anstatt mich sachgerecht aufzuklären, ließ mein Arzt seinen Vermutungen weiter freien Lauf. Er fragte mich, ob er nicht ein paar Tumormarker ermitteln lassen solle, wo er doch ohnehin schon Blut abgenommen habe, »… nur um auf Nummer sicher zu gehen«. Er hatte mir innerhalb weniger Minuten zweimal vor Augen geführt, ich könne ein Krebsgeschwür in der Galle haben oder zumindest in absehbarer Zeit entwickeln. Ich weiß noch wie heute, dass es ein warmer Sommertag war. Ich weiß auch noch, welches Kleid ich trug. Und ich weiß noch ziemlich genau, dass ich am Abend dieses Tages ausgehen wollte. Nach dieser Diagnose war mir nach allem Möglichen zumute, nur nicht nach Amüsement. Ich wusste gar nicht, wohin mit meiner Angst.
Die Erhebung irgendwelcher Tumormarker habe ich seinerzeit abgelehnt. Das war wohl weniger eine rationale als vielmehr eine intuitive Reaktion. Mein Arzt hatte nämlich noch ein paar ähnlich gelagerte Diagnosebeispiele zur Hand. Er berichtete von einem jungen Mann, dem er ebenfalls aufgrund kleiner Polypen in der Galle zur Operation geraten hatte. Nach dem Eingriff stellte sich jedoch heraus, dass die vermeintlich gefährlichen Gewächse alles andere als gefährlich waren und der Mann seine Galle für nichts und wieder nichts verloren hatte. Vielleicht wollte mein Arzt damit zum Ausdruck bringen, dass solche Polypen nicht gefährlich sein müssen. Vielleicht wollte er seine verunglückte Prognose relativieren. Vielleicht schwante ihm, dass er zu schwarz gemalt hatte.
Was auch immer er sagen wollte, faktisch hatte er seine Diagnose in falsche Worte gekleidet und mich in einen Zustand schlimmster Verunsicherung versetzt. Aus heutiger Sicht hätte ich mir eine Zweitmeinung einholen müssen. Ich weiß heute nicht mehr zu sagen, warum ich das nicht tat. Es bedurfte einer geradezu ungeheuerlichen Fehldiagnose, die er in ähnlich ungeschickte Worte kleidete, bis mir aufging, dass dieser Arzt nicht gut für mich sein konnte.
Nur wenige Monate nach besagter Gallengeschichte kam ich, nachdem ich bereits einen halben Tag in der Notaufnahme eines Münchner Klinikums verbracht hatte, mit einem heftigen Drehschwindel in seine Praxis. Ohne mich zu untersuchen, orakelte er, ich hätte vermutlich eine Entzündung im Gehirn, die er mit einer mehrtägigen Cortison-Infusion zu kurieren gedenke. Meine laienhafte Vermutung, dass der Schwindel von einem eingeklemmten Nerv herrühren könne – ich hatte zu dem Zeitpunkt fürchterliche Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich und konnte den Kopf kaum drehen –, schlug er glatt in den Wind. Als ich ihn fragte, wie er denn zu der Überzeugung gelangt sei, ich könne eine Entzündung im Gehirn haben, wo er mich doch noch nicht einmal untersucht habe, sagte er mir wörtlich: »Das kommt bei Frauen Ihres Alters ziemlich oft vor.« Daraufhin verließ ich seine Praxis und habe sie nie mehr betreten. Der Schwindel war tatsächlich die Folge eines eingeklemmten Nervs. Ich ging noch am selben Tag zum Orthopäden meines Vertrauens, der mir eine Spritze in die schmerzende Schulter gab. Kurz darauf klang der Schwindel ab.
Seit nunmehr zehn Jahren lebe ich mit den Polypen in meiner Galle. Zweimal im Jahr lasse ich sie von meinem Hausarzt überprüfen. Auch er hat mich darauf hingewiesen, dass man diese Gewächse im Auge behalten und die Galle gegebenenfalls entfernen müsse, falls die Polypen eine bestimmte Größe überschreiten oder sich vermehren. Aber im Gegensatz zu seinem Kollegen hat er mir keine Angst eingejagt. Er hat mich sachlich über die Risiken und Behandlungsmöglichkeiten solcher Gallenpolypen aufgeklärt. Bislang sind sie weder gewachsen, noch haben sie sich vermehrt. Und sollte es doch eines Tages so sein, weiß ich, was mich erwartet. Ich bin darauf vorbereitet und habe keine Angst vor einem möglichen Eingriff, weil mir die Notwendigkeit einer solchen Operation im Ernstfall bewusst sein wird.
Nun war ich seinerzeit in der glücklichen Lage, die für mich richtigen Konsequenzen aus den Vorkommnissen zu ziehen, und bin letztlich gestärkt aus der Situation hervorgegangen: gestärkt in dem Bewusstsein, dass Ärzte nicht immer auf der Basis stichhaltiger Befunde urteilen, sondern mitunter Meinungen und Vermutungen äußern und lieber auf Statistiken vertrauen, anstatt ihren Patienten zuzuhören; bestärkt auch in der Überzeugung, dass man sich solchen Meinungen nicht aussetzen muss. Hierzulande haben Patienten das Recht auf freie Arztwahl. Nun lebe ich in München, deren Bewohner sich über einen Mangel an Fachärzten wahrlich nicht beklagen können. Mir ist sehr wohl bewusst, dass Menschen vor allem in ländlichen Gegenden froh sind, überhaupt einen Facharzt in ihrer Nähe zu wissen. Trotzdem sollten sie sich nicht ins Bockshorn jagen lassen und im Zweifelsfall eine längere Anfahrt in Kauf nehmen. Wenn man sich als Patient schlecht beraten oder behandelt fühlt, ist das Vertrauensverhältnis, die Beziehung zwischen Arzt und Patient, möglicherweise so weit gestört, dass eine sinnvolle und zielführende Betreuung und Therapie erschwert, wenn nicht sogar unmöglich werden.
Ich habe mich damals relativ schnell von dem Schreck, den mein Hausarzt mir mit seinen Tumormarkern und Krebsgeschwüren eingejagt hat, erholt und keinen nennenswerten Schaden davongetragen. Die Entscheidung gegen eine Gallen-OP und die fragwürdige Cortison-Therapie zur Behandlung einer nicht existenten Hirnentzündung fiel mir möglicherweise auch deshalb so leicht, weil im Fall der Galle kein akuter Handlungsbedarf bestand, ich folglich nicht sofort reagieren musste, und im Fall des Drehschwindels die Diagnose des Arztes so abstrus klang, dass ich ihm Gottlob nicht auf den Leim gegangen bin.
Aber es gibt Situationen, die keine längeren Bedenkzeiten lassen und eine schnelle Entscheidung erfordern. Jede Frau, die sich aufgrund einer späten Schwangerschaft prädiagnostischen Maßnahmen unterzieht, um sicherzugehen, dass keine Gendefekte vorliegen, weiß um die Unsicherheit, die mit diesen Maßnahmen einhergeht. Unterschwellig ist immer ein Fünkchen Angst im Spiel. Schließlich möchte jede werdende Mutter ein gesundes Kind zur Welt bringen. So erlebte es auch eine Bekannte von mir.
Als sie zusammen mit ihrem Mann in die Frauenklinik ging, um die Befunde einer Fruchtwasseruntersuchung zu besprechen, brach ihre Welt zusammen. Eine Krankenschwester fühlte sich berufen, die Ergebnisse auszuwerten, und erklärte den werdenden Eltern, die Werte sähen nicht gut aus und sie müssten damit rechnen, ein Kind mit offenem Rücken zu bekommen. Was das bedeutet und welche Folgen ein offener Rücken nach sich ziehen kann, ließ die Krankenschwester offen. Der künftige Vater zweifelte die Einschätzung der Krankenschwester an und ließ sich die Untersuchungsergebnisse aushändigen. Damit ging das Paar zur betreuenden Gynäkologin, deren Meinung anders ausfiel. Zwar lagen die Werte tatsächlich am Rand des grünen Bereichs, aber die Eltern brauchten sich keine Sorgen zu machen. Die Frauenärztin klärte die Eltern auch darüber auf, dass man eine solche Entwicklungsstörung, so sie denn eintreten sollte, behandeln kann. Damit hatte die Gynäkologin alle Ängste und Zweifel behoben, so dass meine Bekannte ihre Schwangerschaft genießen und sich auf ihr Kind freuen konnte. Dieses Kind ist heute 25 Jahre alt und kerngesund. Was wäre gewesen, wenn die Mutter keine Zweitmeinung eingeholt und auf das Urteil der Krankenschwester vertraut hätte? Man mag es sich nicht ausmalen. Allein die Zeit, die bis zum Termin bei der Gynäkologin verstrichen ist und die die Schwangere mit Zweifeln und Ängsten verbringen musste, war eine unnötige Tortur für sie, für ihren Mann und für das Kind in ihrem Bauch. Besagte Krankenschwester hat vermutlich keinen Gedanken daran verschwendet, was sie mit ihren unüberlegten Worten angerichtet hat. Und wer weiß schon, wie vielen anderen Frauen sie in ähnlicher Weise die Freude an der Schwangerschaft vergällt hat.
Nun muss man sich als Patient natürlich darüber im Klaren sein, dass jede diagnostische Maßnahme einen Befund zum Ergebnis haben kann. Der ärztlichen Aufklärungspflicht gemäß müssen Mediziner Patienten aufklären, was dies im konkreten Fall bedeutet, welche Behandlungsoptionen bestehen und was passieren kann, wenn Patienten eine Therapie ablehnen. Wer unbedingt wissen will, wie es um ihn steht, und sich regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen unterzieht, muss auch damit leben können, wenn diese ein negatives Ergebnis hervorbringen. Vor diesem Hintergrund sollten Patienten sich genau überlegen, ob sie wirklich wissen wollen, welche potentiellen Risiken sie in sich tragen – mit Betonung auf potentiell –, bevor sie zum Screening gehen. Das ist eine Verantwortung, der sich Patienten stellen müssen. Mediziner hingegen sind in der Verantwortung, Aufklärungsgespräche so zu führen, dass Patienten nicht unnötig...