Jenseits der Extreme
Es scheint, dass wir Menschen des Abendlandes nur schwer einen mittleren Weg finden zwischen den Extremen Rationalismus und Irrationalismus. Doch werden wir Systeme anderer Kulturen nur dann in der Fülle ihrer Möglichkeiten integrieren können, wenn wir lernen, die Gewohnheitsmuster unseres Denkens zu durchbrechen.
Qi Gong hat das Potenzial, eine Revolution in der westlichen Auffassung von »Lebensenergie« und im Umgang mit ihr einzuleiten. In unserer abendländischen Vergangenheit wurden zwar immer wieder Vermutungen über eine aller Existenz zugrunde liegende Ur-Energie angestellt, aber auf der praktischen Ebene blieb es bei Zufallstreffern. Mesmers Theorie vom »animalischen Magnetismus« und Reichs »Orgon«-Theorie beruhen ohne Zweifel auf bestimmten Erfahrungen mit jener »Energie«, die in der chinesischen Tradition als Qi bezeichnet wird. Doch im Gegensatz zu den westlichen Ansätzen basiert die chinesische Energiearbeit auf einem über Jahrtausende gewachsenen, von vielen Generationen erprobten und systematisierten Wissen um die Funktionsweise der vitalen Kräfte.
Die authentische Überlieferung dieses Wissens hat durch den Zerfall des chinesischen Reiches und die kommunistische Herrschaft sehr gelitten. Zwar entstand ein Untergrund, in dem die verbotene klassische Medizin und die »Innere Kunst« weitergegeben wurden, und die Meister der alten Heil- und Selbstheilungstraditionen scharten weiterhin Schüler um sich und lehrten im Geheimen. Doch diese Schüler waren Kinder einer neuen Zeit und eines neuen Denkens, infiziert von einem materialistischen Weltbild, das sie bewusst wohl ablehnen mochten, dessen spezieller Bewusstseinsmodus aber dennoch seine Spuren in ihnen hinterließ.
Nur so ist es zu erklären, dass selbst moderne chinesische Qi-Gong-Meister, die innerhalb der chinesischen Tradition ausgebildet worden sind, ihre Kunst im Westen als simple »Technik« präsentieren, ohne den komplexen geistigen Hintergrund mitzuliefern, der den tatsächlichen Gehalt des Qi Gong erst zugänglich macht. Daraus entstehen zwei Gefahren: Wer Qi Gong so »technisch« auffasst, wird möglicherweise nach einiger Zeit das Interesse daran verlieren; denn ohne die Inspiration eines größeren geistigen Kontextes wird die Bereitschaft zur nötigen Disziplin und Kontinuität abnehmen, sobald der Reiz der Neuheit verflogen ist. Oder der Qi-Gong-Adept versucht, diese Lücke durch hausgemachte esoterische Theorien zu füllen; so dies geschieht, kann jede kontemplative Praxis zur Gefahr für die geistige Gesundheit werden.
Qi Gong vereinigt in sich mehrere Wirkungsebenen – von der groben körperlichen bis zur subtilsten geistigen Ebene –, die man nur mit Vorbehalten voneinander getrennt betrachten kann. Wir westlichen Menschen mit unseren vorwiegend linearen, kategorisierenden und abstrahierenden Denkgewohnheiten haben eine besonders ausgeprägte Neigung, Standpunkte zu fixieren und zu ideologisieren und damit die natürliche Fülle der Phänomene auf dürre Begriffe zu reduzieren. Um Qi Gong in der richtigen Weise praktizieren zu können, sollten wir deshalb unsere Geisteshaltung untersuchen und sie sozusagen »neu einstellen«. Denn unsere eigene geistige Orientierung bestimmt das Ergebnis unserer Qi-Gong-Praxis.
Schon in klassischen chinesischen Texten finden sich Hinweise auf die zentrale Bedeutung der angemessenen Orientierung, und der Streit, welche nun die letztlich richtige sei, hat Tradition. So schrieb zum Beispiel der Taoist Liu I-ming 1808 in seinen Erläuterungen zu dem alchimistischen Werk Das Geheimnis des Goldenen Elixiers mit der Leidenschaft des Puristen:
Die Menschen der späteren Zeitalter ergründeten nicht die Bedeutung der alchimistischen Klassiker, sondern klebten nur an den Symbolen: Die Konfuzianer sahen in ihnen nichts als abergläubischen Unsinn, während die Taoisten sie nur oberflächlich verstanden. In extremen Fällen versteiften sich die Menschen nur auf die Symbole, erfanden aufs Geratewohl alle möglichen Praktiken und verirrten sich so in Sackgassen und auf Irrwege. So fügten sich unzählige Menschen selbst geistigen und körperlichen Schaden zu.[5]
Das Fixieren von Standpunkten ist also nicht nur eine abendländische Untugend; wir finden sie auch in der Geschichte der Inneren Kunst des Qi Gong. Als »Seitentore« bezeichneten die Puristen unter den Taoisten die »Innere Alchimie«, deren wichtigster praktischer Bestandteil die Energiearbeit war, und die Ablehnung dieser Methoden und die einseitige Hervorhebung der reinen Meditation hat in bestimmten Richtungen des Taoismus eine zweitausendjährige Tradition. Thomas Cleary schreibt in seiner Einleitung zum Geheimnis des Goldenen Elixiers:
Die Kritik in Liu I-mings Werk, nämlich das Ablehnen der »Seitentore«, stellt die radikalste Form der für die Schule der Vollkommenen Wirklichkeit typischen Unterscheidungen zwischen der Quintessenz des Taoismus und den unwichtigeren psychischen und psychosomatischen Techniken dar … In der südlichen Richtung der Schule der Vollkommenen Wirklichkeit, die von Zhang Boduan [Chang Po-tuan] gegründet wurde, wird größerer Wert auf die Energiearbeit gelegt als in der strengeren nördlichen Richtung, der Liu I-ming angehörte. Dieser Unterschied erklärt sich aus dem höheren Alter vieler Eingeweihter der Südlichen Schule, wie zum Beispiel von Zhang Boduan selbst, der erst in seinen Achtzigern das Tao erlangte. Energiearbeit dient dazu, den Körper zu verjüngen und das spirituelle Streben zu unterstützen und ist verständlicherweise bei älteren Menschen wichtiger als bei jungen. Jedenfalls heißt es, dass diese Übungen die gefährlichsten seien, und da man sie nur unter fachkundiger Anleitung ausführen darf, werden sie oft im Stillen von jenen praktiziert, die sie öffentlich zurückweisen.[6]
Die Kunst des Qi Gong ist für uns etwas ganz Neues und noch unbelastet von eingenisteten Fehlinterpretationen. Damit ist der Raum noch offen, in dem sie sich entfalten kann. Wir haben den Vorteil, in einer Epoche zu leben, in der Wissen und Weisheit alter Kulturen aus traditionellen Verkrustungen herausgelöst und in einer neuen, frischen Weise verstanden und nutzbar gemacht werden können. Die Vielfalt der Informationen, die uns heute vermittelt werden, ermöglicht uns einen nie da gewesenen Überblick über die Resultate menschlichen Erkenntnisstrebens. Wir haben das Gefühl, aus einem ungeheuer großen Angebot frei auswählen und uns für das »Beste« entscheiden zu können. Dieses Gefühl kann sich jedoch auch steigern zum Eindruck, von einer Fülle fremdartiger Angebote überschwemmt zu werden. Das kann eine Abwehrhaltung hervorrufen, die dem schon Bekannten die größere Vertrauenswürdigkeit und damit die höhere Qualität zuspricht; diese Haltung ist nicht weniger extrem als die blinde Begeisterung für exotische Neuheiten. Um also einen möglichst unbeeinträchtigten Standpunkt der vorläufigen Beurteilung zu gewinnen, ist es nötig, dass wir uns Klarheit über unsere Art und Weise der Wahrnehmung und des Verständnisses verschaffen.
Es gibt Leute, die auf die Idee, dass es eine alles durchdringende, Leben überhaupt erst ermöglichende Energie oder Substanz wie Qi geben könnte, verachtungsvoll herabschauen, weil sie »wissenschaftlich nicht beweisbar« sei. Und es gibt andere, die mit missionarischem Eifer für die Anerkennung dieser Idee kämpfen, als hinge ihr Leben davon ab, die Bestätigung anderer für ihre Meinung zu erzwingen.
Für das Bewusstsein der Anhänger des materialistisch-mechanistischen Weltbildes gilt, was Frank E. Manuel über den Erfinder dieses Weltbildes, Isaac Newton, schreibt:
Eine der wichtigsten Quellen für Newtons Drang nach Wissen war seine Furcht und Angst vor dem Unbekannten. Wissen, das in mathematische Formeln gebracht werden konnte, vermochte seiner quälenden Unsicherheit und Ungewissheit ein Ende zu bereiten … Die Welt in solch absolutistischer Art und Weise zu strukturieren, dass jegliches Ereignis, das heißt sowohl das nächstliegende als auch das entfernteste, fein säuberlich in das erdachte System passt, ist als Zeichen von Krankheit bezeichnet worden, vor allem, wenn sich andere weigern, sich diesem zwanghaften System anzuschließen. Es war Newtons Glück, dass die Gesellschaft Europas einen großen Teil seines gesamten Systems als ein perfektes Abbild der Wirklichkeit akzeptierte, so dass sich sein Name aufs engste mit seinem Zeitalter verband.[7]
Wer andererseits den Standpunkt des Alles-ist-Möglich vertritt und der Irrationalität huldigt, ist damit nicht gleich ein Vorkämpfer für ein neues Bewusstsein. Beide Positionen sollten wir bei der Annäherung an das Qi Gong vermeiden. Im Qi Gong wird mit Imagination, Vorstellung und willentlicher Steuerung einer unsichtbaren »Energie« – oder wie auch immer wir das Qi mit unseren Begriffen einzukreisen versuchen – gearbeitet. Dennoch haben wir es mit einem System zu tun, in dem keine Willkürlichkeit herrscht. Damit richtig umzugehen, verlangt ein angemessenes Verständnis; es ist eines der Anliegen dieses Buches, denjenigen Ansatz deutlich zu machen, der uns hilft, alte und neue Fehler zu vermeiden.
In Gesprächen mit chinesischen Vertretern des Qi Gong fiel mir auf, dass sie immer wieder betonten, wie wichtig es sei, dass Qi Gong wissenschaftliche Anerkennung finde, und häufig die Ergebnisse der chinesischen Qi-Forschung zitierten, in der Annahme, die Menschen des Westens seien ebenso wie die des kommunistischen China noch zutiefst mit der Weltanschauung des 19. Jahrhunderts identifiziert. Doch scheint mir dies nicht so vordringlich das Problem der heutigen westlichen...