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E-Book

Das Surfbrett

oder Die Kunst mit den Händen zu denken

AutorDan Kieran
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783641235048
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Dan Kieran ist Bestsellerautor und Geschäftsführer eines innovativen, preisgekrönten Buchverlags. Kurz bevor er auch noch zum dritten Mal Vater wird, stürzt er in die Sinnkrise. Er fühlt sich überfordert und den großen Herausforderungen nicht gewachsen. Also will er sich beweisen, wozu er fähig ist, ganz real, mit seinen eigenen Händen. Er fährt ans Meer und baut ein Surfbrett, ohne jede Vorkenntnis. Er schaltet sein Mobiltelefon aus, baut sich ein kleines Ein-Mann-Zelt am Strand auf und beginnt mit der Arbeit. Und findet am Ende zu sich selbst.

Dan Kieran, geboren 1975, ist ein englischer Schriftsteller und seit 2011 Verleger von Unbound, einem preisgekrönten britischen Crowdfunding-Buchverlag. Zehn Jahre lang war er zusammen mit Tom Hodgkinson Herausgeber des Idler, einer monatlichen Zeitschrift für den Müßiggänger. Dazu schrieb er für den Guardian, die Times, den Telegraph und Die Zeit. Seiner Flugangst ist es zu verdanken, dass er neue Wege des Reisens erkundete. Heraus kam der Bestseller Slow Travel.

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Leseprobe

PROLOG

Die Dämmerung brach am Ende eines langen, wortkargen Tages über uns herein. Ich hatte mich ganz in mich selbst zurückgezogen, während wir London Meile um Meile hinter uns ließen. Sieben Stunden Zeit, um über die Woche nachzudenken, die vor mir lag. Das Auto und ich hatten ein gemeinsames Ziel. Es drängte uns beide in dieselbe Richtung, während wir leise vor uns hinsummten.

James wohnte in Cornwall an der Nordküste. Ich hatte aus der Erinnerung eine Landkarte gezeichnet, nach dem, was ich während unseres Gesprächs in Wales aufgeschnappt hatte, an jenem Abend, wo der Gin in Strömen geflossen war und die Begeisterung angeheizt hatte. »Ich wohne dort, weil die Landschaft zu mir gesprochen hat, gleich beim ersten Mal, als ich dort hinkam. Und übrigens: Diese Idee, von der du gesprochen hast, die ist absolut real.«

Wir hatten uns während der »Do Lectures« in einer ruhigen Ecke der Cardigan Bay kennengelernt. Dort hatten sich an einem Wochenende Leute zusammengefunden, die der Ansicht waren, an einem Wendepunkt in ihrem Leben angekommen zu sein. Wir redeten und beteiligten uns an Workshops. Während der Veranstaltung wurde ich aufgefordert, von einer Idee zu sprechen, die mich »so richtig gepackt« hätte. Meine Antwort bereitete den Weg für das Geschäftsfeld, in dem ich noch immer tätig bin. Als ich fertig war mit meinem Vortrag, standen wir beide hintereinander in der Schlange zur abendlichen Essensausgabe und saßen uns anschließend bei Tisch gegenüber. Wir redeten offen und ehrlich miteinander, wie es Fremde nur selten tun. Er erzählte mir von den Workshops, die er an einem abgelegenen Ort an der zerklüfteten Küste von Cornwall abhielt, und irgendwie kam er mir vor wie ein westlicher Guru. Ein weiser Mann, der nicht im fernen Asien, sondern hier in meinem eigenen Land lebte. Einer, der aus dem gleichen Brunnen schöpfte wie ich.

Nun war es fast auf den Tag genau ein Jahr später. Mitte Juni. Der Regen fiel so dicht, dass die Scheibenwischer kaum hinterherkamen. Ich fuhr mit zusammengekniffenen Augen am großen, noch sehr ursprünglichen New Forest entlang, während die A27 sich allmählich in einen Flusslauf verwandelte. Das Wasser, das auf meine Windschutzscheibe prasselte, brach das Licht der vor mir aufleuchtenden Bremsleuchten in ein flackerndes Kaleidoskop. Der Regenguss wurde so heftig, dass die umliegenden Wälder, die William der Eroberer vor tausend Jahren zu seinen Jagdgründen erklärt hatte, aus dem Blickfeld verschwanden. Immer weniger Autos waren unterwegs, je weiter ich nach Westen kam. Der Regen hatte seinen Vorteil. Ich fühlte mich geborgen in meinem Wagen. Es war irgendwie gemütlich.

Das Hinweisschild für West Compton tauchte auf, ich sah einen Bekannten, dem ich zuwinkte, weil mir die Zeit zum Anhalten fehlte. Und weiter ging’s durch Long Bredy, wo die Landschaft sich bis zum Meer hin erstreckt. Vor vielen Jahren hatte ich mal in Long Bredy und Littlebredy Station gemacht und erst ziemlich spät bemerkt, dass sich in der Kirche, vor der wir damals parkten, ganz viele Grabsteine mit Namen meiner Vorfahren befanden. In diesem Moment hatte ich die Verbindung zwischen mir und dieser Gegend deutlich gespürt. Und ich hatte den Eindruck, das Land würde mir etwas zuraunen. Aber jetzt zuckelte ich erst mal einen steilen Hügel hinauf. Oben angekommen, schaltete ich einen Gang zurück, und schon ging’s wieder bergab.

Es war der Tag nach meinem einundvierzigsten Geburtstag. Ich hatte mich so langsam damit abgefunden, wer ich geworden war, und dass ich nicht im Entferntesten dem ähnelte, der ich gern geworden wäre. Zum ersten Mal in meinem Leben schaute ich zurück. Die vergangenen zehn Jahre waren von ständigen Veränderungen geprägt gewesen. Nach der Finanzkrise 2008 hatte ich schlagartig meine Lebensgrundlage als Autor verloren und musste, da ich keinen Universitätsabschluss hatte, wieder im Niedriglohnsektor arbeiten. Einer davon bestand darin, den rattenverseuchten Keller einer Wirtschaftsprüfungsfirma in Bognor Regis auszumisten. Und dort war mir während der Mittagspause die Idee für das Projekt gekommen, das in den nächsten acht Jahren zu einem millionenschweren, global agierenden Verlag angewachsen war. Darüber war meine Ehe in die Brüche gegangen, und ich war von meinen Kindern getrennt worden. Mittlerweile hatte ich eine neue Beziehung, und ein weiteres Baby war auf dem Weg. Ich schaute mich im Rückspiegel an. Wie war das alles bloß passiert? Wie war ich zu der Person geworden, die ich jetzt war?

Beim Weiterfahren kam mir immer deutlicher ins Bewusstsein, dass ich dringend Abstand von allem brauchte. Ich schaffte es ja kaum, alles zu erledigen, was von mir verlangt wurde. Ein guter Vater, Verlobter, Freund, Firmenchef, Arbeitgeber und Kollege zu sein. Und ein guter Ex-Mann, falls so etwas möglich ist. Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen vielen Ansprüchen noch genügte. Es hatte Zeiten in meinem Leben gegeben, wo ich unter Druck gestanden hatte; aber der hatte jedes Mal wieder nachgelassen. Jetzt hatte ich den Eindruck, es würde niemals aufhören.

Ich starrte auf das Asphaltband, das unter mir wegspulte, und grübelte darüber nach, was ich alles hätte tun können und wer ich hätte sein können. Wie bei jedem, der versucht, ein geregeltes Leben zu führen, war auch bei mir vieles in die Binsen gegangen. Dennoch wuchs tief in mir drin das Bewusstsein, dass ich nicht so falsch lag. Nur weil ich triste Phasen durchlebte und falsche Entscheidungen getroffen hatte, bedeutete das ja nicht, dass ich auf dem falschen Dampfer war. Jede Episode hatte sich auf dem Weg ereignet, den ich eingeschlagen hatte, um einen neuen Blick auf jenen Menschen zu werfen, zu dem ich mich entwickeln sollte.

Trotzdem war ich an einem schwierigen Punkt angelangt. Ich spürte einen Drang, Bücher in die Hand zu nehmen, die man liest, um herauszufinden, ob das Leben einen Sinn hat. Verzweifelt las ich sie durch, verschlang sie in Pendlerzügen inmitten der anderen Verzweifelten, und merkte schon bald, dass alle die gleiche, unrealistische Philosophie vertraten.

Du musst dich von den Nöten des Alltagslebens lösen. Du musst dich auf eine Reise in dein innerstes Selbst begeben. Durch Meditation. Oder Fasten. Hör auf zu arbeiten. Aber ich hatte Verpflichtungen, ich konnte mich nicht einfach davonstehlen. Diese Bücher zu lesen, nachdem ich eine Familie gegründet und langfristige finanzielle Verpflichtungen eingegangen war, machte mir erst recht Angst. Ich fragte mich, ob die Tatsache, dass ich im mittleren Alter war, einen tollen Job hatte und von Menschen umgeben war, die ich liebte, womöglich bedeutete, keine Chance mehr zu haben, über die wirklich wichtigen Dinge nachzudenken. Die Arbeit hing mir wie ein Mühlstein am Hals. Vor mir lag eine Phase, die mich bis an die Grenzen meiner Belastbarkeit bringen würde, mit mehr Stress, als mir lieb war. Ich hatte Angst, ich könnte zusammenbrechen.

Nach ein paar Stunden wies ein Schild mich darauf hin, dass ich Cornwall erreicht hatte. Ich kam durch Exeter, aber bis zur Nordküste war es noch ein ganzes Stück. Im Juni dauert es eine Weile, bis die Dunkelheit hereinbricht, als könnte die Nacht sich nicht entscheiden, endlich loszulegen. Einige grüblerische Stunden später führte die Straße lange Zeit steil nach oben, wurde praktisch zu meinem Horizont und verwandelte sich in eine Wolke, bevor sie schließlich durch das unsichtbare Land hinab zum Meer führte. Ich erreichte einen trostlos wirkenden Strand. Nur ein paar einsame Möwen glitten über die endlose Sandfläche. Graue Häuser, vor denen man am liebsten davonlaufen wollte, duckten sich unter den Klippen, daneben standen leere Hütten mit Glasvorbauten, die den Urlaubern im Sommer ein bisschen Sonne bescheren sollten. Ich musste die Autotür mit dem Fuß aufdrücken, weil der Wind so stark wehte. Die Brandung toste. Die Gischt zischte.

Ich schaute mir die Zeichnung der Landschaft an, die zu ihm gesprochen hatte. Ich hatte sie nach seiner Beschreibung in mein Notizbuch gemalt. Dann ging ich zu Fuß in östlicher Richtung den Berg hinauf, bis ich davon überzeugt war, dass die Beschreibung – wenn auch aus anderer Perspektive – sich mit dem deckte, was ich vor mir sah. Ich war außer Atem und musste mich bücken, um Luft zu holen und Kräfte zu sammeln, und fühlte mich gut dabei. Ich war am richtigen Ort. Ich streckte mich wieder. Auf dem Bergkamm war ein schmaler Pfad zu sehen, der durch etwas hindurchführte, was mir grün vorkam. Er wurde zu einer Straße, die sachte in nördlicher Richtung zum Meer hinunterführte. Das Haus von James war irgendwo da vorn, und das hier war die Aussicht, von der er mir erzählt hatte. Dieser Blick hier war es, der ihn und mich miteinander verband. Am Ende der Straße befanden sich ein Parkplatz, eine kleine Hütte und ein Parkautomat. Ich schaute von Westen her dorthin. Straße und Bergklippen erstreckten sich nach unten bis ans Ufer. Wenn man sich weit genug vorwagte, konnte man über den Abgrund hinweg den Strand sehen. Die Wellen, die sich im flachen Wasser kräuselten, ließen die Oberfläche wie einen von Nähten durchzogenen Stoff wirken. Geografie, Kraft und Traum verbanden sich miteinander. Das konnte sogar ein Nicht-Surfer wie ich erkennen.

Eine Stunde später hatte ich einen Campingplatz gefunden und kroch in mein Expeditionszelt mit Doppelbett, Daunendecke, Esstisch, Teppich und einer Truhe mit Töpfen, Gläsern, Bechern und Kerzen, denn es gab hier ja keinen Strom. Mein Smartphone hatte ich absichtlich zu Hause gelassen. Ich schrieb einige Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, in mein Notizbuch, bis aufziehende Wolken das Tageslicht löschten, und schaute in die züngelnden Flammen, während ich mir das Meer vorstellte. Der auf die Kohlenpfanne gestellte Wasserkessel zischte, und kurz...

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