Jede Frau, die schon ein Kind geboren hat, wird durch Gespräche über das Stillen oder durch den Anblick einer stillenden Mutter unmittelbar berührt. Wenn sie nach frustrierenden Versuchen das Stillen nach kurzer Zeit aufgegeben hat, können selbst noch Jahre später Enttäuschung und Traurigkeit über das Misslingen ihrer Stillbeziehung wieder in ihr wach werden. War ihre Stillzeit jedoch befriedigend und unproblematisch, wird ihre Erinnerung belebt an das tiefe Glück, die Wärme und die Verbundenheit, die sie damals mit ihrem Baby erlebte. Jene Frauen, die Schwierigkeiten beim Stillen erfolgreich lösen konnten, haben daraus eine Kraft gewonnen, die sich noch lange Zeit fruchtbar auf ihre Beziehung zu ihrem Kind auswirkte.
Wie dieses Buch entstanden ist
Unsere Tochter Anya kam 1972 in einem kleinen Kreiskrankenhaus in Virginia (USA) zur Welt. Obwohl wir in einer weit abgelegenen kleinen Landgemeinde wohnten, hatten wir das große Glück, dass in der 40 Kilometer entfernten Kreisstadt Geburtsvorbereitungskurse für Paare angeboten wurden, durch die wir Vertrauen in die natürlichen Vorgänge der Geburt und des Stillens bekamen. Anyas Geburt, die ich – rührend unterstützt durch meinen Mann – wach und bewusst ohne Einfluss von Medikamenten erlebte, war eine der intensivsten und bereicherndsten Erfahrungen meines Lebens. Anya wurde mir sofort nach der Geburt an die Brust gelegt und mir dann regelmäßig Tag und Nacht zum Stillen gebracht – Rooming-in gab es dort damals leider noch nicht.
Vor meiner Entlassung am dritten Tag nach der Entbindung besuchte mich der von uns gewählte Kinderarzt, gratulierte mir zu unserer Tochter und versicherte, dass sie kerngesund sei und sogar ihr Geburtsgewicht schon wieder erreicht habe. Zu Hause solle ich sie anlegen, sooft sie Hunger habe – auch nachts. In deutschen Baby-Broschüren war damals zu lesen gewesen, man solle Babys fünfmal füttern, mit einer Nachtpause von acht Stunden. Auf meine Frage, was ich denn tun solle, wenn mein Kind durchschlafe, meinte er augenzwinkernd: »Wenn Ihr Baby wirklich durchschläft, dann lassen Sie es ruhig schlafen.« Sein Verhalten ließ mich jedoch vermuten, dass dies wohl nur selten vorkommen dürfte.
Binnen kurzer Zeit fühlte ich mich sehr sicher im Umgang mit meinem Kind. Anya wurde nachts mehrmals wach, aber darauf war ich ja vorbereitet, und so störte es mich nicht im Geringsten. Meistens erwachte ich schon einige Minuten vor ihr. Rückblickend kann ich nicht einmal mehr sagen, in welchen Abständen Anya in den ersten Wochen hungrig war. Dank der gelassenen und zuversichtlichen Worte meines Kinderarztes hatte ich mir keinerlei Gedanken über einen Zeitplan gemacht.
Anya war ein äußerst zufriedenes und fröhliches Baby. Abgesehen davon, dass ich einmal ein paar Tage lang zu viel Milch hatte (doch ein Anruf bei der La Leche Liga half mir weiter), waren wir bald wunderbar aufeinander eingestellt, und ein Kind zu haben empfand ich in diesen ersten Monaten als reines, ungetrübtes Glück.
Als Anya neun Monate alt war, zogen wir nach Deutschland. Im Gespräch mit Bekannten und Freundinnen stellte ich fest, dass mein positives Geburtserlebnis und meine unproblematische Stillzeit keine Selbstverständlichkeit gewesen waren. Die meisten Frauen, mit denen ich damals Anfang der 70er-Jahre sprach, hatten zutiefst unangenehme Erfahrungen gemacht. Vor allem das Stillen war in den meisten Fällen so unergiebig und enttäuschend gewesen, dass junge Mütter schwangeren Freundinnen sogar abraten wollten, es überhaupt zu versuchen. Das, was ich hörte, machte mich betroffen und nachdenklich. Wie konnte das Stillen, ein natürlicher Vorgang, zu einem solchen Problem werden? Diese Frage packte mich.
Bei meiner Suche nach Literatur über das Thema Stillen fand ich fast ausschließlich englischsprachige Veröffentlichungen; im deutschen Sprachraum war darüber so gut wie nicht geforscht und geschrieben worden. Ich entwickelte einen kleinen Fragebogen und begann, Mütter über ihre Erfahrungen zu interviewen. Darüber hinaus unterhielt ich mich mit Gynäkologen, Kinderärzten, Hebammen, Kinderschwestern und Mütterberatungsstellen. Dabei wurde mir zunehmend klar, dass allgemein ein erschreckender Informationsmangel über die natürlichen Vorgänge beim Stillen bestand und die bestehenden Praktiken den natürlichen Prozessen zutiefst entgegenwirkten. Die Auswirkungen dieser Verhältnisse bekam ich dann am eigenen Leibe zu spüren, als 1975 unser Sohn Kerry geboren wurde. Ich erhielt so viele widersprüchliche Informationen und wurde derart verunsichert, dass ich nur dank meiner eigenen festen Überzeugung und meiner guten Erfahrungen mit Anya trotzdem stillen konnte. Bei der Erinnerung an meine Stillzeiten wird mir jetzt noch warm ums Herz.
Eigene bereichernde Erfahrungen lassen immer wieder in mir den Wunsch wachsen, sie mit anderen Menschen zu teilen. Daraus entsprang mein jahrelanges intensives Engagement um die Themen Geburt und Lebensanfang. Ich fühlte mich aufgerufen, zur Entstehung bestmöglicher Startbedingungen für neue Menschenkinder beizutragen. So entstand dieses Buch.
Wie es einmal war und was sich ändern muss
Wenige Bereiche menschlichen Lebens werden von Modeerscheinungen und medizinischen Ideologien so sehr strapaziert wie Schwangerschaft, Geburt und Stillen. Früher stillte eine Mutter ihr Kind, weil es das Natürliche war. Außerdem gab es keinen geeigneten Nahrungsersatz für Säuglinge. Wenn sie zu viel Milch hatte, stillte sie oft noch ein anderes Baby mit oder pumpte ab und brachte die Milch zu einer Sammelstelle. Muttermilch war ein kostbares Gut.
Als vor über 50 Jahren die adaptierten Babynahrungen auf den Markt kamen, herrschte allgemeine Begeisterung: Endlich konnte man wiegen, messen und einteilen, was jedes Kind wann und in welcher Menge zu trinken hat. Jetzt war es plötzlich fortschrittlicher, »exakt nach Plan mit der Flasche« zu füttern als »nach Gefühl mit der Brust«. Spätes erstmaliges Anlegen, strenge Fütterungszeiten im Vier-Stunden-Rhythmus, lange Nachtpausen, Zeitknappheit und Stress beim Stillen, Vorfüttern oder Wiegen und Zufüttern laut einer an dem Bedarf künstlich ernährter Flaschenbabys orientierten Tabelle verunsicherten Frauen so sehr, dass sie kaum mehr voll stillen konnten. Auch der routinemäßige Einsatz von Medikamenten unter der Geburt trug dazu bei, dass das Entstehen der Mutter-Kind-Beziehung, das Bonding (siehe Kapitel 6), behindert wurde – mit negativen Auswirkungen auf das Stillen.
Die Hersteller von industrieller Babynahrung tragen keine geringe Schuld an dieser Flascheneuphorie. Aus kommerziellen Gründen gingen sie sogar so weit zu behaupten, ihre Milch sei der Muttermilch gleichwertig.
Ihre Werbungen untergruben auf subtile und weniger subtile Weise das Vertrauen der jungen Mütter in ihre Stillfähigkeit. Auch in der Dritten Welt begann die Industrie, ihre Präparate anzupreisen und abzusetzen – mit verheerenden Folgen: Säuglinge (zum Beispiel in Afrika), die bis dahin durch das Stillen in den ersten Lebensjahren vor Infektionen und Unterernährung relativ geschützt waren, erhielten nun keine Muttermilch mehr und starben unter den dortigen hygienischen Verhältnissen zu Tausenden an keimverseuchter, falsch zubereiteter Flaschennahrung, oder sie litten an Fehlernährung, da die künstliche Nahrung, um Geld zu sparen, mit Wasser verlängert wurde.
Obwohl sich vieles verändert hat, sind gewisse Praktiken, Vorurteile, Ängste und Ammenmärchen aus einer stillfeindlichen Zeit mancherorts leider immer noch lebendig. Frauen würden vermutlich noch überzeugter oder länger stillen, wenn sie über die unglaublichen gesundheitlichen Vorteile des Stillens umfassend informiert wären.
Junge Mütter brauchen Aufklärung, um eine qualifizierte Wahl treffen zu können – und sie brauchen Ermutigung und Unterstützung. Durch weise Anleitung von Frau zu Frau gewinnen sie Sicherheit sowie Vertrauen in ihre mütterliche Intuition und weibliche Kraft. Diejenigen, die Mütter durch Schwangerschaft und Geburt begleiten, können dabei helfen, deren Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl zu stärken – und leisten damit einen Beitrag von höchstem gesellschaftlichen Nutzen. Erhalten Frauen jedoch nicht den Beistand, den sie brauchen, kann der Beginn der Stillbeziehung sehr erschwert werden, wie das folgende Beispiel zeigt:
»Salina war mein erstes Kind. Keine meiner Schwestern hatte gestillt, und ich war total unerfahren und hätte Unterstützung gebraucht. Die meisten Säuglingsschwestern waren nett und wollten helfen. Sie brachten Salina, wann immer ich dies wollte. Doch keine hatte eigentlich wirklich Ahnung vom Stillen. Ein Problem war, dass so viele Personen sich um mich und mein Kind kümmerten und mir ganz und gar widersprüchliche Ratschläge gaben.
Eine Hebamme bemühte sich einmal ganz intensiv und versicherte mir, dass sie mich weiter unterstützen würde, aber sie kam nie wieder. Eine Kinderschwester sagte mir: ›Also, wenn ihr denkt, ihr tut euren Kindern etwas Gutes mit der Stillerei – das ist nichts Gutes, wenn die hungern müssen.‹ Ich versuchte ganz kleinlaut meine Entscheidung zu entschuldigen, ausschließlich zu stillen. Die Nachtschwester fütterte unsere Salina, ohne mich zu fragen. Sie sagte: ›Das Kind muss ja etwas essen, sonst trocknet es aus. Und für Sie ist es sowieso besser, wenn Sie Ihren Schlaf kriegen.‹ Vieles ist schiefgelaufen. Als die Milch einschoss und meine Brust hart wurde, sagte mir jede etwas anderes. Weil die Milch nicht von selbst floss, musste ich an die geräuschvoll arbeitende Milchpumpe. Ich saß mindestens jeweils eine halbe Stunde auf einem unbequemen Stuhl ohne Armstützen und ohne wirkliche Stütze im...