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Nie wieder fremdgesteuert!
»Klack, klack, klack« macht der Fahrradkorb, während Sabina übers Kopfsteinpflaster holpert. Den Saibling, das Baguette und das Gemüse hat sie abgeholt. Fehlt nur noch der Ziegenkäse, mit dem sie den Salat veredeln wird. Sabina schaut auf die Uhr: In zwei Stunden stehen die Gäste vor der Tür. Sie schaltet einen Gang hoch und kurvt schwungvoll um die Ecke. Das eingeschlagene Tempo hält sie aber nicht lange durch … »Was ist das denn?«, schreit sie und legt eine Vollbremsung ein. Wie in Zeitlupe sieht sie ihr Rad zu Boden gleiten, während sich der Inhalt des Fahrradkorbs über die Straße verteilt. Vor ihren Augen: ein Pärchen, das so hingebungsvoll neben dem Kinoeingang herumknutscht, als käme es direkt aus einer Hollywood-Romanze.
Das gibt’s doch nicht, denkt sich Sabina. Nicht einmal ihr empörter Aufschrei hat die beiden aufgeschreckt! Plötzlich merkt der Mann, dass er beobachtet wird. Als er aufblickt, sieht er in die zornigen Augen seiner Frau.
»Du Schwein«, zischt Sabina und tickt – vor Wut und Enttäuschung nur noch rotsehend – völlig aus. Ihrem Mann und seiner Blondine fliegt alles um die Ohren, was Sabina noch vor zehn Minuten so sorgsam eingekauft hat. Kinobesucher und Marktgänger stehen gaffend herum. Mit jeder Limette und jeder Schalotte fällt Sabina ein anderes Schimpfwort ein, von dem sie bisher gar nicht wusste, dass sie es überhaupt kannte.
»Es war grauenvoll«, schluchzte meine Freundin, als sie wie ein Häuflein Elend vor mir saß und mir ihr Erlebnis schilderte. Für sie war diese Episode mehr als nur ein Schicksalsschlag des Lebens. Es war die Vollkatastrophe. Das, womit sie am wenigsten gerechnet hätte. Warum auch? Die Beziehung zu ihrem Mann hatte sie gehütet wie ihren Augapfel.
Ihr Alltag war immer bis aufs i-Tüpfelchen organisiert, das zweigeschossige Haus hielt sie picobello in Ordnung. Neben ihrem Teilzeitjob managte sie selbstverständlich die Termine ihrer beiden halbwüchsigen Söhne, erledigte den Bürokram, hielt ihrem Mann den Rücken frei und bewirtete jeden Monat seine fünf wichtigsten Geschäftspartner. Ja, Sabina gehörte zu dem seltenen Typ »perfekte Schwiegertochter«. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, einen Pilates-Abend zu schwänzen oder mal einen über den Durst zu trinken. Schließlich wollte sie überall eine gute Figur machen. Und das schaffte sie auch. Familie, Freunde, Bekannte zogen den Hut vor ihr. Eigentlich ein perfektes Leben. Und jetzt so etwas …
Ich persönlich fand es gut, dass sie sich diese Szene erlaubt hatte. Aber Sabina haderte mit ihrem Auftritt und fühlte sich hin und her gerissen zwischen Scham, Wut und Verzeihen. Trotz ihrer Verletztheit suchte sie das Gespräch mit ihrem Mann, doch dieser zog sich immer mehr zurück. Keine vier Wochen später kam das endgültige Aus: Ohne jede Vorankündigung brachte der Postbote das Anwaltsschreiben mit dem Scheidungsantrag.
Seither läuft bei Sabina alles aus dem Ruder. Die Zwillinge wollen in eine eigene WG ziehen, ihr Mann zu seiner Blondine – und Sabina fragt sich, um wen sich ihr Leben zukünftig drehen soll.
Mein Wille, dein Wille
Sabinas gibt es wie Sand am Meer. Nicht nur in weiblich, versteht sich. Was diese Menschen kennzeichnet: Sie sind die angenehmsten Teamplayer und die unkompliziertesten Freunde. Sie sind weder rechthaberisch noch launisch, sondern unkompliziert und kooperativ. Sie verstehen die anderen und schrecken nicht davor zurück, ihre eigenen Interessen auch mal zurückzustellen. Nein, Entschuldigung: Sie schrecken auch nicht davor zurück, ihre Interessen immer wieder zurückzustellen. Ihre Nettigkeit geht bis zur Selbstaufgabe. Und irgendwann merken diese Sabinas: Sie haben ihr Leben voll und ganz der Familie oder anderen nahestehenden Personen untergeordnet.
Klar, hin und wieder rumort es in ihnen. Aber sie sind gut geübt darin, alle Zweifel zurückzudrängen. »Mein Mann braucht mich doch. Wenn ich ihn nicht unterstütze und ihm den Rücken frei halte, frisst ihn sein stressiger Job noch auf. Und dann leidet die ganze Familie darunter«, beschwichtigen sie sich. Und merken nicht, dass sie sich mit dieser Haltung immer weiter von sich selbst entfernen. Ihre Anteilnahme ist so sehr bei anderen, dass ihnen die eigenen Gefühle fremd geworden sind. Oh ja – es kann sich richtig stimmig anfühlen, sich für andere aufzuopfern! Stimmig jedoch nur aus dem Grund, weil frau sich so daran gewöhnt hat. Die Wünsche und Belange anderer sind ihr so vertraut geworden, dass sie tatsächlich denkt, es wären ihre eigenen. Und insgeheim hofft sie, ihre verlässliche Einsatzbereitschaft mache sie allseits beliebt und garantiere ihr dauerhaft den gewohnten, sicheren Rahmen. Doch der Deal geht nicht auf. Die anderen haben diesen unsichtbaren Vertrag nämlich nie unterschrieben! Mehr noch: Sie wissen nicht mal, dass es ihn gibt. Deshalb fühlen sie sich auch keineswegs dafür verantwortlich, so einer Sabina einen stabilen Rahmen zu bieten, sondern fallen einfach aus deren Bild, wenn es ihnen passt. Sie verschwinden. Dann merkt die aufopferungsvolle Person plötzlich, dass sie alleine gar nichts mit sich anzufangen weiß. Die Versuchung ist groß, sich dann einfach die nächste Bezugsperson oder -gruppe zu suchen und mit ihr wieder so eine einseitige Scheinsymbiose einzugehen. Ob mit einem neuen Partner, der Großfamilie, den Kollegen am Arbeitsplatz, einem Verein oder der Mittwochabend-Saunagruppe. Und wenn diese Symbiose scheitert, kommt die nächste. Und so weiter. Mit zunehmendem Alter wird es aber immer schwieriger, jemanden zu finden, der sich auf eine Scheinsymbiose einlässt. Irgendwann steht die Person, die sich immer nur für andere aufgeopfert hat, ganz alleine da – und hat inzwischen völlig verlernt, auf den eigenen Füßen zu stehen.
So ging es Caroline, meiner Kollegin. Von Kindheit an hatte sie sich immer nur angepasst. Sie ist sehr sprachbegabt und reist gerne. Aber auf die Idee, daraus einen Beruf und einen Lebensplan zu machen, ist sie nie gekommen. Ihre Eltern hatten nämlich ganz andere Vorstellungen von ihrer Zukunft. Jedes Mal, wenn sie einen neuen Freund hatte, kannte ihre Mutter nur ein Bewertungskriterium: »Dein neuer Freund ist ja sehr nett. Aber kann er dir den richtigen Lebensstandard bieten?« So richtete meine Kollegin ihr Lebensziel mehr und mehr darauf aus, sich einen reichen Mann aus gutem Hause zu suchen. Ein Studium oder eine gute Berufsausbildung erschienen da völlig überflüssig. Da sie gut aussieht, fand sie immer wieder einen neuen Partner, zu dem sie ziehen konnte, und lebte nebenher ihre Hobbys. Jetzt ist sie in einem Lebensabschnitt, in dem es nicht mehr so einfach ist, adäquate Männer kennenzulernen. Aber eine Alternative kommt ihr immer noch nicht in den Sinn.
Solche Leute gibt es überall. Die verlässliche Sekretärin, die Seele der Firma, die jederzeit bereit ist, für die Konferenz belegte Brötchen zu richten oder die Kollegen zwanzig Kilometer weit zum Flughafen zu fahren. Seit fünfzehn Jahren träumt sie davon, nach Amerika auszuwandern, aber was würden die Kollegen nur ohne sie anfangen? Also bleibt sie.
Oder die ehrenamtliche Rotkreuzhelferin, die jeden Samstag und Sonntag den Bereitschaftsdienst übernimmt. Nie erlaubt sie sich, übers Wochenende zu verreisen; ihren Urlaub begrenzt sie auf zwei Wochen, weil die anderen ehrenamtlichen Helfer doch ihre Wochenenden für die Familie brauchen. Dass sie ihr Privatleben radikal einschränkt, fällt schon fast keinem mehr auf, ihr selbst am allerwenigsten.
Klar laufen diese Anpassung, dieser Verzicht auf eigene Interessen nicht bewusst ab. Sie entspringen wohl eher dem verständlichen Wunsch, dazuzugehören: zu den Eltern und der gesamten Familie, den Partnern, Freunden, Vereinen und allen Arten von Gemeinschaften. Menschen sind soziale Wesen und möchten auch für andere wichtig sein. Die, die uns nahestehen, möchten wir zufriedenstellen und uns so verhalten, wie wir glauben, dass sie es von uns erwarten.
Doch vielleicht liegen wir damit manchmal völlig falsch. Vielleicht möchten die anderen gar nicht, dass wir immer nach ihrer Pfeife tanzen. Denn Selbstaufgabe macht uns weder glücklich noch besonders anziehend. Sie erzeugt im Gegenteil eine innere Leere. Die meisten Menschen wünschen sich ein Gegenüber mit eigenem Charakter und nicht bloß eine Art Zubehörteil. Zubehör ist austauschbar. Und plötzlich sind diejenigen, die unserem Leben die Richtung gaben, von heute auf morgen von der Bildfläche verschwunden.
Ab jetzt bin ich mein eigener Lebensnavigator
Der einzige Mensch, der Sie in Ihrem Leben auf Schritt und Tritt begleitet, sind Sie selbst. Mit sich selbst verbringen Sie die meiste Zeit. Wenn Sie in bester, nämlich in zufriedener Gesellschaft sein wollen, dürfen Sie also nicht Ihre Familie, Ihre Freunde oder Ihre Kollegen an die erste Stelle setzen, sondern sich selbst. Ihren Willen. Ihre Wünsche und Bedürfnisse. Trauen Sie sich, auf sich selbst zu hören!
Fremd- oder selbstgesteuert?
Beobachten Sie sich selbst! Wenn Sie folgende Verhaltensweisen und Gefühle an sich beobachten, ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass Sie fremdgesteuert sind:
Sie können nicht Nein sagen und haben einen großen Hang zu Gefälligkeiten.
Sie fühlen sich ständig überfordert und stark belastet.
Sie haben weder Zeit noch Raum, über eigene Wünsche und Vorstellungen nachzudenken.
Sie zögern, irgendeine Entscheidung unabhängig von der Meinung anderer zu treffen.
Sie können keine klaren, begeisterten Aussagen mehr über eigene Ziele und Pläne machen.
Sie...