Jürgen Margetich
Als wir vor beinahe fünf Jahren die erste Auflage dieses Buchs geschrieben haben, bezogen viele Unternehmen das Thema Agilität hauptsächlich auf die Produktentwicklung. Wir wurden als Berater in erster Linie geholt, um Software-Entwicklungsteams mit Scrum vertraut zu machen und in den ersten Sprints zu begleiten. Das war auch logisch, denn schließlich sind agile Vorgehensweisen wie Scrum in genau diesem Kontext entstanden, um Entwicklungsprojekte schneller und qualitativ hochwertiger umzusetzen. Von diesen produktzentrierten Keimzellen wurde manchmal die Organisation oder zumindest Teile davon mit dem Virus „Agilität“ von innen heraus infiziert. Auf diese Weise wandelten sich einige Unternehmen sogar und wurden zu Prototypen agiler Organisationen. In anderen Fällen blieb es dabei, dass sich ausschließlich die technischen Bereiche durch agiles Arbeiten ein wenig reformierten.
Im strategischen Management war Agilität zu diesem Zeitpunkt hingegen kaum ein Thema. Hier wurde weiterhin in den klassischen Ansätzen des Projektmanagements gedacht, es wurden strategische Konzepte für mehrere Jahre entworfen und ausgerollt. Nach alter Manier wurden am Markt und im Unternehmen die Bedarfe erhoben, evaluiert, geplant, dann in mehr oder weniger konkrete Anforderungen gegossen und die Umsetzung in der IT oder Produktentwicklung schließlich bestellt. Agilität wurde vom Management als ein Fall für die operative Ebene betrachtet. Dazu fällt mir ein Meeting im Jahr 2014 ein, in dem die Frage gestellt wurde: „Wie können wir das Thema Agilität den Fachbereichen schmackhaft machen?“ Den bereits agil(er) denkenden Produktentwicklern ging es schon damals darum, direkt an die Kunden heranzukommen, um aus der Beobachtung zu lernen und tatsächlich für die User zu entwickeln. Den direkten Kontakt zwischen Entwicklern und Usern ließen aber die wenigsten Organisationen zu – entwickelt wurde, was Marketing und Vertrieb als notwendig definierten.
Was hat sich inzwischen getan? 2017 sind Design Thinking und userzentrierte Produktentwicklung keine flüchtigen Hypes, sondern in der Wahrnehmung des Topmanagements angekommen. Auf den Innovationstouren durch das Silicon Valley haben viele verstanden, dass das neue und andere Arbeiten nicht nur Softwareentwickler betrifft, sondern eine Haltung ist, die eine Organisation in den Stürmen der Digitalisierung die Richtung weisen kann. „Wir müssen agil werden!“, sagen heute nicht nur die Teamleiter, sondern vor allem Vorstandsvorsitzende. Nach dem Vorbild von Start-ups werden Innovation Labs als Schnellboote ins Rennen geschickt, auch in der Hoffnung, dass dieser „Spirit“ ein wenig auf das Mutterschiff überschwappt und es auf einen neuen Kurs bringt.
Während Agilisten, die das neue Arbeiten nach agilen Prinzipien schon vor zehn Jahren überzeugt vertraten, lange Zeit etwas abwertend als „Weltverbesserer“ bezeichnet wurden, gibt es heute fast kein Beratungsunternehmen mehr, das agile Themen nicht im Portfolio hat: in Form von Strategien, Arbeitsmodellen, Prozessen, Organisationsentwicklung und Tools. Die Change-Initiativen sind in vielen Konzernen beim Vorstand angesiedelt, werden auch meistens vom Vorstand angestoßen und gehen tiefer denn je. Wir werden nicht nur Zeugen einer Revolution in der Produktentwicklung, sondern auch einer Kulturrevolution im Leadership: Das Topmanagement stellt sich und sein Führungsverhalten infrage. Es ist selbst bereit zur Veränderung, denn so wie es am einen Ende darum geht, Kunden zu gewinnen, geht es am anderen Ende darum, die Schlüsselressourcen für den digitalen Wandel zu akquirieren, die schwer zu finden und anspruchsvoll sind. Hochqualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen und vor allem zu halten, geht auf Dauer nicht mit Geld, sondern nur mit der entsprechenden Kultur. Ich erinnere mich an das Gespräch mit dem CEO eines Industrieunternehmens, der 2014 zu mir sagte: „Ich bin noch nicht so weit, aber mir ist bewusst: An diesem Thema kann man als CEO heute nicht mehr vorbei.“ Inzwischen wissen die meisten CEOs, dass sie so weit sein müssen. Für uns Berater ist die Zusammenarbeit heute nicht mehr auf IT-Abteilungen reduziert – Business und IT sitzen in einem Boot.
Interessant an dieser Entwicklung ist das Aufeinandertreffen von neuer Menschlichkeit in der Arbeitssphäre und der Datengetriebenheit der Digitalisierung. In einer Ära, in der uns mehr Daten zur Verfügung stehen denn je, betrifft diese Menschlichkeit interessanterweise nicht nur die Art und Weise, wie miteinander gearbeitet wird, sondern auch die Intuition der Führungsverantwortlichen. Agile Arbeitsweisen wurden von Menschen entwickelt, die anders arbeiten wollten. Sie wollten wieder ihren Beitrag sehen, Produktqualität liefern und Lebensqualität gewinnen. Klare, persönliche und ehrliche Kommunikation ist dabei der Angelpunkt. Gerade die Softwareentwickler, die uns mit ständig neuen Tools für die elektronische Kommunikation versorgen, haben mit regelmäßigen Standups, Reviews und Retrospektiven das direkte Gespräch wieder in den Vordergrund gerückt und seine Kraft neu entdeckt. Je schneller sich das Rad der Digitalisierung dreht, desto deutlicher wird, dass in dieser Geschwindigkeit die direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch am wichtigsten ist, um die Qualität zu halten. Das wirkt sich selbstverständlich auch auf die Art der Führung aus, denn jetzt ist es tatsächlich wieder gefragt: das Führen durch die ständige Veränderung hindurch. Führung soll Orientierung geben und sich selbstähnlich verhalten – also das vorleben, was es von anderen verlangt. Und obwohl sich das Management auf Daten aller Art aus der Vermessung der Märkte und jeder Regung des Konsumenten stützen kann, braucht es in diesem Wust an Information vor allem eines: das Bauchgefühl. Denn das Wichtigste an den Daten ist nicht die Tatsache, dass es sie gibt, sondern ihre Interpretation und die Schlüsse, die man aus dieser Interpretation für die nächsten Schritte ableitet.
Kurz zusammengefasst: War Agilität im Jahr 2014 noch ein Erfolgsgeheimnis, so ist sie heute eine Notwendigkeit. Begrifflichkeiten wie Sprint, Review oder Crossfunktionalität gehören inzwischen zum allgemeinen Sprachgebrauch und Agilität ist das Thema, mit dem sich heute nicht irgendwelche Weltverbesserer, sondern Strategieabteilungen und interne Organisationsentwickler beschäftigen. Es ist eine der Ressourcen und Best Practices in der Unternehmensführung, neben anderen Ideen, die sich geeignet für den Umgang mit der Digitalisierung erwiesen haben. Es gibt Unternehmen, die Agilität mit allen Werten aus ihrem tiefsten Inneren leben, weil sie schon so geboren sind. Nicht die Struktur ist das, was agil macht, sondern die Haltung und das Verhalten, durch die sich Strukturen immer entlang der Notwendigkeiten neu formieren. Und dann gibt es Unternehmen wie Amazon. Ist Amazon agil? In seinen Arbeitsweisen und Geschäftsmodellen natürlich. Ist es agil in allen seinen Werten und Prinzipien? Wahrscheinlich nicht, zumindest wenn man den Gerüchten in der agilen Community Glauben schenkt.
Warum sollen wir agil werden?
Es gibt heute Unternehmen, die Agilität in ihren diversen Varianten – von eXtreme Programming, Kanban und Scrum bis hin zu DevOps und Design Thinking – in ihren methodischen Kanon absorbiert haben und damit erfolgreich sind, während in anderen Bereichen alles beim Alten bleibt. Es gibt also so etwas wie erlernte und angeborene Agilität. Das Erlernen von Agilität ist das Thema dieses Buchs.
Bevor sich ein Unternehmen in den agilen Wandel stürzt, sollten sich die Entscheider – und das sind möglicherweise Sie, liebe Leserin bzw. lieber Leser, drei Fragen stellen. Am besten eignet sich aus meiner Sicht dafür der „Golden Circle“ von Simon Sinek: Im Zentrum steht immer das „Warum“. Welcher Antrieb steckt dahinter, was ist der Grund dafür, dass Sie tun, was Sie tun? Erst wenn dieser Kern geklärt ist, schließen sich die Fragen an, wie man etwas tut und was man tut. Also:
Warum soll eine Organisation eigentlich agil werden? Warum soll Ihre Organisation agil werden?
Wie wird eine Organisation agil?
Was soll wohin transformiert werden?
In der ersten Auflage dieses Buchs habe ich erzählt, dass ich zu Beginn meiner Trainings die Teilnehmer in Teams immer einige Assoziationen zu Scrum sammeln lasse, die sie dann auf ein Schlagwort reduzieren müssen. Die Antworten beinhalten in den meisten Fällen einen Kern des „Warum“, also der Begründung für eine agile Organisation. Aus den Antworten ergab sich einige Jahre eine Reihung, die folgendermaßen ausgesehen hat:
Verbesserte Time-to-Market
Stärkung der Liefer- und Leistungsfähigkeit
Produkte, die wirklich fertig sind
Echtes Teamwork
Der User in Zentrum von allem
Lernen, Lernen, Lernen
Business is the winner
Eine kürzere „Time-to-Market“ ist noch immer ein wichtiger Antrieb, um den Wandel zur agilen Organisation oder zumindest zur Produktentwicklung mit Scrum auf sich zu nehmen. Durch die Erkenntnis, dass Agilität auf lange Sicht in einer Organisation kein isoliertes Phänomen der Produktentwicklung bleiben kann, ist inzwischen der Begriff Time-to-Market aber dem Anspruch einer permanenten Qualität und „konstanten Lieferfähigkeit“ gewichen. Es geht immer darum, schneller als die anderen zu sein und besser zu liefern – in jedem Anlauf. Das zeichnet eine agile Organisation aus...