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DAVID ODER WENN »ES WAR EINMAL …« ZU ENDE GEHT
Es ist ein Sonntag im November. Nicht irgendein Sonntag, sondern der erste Advent wie in »Advent, Advent, ein Lichtlein brennt!«. Wie schon so oft kommt David gerade nach Hause – von einer Veranstaltung in der Kirche, in der sich seine Frau und er engagieren. Wie schon so oft dreht er den Schlüssel im Türschloss ihrer gemeinsamen Wohnung. Noch ahnt er nicht, dass sein Leben an diesem ersten Advent eine unvorhersehbare Wendung nehmen wird. Denn an diesem Abend, als er die Wohnung betritt, findet er anstelle seiner Frau lediglich einen ominösen Zettel vor, der ihm sagt: »David, ich habe eine weitreichende Entscheidung in unserem Leben getroffen. Ich werde dich heute Abend anrufen!« Wie schon so oft, wenn ihm seine Frau etwas gesagt hat, versteht David nur Bahnhof. »Weitreichende Entscheidung?! Häh? Was soll das heißen? Was meint sie denn damit?« Gedankenverloren geht er nach oben ins Schlafzimmer, an den gemeinsamen Kleiderschrank. Als er ihn öffnet, starrt ihm aus den Fächern seiner Frau nichts weiter entgegen als gähnende Leere. Ihre komplette Kleidung ist weg. Verdutzt schaut sich David im Zimmer um. Auch hier ist etwas anders. Auch hier fehlt etwas. Sein Gehirn braucht eine Weile, um zu realisieren, dass seine Decke auf dem gemeinsamen Bett völlig vereinsamt daliegt. Ihre Bettdecke ist weg. Sein Blick schweift durch den Raum, findet nichts mehr, das seiner Frau gehört. Er geht ins Badezimmer, reißt auch da die Schranktüren auf: Seine Seite voll – ihre leer. Wimperntusche weg. Nagellack weg. Shampoo weg. Handtücher weg. Zahnbürste weg. Er geht ins Wohnzimmer, auch hier machen ihre Sachen einen auf Aktenzeichen XY ungelöst, sie sind vom Erdboden verschwunden: Dekoration weg, CDs weg, Bücher weg, hier etwas weg, da etwas weg, all ihre Sachen einfach weg. »Ich weiß nicht mehr, wie viele Minuten das gedauert hat. Ich glaub, ich bin dann wie wahnsinnig durch die Wohnung gerannt und hab vier Mal geguckt, ob das alles jetzt wahr ist.« David jagt durch die halb leere Wohnung, auf der Suche nach ihren Sachen, auf der Suche nach der Frau, die er liebt, zu der er »Ja« gesagt hat, »Ja, bis dass der Tod euch scheidet!«. Der Tod kam anders als erwartet: Seine Frau ist weg, auch wenn sie nicht gestorben ist. Denn obwohl sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute – nur eben geschieden. Advent, Advent, kein Lichtlein mehr brennt!
Dabei war doch am Anfang alles gut. Dabei hat doch ihr »Es war einmal …« so gut angefangen. Es war einmal ein junger Mann aus einem kleinen Dorf in einem früheren Königreich, das jetzt ein Freistaat ist. Ein Tischler, der seine Lehrjahre gerade beendet hat und nun in die Welt hinauszieht, um seinen Dienst für den Staat zu leisten. Zum ersten Mal weit weg von zu Hause, verschlägt es ihn an eine Schule für Menschen, die in den überlieferten Schriften des Christentums forschen. Dort will er dienen, dort ist er Zivi. Tagein, tagaus verrichtet er treu seine Arbeit, bis ihm eines Tages, wie aus heiterem Himmel, eine holde Maid ins Auge fällt: Die Frau seiner Träume! Noch nie vorher hat er derartige Schönheit gesehen. Von Amors Pfeil getroffen, ist David auf der Stelle hin und weg, von ihrer Schönheit betört, von ihrem Auftreten in den Bann gezogen. Doch große Hoffnung hat er nicht, scheint es doch unmöglich, das Herz dieser Frau zu erobern. Denn für alle offensichtlich, spielen die beiden in unterschiedlichen Ligen: Er: Kreisklasse – Sie: Weltklasse. Er: klein – Sie: groß, ganze acht Zentimeter größer als er; Er: gerade mal so den Hauptschulabschluss geschafft – Sie: Abitur mit 1,0 gemacht; Er: David, der unscheinbare Tischler aus Niederbayern – Sie: Rebecca, die blonde Schönheit aus dem Norden; Er: der Mann für alles, was tagtäglich anfällt – Sie: die intelligente und wissbegierige Bibelschülerin; Er: eine unerfahrene, graue Maus – Sie: die Art von Frau, die »was mit Männern machen« kann. Für David ist klar: Bei dieser Frau hat er keine Chance. Schließlich war er nie »so ein Checker, der schon drei Mädels hatte und sie alle in die Wüste geschickt hat«. Nein, David ist kein Abschlepper, kein Frauenmagnet. Er ist einer von den Guten, den Lieben, den Braven, behütet aufgewachsen in einem sehr konservativ-christlichen Elternhaus. Die Disco kennt er nur von außen, Saturday-Night-Fever kann er nicht einmal aussprechen und Frauen sind für ihn so unerreichbar wie ein 13 Milliarden Lichtjahre entfernter Galaxiehaufen. Das Einzige, was er mit dem Wort Freundin verbindet, ist ein schier unerträgliches Gefühl von Sehnsucht, die ihn mit der Frage quält: »Wann werde ich endlich mal das erste Mädchen kennenlernen?« Als er Rebecca dann kennenlernt, ist es für ihn eigentlich nichts weiter als ein Spiel. Ein Spiel mit nur einer Regel, die da lautet: »Du bist nett! Jetzt guck einfach mal, wie weit du kommst.« David ist einfach nur nett. Und tatsächlich! Spielzug für Spielzug steigt er immer höher in ihrer Gunst und erreicht schon bald das nächste Level: Das erste Date seines Lebens! Und das mit einer Frau, die völlig außerhalb seiner Reichweite war. Er hat das Unmögliche möglich gemacht, das Unerreichbare erreicht und den Galaxiehaufen auf die Erde geholt. Als stolzester Mann der Welt sitzt er nun im Kino neben ihr und sieht dabei zu, wie das Schiff am Ende des Films untergeht, Leonardo im eisigen Meer sein Leben lässt und die gerade entstandene junge Liebe ein grausames Ende findet. Dass auch ihr Traumschiff, das gerade eben in See sticht, einst in den Stürmen des Lebens zerschellen wird, ahnt der frisch Verliebte damals nicht. Kein Wunder, schließlich gibt es auf Wolke sieben keinen Alltag, und weil man der Sonne dort so nahe ist, hat man – will man nicht erblinden – gar keine andere Wahl, als die Brille aufzusetzen, die alles rosa färbt. Die Titanic geht unter, doch ihr Loveboat nimmt nach diesem Abend im Kino Fahrt auf. Voller Hoffnung starten sie in ihre erste Beziehung und ignorieren die Gewitterwolken, die sich am Horizont bereits zusammenbrauen und sich von Zeit zu Zeit völlig unerwartet entladen. Das erste Gewitter bricht bereits zwei Wochen später los: Rebecca bekommt erste Zweifel und macht aus heiterem Himmel Schluss. »Ich glaube, das macht keinen Sinn zwischen uns!«, sagt sie, geht und lässt ihren Freund zum ersten Mal in ihrer noch jungen Beziehung allein zurück. Für David bricht eine Welt zusammen. Er fällt im Sturzflug von Wolke sieben, ist am Boden zerstört: »Ich bin drei Tage in meinem Bibelschulzimmer gehockt und hab geflennt. Ich war so fertig! Und dann kam sie mit heißem Tee an mein Bett: Tut mir leid!«
Das Gewitter verzieht genauso schnell, wie es sich zusammengebraut hat. Warum sie sich so plötzlich aus der Beziehung verabschiedet hat, bleibt David ein Rätsel. Er hat nicht den Mut nachzufragen, will ihr Glück nicht trüben. Für ihn zählt nur, dass er sie wiederhat und sie ihr Märchen ungehindert weiterschreiben können. Also machen sie das, was es braucht, um das Gefühl von Glückseligkeit aufrechtzuerhalten: Sie kehren die Blitztrennung unter den Teppich, so als wäre sie nie gewesen. Eine Taktik, die gut zu funktionieren scheint, denn mit einem Mal ist alles wieder gut. Eine Taktik, die sie deshalb im Laufe ihrer Beziehung immer wieder anwenden und so landen bald auch andere Themen unter ihrem Beziehungsteppich. Themen, mit denen sie von Anfang an kämpfen, unter denen sie leiden – heimlich, stillschweigend, jeder für sich allein. Ein Thema, unter dem David ganz besonders leidet, ist ihr Größenunterschied:
Ihre Größe zum Beispiel war ja furchtbar für mich. Schön anzusehen, ja! Aber ich hab mir dann Plateauschuhe gekauft und hab da noch Tempo reingestopft. Dann hab ich in einem Internethandel Schuhe gefunden, die von außen normal aussahen, aber innen waren sie aufgepimpt. Weil, wenn wir spazieren gingen, war sie halt einfach acht Zentimeter größer und das war für mich eigentlich schlimm. Man hat gemerkt, wie die Leute sich zu uns umdrehen, weil ich so klein war. Ich hab dann immer die Seite gewechselt beim Bürgersteig und das hat sie natürlich gemerkt. Und das hat sich eigentlich so durch diese ganzen Jahre gezogen bis in die Ehe rein.
David leidet, weil sie groß ist. Doch wird der Größenunterschied ein Nicht-Thema, das unter dem Teppich vor sich hin fault. Die Folge: Seine giftigen Gase steigen ihnen immer wieder in die Nase, hinterlassen einen bitteren Beigeschmack in ihrer Beziehungsluft. Denn weil David unter ihrer Größe leidet, fühlt sich auch Rebecca bald nicht mehr wirklich wohl in ihrer Haut und wird eifersüchtig auf Frauen, die kleiner und in ihren Augen deshalb für David attraktiver sein müssen. Er wiederum ist in ständiger Sorge, ihr nicht gewachsen zu sein – nicht nur, was ihre Größe angeht. Denn irgendwie scheint sie ihm gegenüber immer einen Vorsprung zu haben: »Sie hatte die Hosen an in allem. Sie war immer in Lead, immer einen Schritt voraus und ich hechelte hinterher!« Minderwert und Eifersucht schleichen sich in ihre Beziehung ein, machen das Fundament, auf dem später ihre Ehe gründen soll, von Anfang an marode. Angst macht sich breit, flüstert David ins Ohr und quält ihn mit den immer selben Fragen: »Wie kann ich neben ihr bestehen? Kann ich ihr das Wasser reichen? Wie kann ich meinen Minderwert kompensieren?« Und so wird er größer, der Berg unter ihrem Teppich, und größer und größer. Und das, was sie darunter begraben, west vor sich hin und fängt an zu stinken. Doch was begraben liegt, kann man nicht sehen. Und was man nicht sieht, das ist nicht da. Und so läuten...