Anmerkungen von Jan Silberstorff
Ich bedanke mich bei jedem, der das Qingjìngjing gelesen hat. Ich glaube es ist ein nicht nur wunderschöner, sondern auch sehr wichtiger Text, der uns sehr helfen kann, zu uns selbst und zu unserer wahren unsterblichen Natur zurückzufinden.
Ich habe meine Übersetzung sehr sorgfältig und wohlüberlegt angestellt. Dennoch bleibt es unvermeidlich, dass sich nicht nur Fehler einschleichen, denn wir sind Menschen, sondern wie alle anderen Übersetzer kämpfe auch ich mit dem Problem, einem chinesischen Schriftzeichen, also einem Bild, mit nur einem deutschen Wort oder zumindest einer Bedeutung genüge tun zu müssen. Um es für Nicht-Sinologen verständlich auszudrücken: Chinesische Schriftzeichen bestehen aus vielen einzelnen Unterzeichen, Radikale genannt, die in sich wiederum Bedeutungen haben. Es ist also vergleichbar, als stünden Sie vor einem Gemälde und müssten nun alles, was Sie dort sehen, mit nur einem Wort oder einem Sinn wiedergeben. Unmöglich. Dazu kommt noch die Grammatik des klassischen Chinesisch, die eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten offen hält. Ich habe daher versucht, mein sinologisches Verständnis des Textes mit der Erfahrung, die ich in den letzten 30 Jahren im Taijiquan und in der Meditation machen durfte, abzugleichen, um dem Sinn des Textes so nah wie möglich zu kommen. Um aber hierbei nicht stehen bleiben zu müssen, möchte ich Ihnen nun im Anschluss noch einige Übersetzungsalternativen aufzeigen, die weitere interessante Varianten veranschaulichen.
Zum Titel
Das 清靜經 Qingjìngjing direkt übersetzt bedeutet: „Der Klassiker/das heilige Buch oder auch der Kanon der Klarheit und der Stille“. 經 jing bezeichnet in diesem Falle nicht nur ein Buch, sondern ein spezielles, meist religiös zugeordnetes „heiliges“ Buch. Im Chinesischen steht dieser Begriff immer zum Schluss. Ihnen wird auffallen, dass ich insgesamt von rechts nach links übersetzt habe, sprich hier die beiden ersten Zeichen miteinander getauscht habe. „Das Buch von der Klarheit und der Stille“ klingt zwar wunderbar, doch in der Praxis der Meditation setzt zuerst die Stille ein, bevor wir die Klarheit des Geistes an sich wieder wahrnehmen. Daher kommt in meiner Übersetzung zuerst die Stille und dann die Klarheit. Im weiteren Verlauf habe ich diese beiden Zeichen dann wahlweise in dieser Reihenfolge oder auch zusammenhängend als „stille Klarheit“ oder auch vereinend in dem Begriff „Frieden“ gebraucht. Letzteren Begriff habe ich in der von Ihnen bereits gelesenen Übersetzung meist in einer wenn man so will Wiederholungszeile angegeben, die im Chinesischen nicht vorkommt, so z.B.:
常清靜矣
So ist man für immer in Stille und Klarheit
- so ist man für immer in Frieden.
Daher könnte man den Titel des Buches auch übersetzen mit:
清靜經 | Qingjìngjing - das heilige Buch (zur Erlangung) des Friedens |
„Stille Klarheit“ kann in sich nur friedvoll sein. Somit wäre es hiermit „das heilige Buch des Friedens“. Da der Text aber ganz klar eine Anleitung gibt, wie man zu diesem inneren Frieden kommt (und dadurch auch maßgeblich zu äußerem Frieden beiträgt), habe ich in Klammern „(zur Erlangung)“ gesetzt, was im Chinesischen nicht vorkommt.
Zu Abschnitt 1
Der Text selbst beginnt mit „Laojun“ (laojūn) 老君, was quasi eine Kombination aus dem Namen von Laozi (lao zi) 老子 und jūn zi 君子 (hoher Herr/Herr, weiser Herrscher/Herrscher, Edelmann) darstellt. Man könnte den Begriff daher z.B. mit „der weise Lao(zi)“ übersetzen. Da der Begriff Laojun eine respektvolle Anrede Laozis bezeichnet, habe ich ihn unübersetzt gelassen.1
Eine weitere Übersetzungsalternative, die ich Ihnen gerne vorstellen möchte, ist an folgender Stelle:
大道無名 | Das Große DAO ist ohne Namen, |
長養萬物 | es gebiert und nährt die 10000 Dinge und Wesen. |
Und zwar:
Das Große DAO ist ohne Namen,
ewig nährt es die 10000 Dinge und Wesen.
Das entsprechend variierende Zeichen ist 長 cháng, welches in diesem Zusammenhang „lang (ewig)“, aber auch „aufwachsen“ bedeutet. In letzterem Falle wird es als zhang ausgesprochen. Verändern wir die Bedeutung jedoch von „lang“, bzw. „ewig“ zu dem, was das Aufwachsen bedingt, nämlich „nähren“, so hätten wir die gleiche Bedeutung wie 養 yang, welches aber auch „gebären“ heißen kann. Daher wechseln wir hier auch für 養 die Bedeutung und erhalten, dass das Große DAO nicht nur „gebiert und nährt“, sondern das Nähren auch in Ewigkeit weiter betreibt, so dass wir uns gewiss sein können, immer von ihm umsorgt zu sein.
Etwas darunter möchte ich es daher auch nicht fehlen lassen, zu dieser Strophe:
降本流末 | Herabkommend aus dem Ursprung, fließend bis zum Ende, |
而生萬物 | so gebiert es die 10000 Dinge und Wesen. |
folgende Alternative mit anzugeben:
Herabkommend aus dem Ursprung, fließend bis zum Ende.
Auf diese Weise existieren die 10000 Dinge und Wesen.
Zu Abschnitt 2
Eine weitere Alternative zu
夫人神好清 | Des Menschen Geist an sich ist klar, |
而情撓之 | aber die Gefühle verdunkeln dies. |
人心好靜 | Des Menschen Herz an sich ist ruhig, |
而慾牽之 | aber die Begierde führt es davon weg. |
wäre
Des Menschen Geist ist sehr klar/liebt die Klarheit,
aber die Gefühle verhindern/stören dies.
Des Menschen Herz ist sehr ruhig/liebt die Ruhe,
aber die Begierde führt es davon weg.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Natur des Geistes an sich klar und rein (beides die Bedeutung von 清 qing) ist. Gleichzeitig ist es aber auch so, und das fällt jedem auf, der ein bisschen meditiert, dass unser Geist sich nach eben dieser Klarheit und Reinheit sehnt. Auch ohne Meditation bereits fühlen wir uns erschöpft und im Stress, wenn wir dem Geist nicht genug Ruhe (was 清 auch bedeuten kann) geben. Daher „liebt“ er diese Klarheit, was 好 hao als hào betont bedeuten kann. Schließlich ist es immer ersehnt und geliebt, wenn etwas in seinem Element sein kann. Der Geist sehnt sich quasi zu dieser Klarheit. Denn genau dies ist seine Natur. Er wird automatisch klar und ruhig, sobald ich ihn sich selbst überlasse, ohne ihn mit „Gefühlen“ und Gedanken zu „verdunkeln“. Daher ist er „an sich“ klar. Eine weitere Bedeutung von 好, nun im dritten Ton ist neben der Hauptbedeutung „gut“ auch „sehr“. Daher ist die ureigene Natur des Geistes nicht nur klar, sondern sogar „sehr“ klar.
Auch habe ich hier den Begriff 撓 nao mit „verdunkeln“ übersetzt, was eigentlich nicht ganz korrekt ist. Der beste wörtliche Begriff zu diesem Zeichen ist in diesem Zusammenhang wohl „pervertieren“:
Des Menschen Geist an sich ist klar,
aber die Gefühle pervertieren dies.
Da dies aber nicht allzu poetisch klingt, war mir „verdunkeln“ lieber. Wörtlich ginge auch wie oben angegeben „verhindern/stören“. Aber zum einen klingt dies ebenfalls nicht so schön und zum anderen trifft es auch nicht die letztendliche Bedeutung. Denn genau wie die Sonne ja nicht verschwindet, wenn sich eine Wolke davor schiebt, genauso ist grundlegend die Natur des Geistes an sich immer klar. Nur durch unser „verdunkeln“ können wir diese Klarheit dann nicht wahrnehmen. Den Geist zu „stören“, bzw. seine Klarheit zu „verhindern“ ginge zwar in dem für uns ohne Meditationserfahrung wahrnehmbaren Geist, kann aber nicht für seine Quelle gelten, die immer rein und klar ist. Daher scheint mir „verdunkeln“ hier am sinnvollsten, da sein ursprünglich natürlicher Zustand letztendlich nicht verändert sondern nur unkenntlich gemacht wird.
Die in diesem Abschnitt erwähnten sechs Begierden und drei Gifte sind allesamt buddhistischen Ursprungs. Während sich die drei Gifte auf Gier, Hass und Verblendung beziehen, finden die sechs Begierden eine direkte Weiterführung. Denn bei ihnen handelt es sich um eine Wechselwirkung von inneren Sinnesorganen und den durch diese im Äußeren wahrnehmbaren Sinnesobjekte:
Nimmt das Auge Form wahr, entsteht eine Geistesregung, die ein positives, negatives oder neutrales Gefühl entstehen lässt.
Durch das erste und zweite Gefühl entsteht jeweils ein Wollen, nämlich Form sehen zu wollen oder Form nicht sehen zu wollen. Selbiges gilt entsprechend für die weiteren fünf Sinnesbereiche. Die hierdurch entstehende Fessel, sprich die durch die Verbindung zwischen Sinnesorgan und Sinnesobjekt entstehende Gefühlsregung nährt die jeweilige Begierde dieser sechs Sinnesbereiche.2 Bzw. um auf den vorangegangenen Textteil zu verweisen: verdunkelt die Geistesklarheit durch Gefühle. Hierauf...