I Das römische Imperium: Eine historische Anomalie
– All right, but apart from the sanitation, the medicine, education, wine, public order, irrigation, roads, a fresh water system, and public health, what have the Romans ever done for us? – Brought peace. – Oh. Peace? Shut up! (Monty Python, Life of Brian)
Kurz vor der Zeitenwende schälte sich allmählich eine neue Ordnung aus den Trümmern der römischen Republik. Ab jetzt entschied nicht mehr ein Kollektiv, die Nobilität, über das Schicksal der von Rom gewaltsam unterworfenen Mittelmeerwelt, sondern ein einzelner Mann. Das politische System, das Augustus nach dem Scheitern der Republik formte, erscheint uns als Monarchie, der von Rom beherrschte Raum als Imperium. Monarchie und Imperium sind die Signaturen der Epoche, um die es in diesem Buch geht.
Beide sind Idealtypen im Sinne Max Webers. Sie sind analytische Kategorien und als solche Kopfgeburten des aus der Rückschau ordnenden Historikers, nicht Abbilder von Wirklichkeit. Idealtypen abstrahieren und vereinfachen. Damit stellt sich die Frage, was das Spezifische im Allgemeinen ist. Genau sie stellt dieses Buch: Wie füllten Augustus und seine Nachfolger die römische Variante der Monarchie, den Prinzipat, mit Leben? Und wie funktionierte das Imperium, das sie beherrschten, immerhin 500 Jahre im Westen und 1 500 Jahre im Osten?
Auch Epochen sind Idealtypen. Jedem Versuch, sie einzugrenzen, haftet etwas Willkürliches an. Und oftmals wird erst in der Rückschau klar, dass etwas Altes zu Ende gegangen ist und etwas neues angefangen hat. Dennoch: Erst ordnend verstehen wir Geschichte. Deshalb ist, Zäsuren zu setzen, unerlässlich. Begann die römische Kaiserzeit mit Caesar, in dessen Händen sich schließlich zum ersten Mal in der römischen Geschichte alle Macht konzentrierte, oder mit Augustus, dem ersten Princeps? Endete die Antike – und mit ihr die Kaiserzeit – mit dem Fall Westroms oder später, vielleicht gar erst mit der Expansion des Islam, wie der belgische Mediävist Henri Pirenne meinte? Überhaupt: Gehört die Spätantike noch zur Kaiserzeit, oder ist es sinnvoll, mit Diokletians Tetrarchie, mit der Konsolidierung des Imperiums nach der Krise des 3. Jahrhunderts und seiner Christianisierung durch Konstantin und seine Nachfolger eine neue Epoche – die Spätantike – beginnen zu lassen? Sollte man am Ende gar, wie einst Edward Gibbon, das römische Imperium erst mit dem Fall Konstantinopels 1453 ausklingen lassen?
Und wann begann die Kaiserzeit? Die Herrschaft der Nobilität, die im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. aus dem Kompromiss der Ständekämpfe erwachsen war, erscheint nur aus der Distanz als monolithische Einheit. Auch sie war beständig im Wandel, und ihre Agonie im letzten Jahrhundert der Republik war weder historische Notwendigkeit noch ein Prozess, der zielgerichtet auf den Ruin der Nobilität hinauslief. War die Nobilität am Ende, als Sulla nach der Diktatur griff? Oder mit dem Machtkartell des sogenannten Ersten Triumvirats, zu dem sich Pompeius, Caesar und Crassus zusammenfanden? War Caesars Diktatur die entscheidende Zäsur, seine Ermordung oder erst Antonius’ Ende nach der Schlacht von Actium? Oder begann der Prinzipat überhaupt erst mit Tiberius? War er am Ende eine Ordnung, die erst fertig ausbuchstabiert war, als sie sich im Grunde bereits überlebt hatte, vielleicht gar erst im späten 2. Jahrhundert, während der Herrschaft der Severer?
Für jede dieser Annahmen sprechen plausible Gründe. Diese Gesamtdarstellung der römischen Kaiserzeit entscheidet sich pragmatisch für zwei Daten, die nicht zufällig der Konvention entsprechen, wie sie sich in vielen Jahrzehnten althistorischer Forschung durchgesetzt hat: Sie lässt den Prinzipat 27 v. Chr. beginnen, mit der Rückgabe der Triumviratsgewalt an den Senat und der Übernahme des Augustus-Titels durch den ersten Princeps; und sie schließt mit der Schlacht an der Milvischen Brücke, mit der das tetrarchische Modell endgültig gescheitert und der Weg des Christentums zur im Reich dominierenden Religion wenn nicht besiegelt, so doch vorgezeichnet war. Weder war der Prinzipat als Ordnung am 16. Januar 27 v. Chr. »fertig«, noch brachen alle Kontinuitäten am 28. Oktober 312 plötzlich ab. Doch stehen beide Daten sinnbildlich für Zäsuren, die buchstäblich epochal waren.
So wichtig wie die Epochengrenzen ist die Frage danach, was die Kaiserzeit als Epoche ausmachte. Ihre primäre Signatur ist, wie der Name sagt, die spezifische Form der Herrschaft, die Augustus begründete. Der Begriff »Kaiserzeit« ist eigentlich irreführend: Zwar leitet »Kaiser« sich von Caesar ab, und Caesar war Namensbestandteil aller römischen Herrscher ab Augustus. Aber mit der Bezeichnung ist ein Herrschaftsmodell verknüpft, das erst auf das Mittelalter zurückgeht und in der Neuzeit noch einmal eine völlige Wandlung erfuhr. Im Gegensatz zu allen späteren Manifestationen bekleideten die römischen Kaiser kein »Amt«.
Weil der Interessenausgleich zwischen Augustus und dem Senat Kompromiss- und im Grunde genommen Improvisationscharakter hatte, war die römische Monarchie staatsrechtlich zunächst nur die Häufung disparater Befugnisse in der Hand des Mannes, der sich Princeps nannte. Von einem rechtlich-formalen Standpunkt gesehen, war der Prinzipat als Monarchie ohne Monarchen eine Anomalie. Aber auch herrschaftssoziologisch wich der Prinzipat von allen bekannten Schemata ab. Er entzieht sich, wie noch zu sehen sein wird, sämtlichen Kategorien der bekannten Weber’schen Typologie. Der römische Princeps schöpfte seine Legitimität weder aus dem Recht, noch aus der Tradition, noch aus zugeschriebenem Charisma. Oder besser: Er schöpfte sie aus allem zugleich, zu unterschiedlichen Anteilen, aber aus keinem allein. Wenn ein Princeps sich oben hielt, dann konnte er das nur, wenn er seine Herrschaft legal, traditional und charismatisch begründete.
Das römische Imperium der Kaiserzeit ist aber noch aus einem zweiten Grund eine historische Anomalie. Imperien sind Antipoden zum Nationalstaat, der uns heute – noch – selbstverständich erscheint. Nationen sind imagined communities: soziale Konstrukte, die allein aufgrund des Glaubens an gemeinsam geteilte Kultur und Geschichte durch starke symbolische Bindekräfte zusammengehalten werden. Das Modell der »einen und unteilbaren Nation« (la nation une et individible), wie es die Französische Revolution schuf, setzt maximale kulturelle, sprachliche, ethnische, religiöse und rechtliche Homogenität voraus.
Nichts davon gilt für das Imperium. Es kann mit Heterogenität problemlos umgehen. Imperien besitzen keine gemeinsamen, wenngleich imaginierten Traditionen. Sie kommen gewaltsam zustande, durch Eroberung, und haben weder den Willen noch die Möglichkeiten, den von ihnen beherrschten Raum zu normieren. Kulturell, sprachlich, ethnisch, religiös und rechtlich sind Imperien nicht kompakt, sondern äußerst vielgestaltig – und sie bleiben es auf Dauer. Imperien üben, was Nationalstaaten nicht können, »strukturelle Toleranz«, die nicht mit laissez faire verwechselt werden sollte. Zugleich verzichten sie auf die Gleichverteilung ihrer Herrschaft im Raum: Ihre Herrschaftsintensität ist idealtypisch im Zentrum am höchsten und nimmt zur Peripherie hin immer weiter ab, bis sie – in Klientelkönigreichen, Vasallen- und Satellitenstaaten – kaum noch zu spüren ist. Imperien haben deshalb auch keine klar definierte Grenze im Sinne von englisch border. Ihre Herrschaft läuft an den Rändern in breiten Grenzsäumen – englisch frontier – aus, gestaffelt von direkteren zu immer indirekteren Formen. Nur scheinbar im Widerspruch dazu steht, dass der Herrschaftsanspruch von Imperien in aller Regel global ist: Der Kaiser regiert nicht in diesem oder jenem Land, er ist überall der Kaiser.
Diesen Anspruch erhob auch der erste Princeps. Seine Herrschaft war imperium sine fine, wie Vergil im ersten Gesang der Aeneis formulierte: ein Reich ohne Grenze in Zeit oder Raum. Sonst aber entfernte sich das römische Imperium, das seine Existenz tatsächlich nackter Gewalt verdankte, in rasendem Tempo von dem, was ein Imperium ausmachte: Es ließ, durch großzügige Verleihung seines Bürgerrechts, die Grenze zwischen Herrschern und Beherrschten verschwimmen, es entwickelte eine zivilisatorische Sendung, die attraktiv war auch für Kreise, die nicht den Reichseliten angehörten, und es besaß mit dem Mythos ein universelles Koordinatensystem für Identität. Romanisierung lief, anders als modernes nation-building, nicht auf totale Homogenisierung, sondern auf komplexe Hybridbildungen überall im Reich hinaus. Aber die...