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Die verborgene Tradition des Sonnenyoga
Im Folgenden werden einige der wesentlichen Pioniere des Sonnenyoga vorgestellt. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie die Menschen immer ermutigt haben, Heilung und spirituelles Erwachen mithilfe der Sonnenkraft zu finden. Weiterhin ist ihnen gemeinsam, dass ihre Lehren zutiefst integraler Natur sind, sie umfassen Transzendenz und einen harmonischen Umgang mit dem menschlichen Leben gleichermaßen. Diesem starken Bedürfnis nach einer Integration spirituellen Erwachens in das alltägliche Leben, das besonders Menschen im westlichen Kulturkreis haben, kommt der Sonnenyoga aufgrund seiner Wirkung besonders entgegen.
Mahavir
Mahavir ist der gebräuchliche Ehrenname für den großen Wiederbeleber des Jainismus, von dem angenommen wird, dass er ein Zeitgenosse des Buddha war. Er wurde vermutlich 599 v. Chr. als Vardhamana geboren und erhielt später den Namen Mahavir, was „großer Held“ bedeutet. Für die Jainas gilt er nicht, wie es manchmal dargestellt wird, als Gründer ihrer Religion, vielmehr wird er als der letzte einer Reihe von 24 vollkommenen Meistern, den Tirthankaras, die alle karmischen Bindungen aufgelöst und Allwissenheit erreicht hatten, angesehen.
Bemerkenswert sind die vielen Parallelen zum Leben des Buddha, denn wie dieser wuchs Mahavir als Prinz auf und verließ im Alter von dreißig Jahren das höfische Leben, um in der freien Natur ohne Besitz zu leben und die Wahrheit des Seins in Meditation zu suchen. Zwölf Jahre lang lebte Mahavir in der Natur, wo er sich der Kontemplation tiefgründiger innerer Fragen und der Meditation allgemein widmete; in dieser Zeit erfuhr er auch die wundersame Kraft der Sonne. Das Schauen in die Sonne ermöglichte es ihm, lange Zeit ohne Nahrung zu leben und sich einen kraftvollen, gesunden Körper zu erhalten. Statuen Mahavirs wirken zumeist androgyn, was die Ausgewogenheit der männlichen und weiblichen Energien symbolisieren soll, die den Tirthankaras nachgesagt wird. In Mahavirs eigenem Leben findet sich mit der Anwendung der Sonnenkraft bereits ein interessanter Hinweis auf ein scheinbares Paradox der Lehren des Jainismus, die er später verbreitete. Der Jainismus wird oftmals als besonders asketisch oder weltabgewandt dargestellt. In der Tat geht es in der Jaina-Lehre darum, dass in jedem Lebewesen die reine Seele („Shuddhatma“, zusammengesetzt aus shuddha = rein und atma = Seele oder Selbst) existiert, die durch die Verbindung mit einem Körper und seinen Gedanken, Emotionen etc. ihre eigene Natur nicht erkennen kann. So besteht der Prozess der geistigen Befreiung im Jainismus aus einer im Inneren realisierten Trennung der reinen Seele vom Nicht-Geistigen, wozu übrigens auch alle feinstofflichen Dimensionen gehören. Alle Verhaftung der Seele an Materie wird als karmische Bindung angesehen, die es zu lösen gilt. Das klingt in der Tat zunächst wie eine Lehre, die ausschließlich zur Transzendenz ermuntert und das irdische Leben gering schätzt. Dies ist in der Praxis aber zumeist nicht der Fall. Mahavir wurde in seiner Jugend umfassend in Kampf- und Kriegskunst geschult und war später als geistiger Lehrer ein so machtvoller Verkünder der Gewaltlosigkeit, dass Mahatma Gandhi ihn 2500 Jahre später zum Vorbild für seinen gewaltlosen Widerstand gegen die britische Herrschaft nahm. Die Botschaft der Gewaltlosigkeit hat bei den Jainas so tiefe Wirkung hinterlassen, dass die Briten am Ende ihrer Jahrhunderte währenden Herrschaft in Indien konstatierten, es sei kein einziger Anhänger des Jainismus jemals des Mordes beschuldigt worden. All dies ging zurück auf die Lehre eines Ksatryias, also eines in die Krieger- und Herrscherkaste geborenen Mannes. Gegensätze zu vereinen ist ein wesentliches Merkmal geistiger Reife und Mahavir war ein leuchtendes Beispiel für dieses Prinzip. Obwohl der Jainismus so klar die geistige Befreiung von begrenzender Verhaftung an Körper und irdische Welt lehrt, legt er großen Wert auf einen gesunden, kraftvollen Körper und einen ausgesprochen achtsamen und rücksichtsvollen Umgang mit der Erde. In ökologischer Hinsicht war der Jainismus schon immer vorbildlich. Die Jainas zeichnen sich auch bis heute dadurch aus, dass sie allen Menschen medizinische Versorgung zukommen lassen, auch den kastenlosen, die oftmals durch das soziale Netz Indiens fallen. Tiere werden von den Jainas liebevoll versorgt und gepflegt, wie zum Beispiel in dem rein durch ehrenamtliche Tätigkeit ermöglichten Vogelkrankenhaus in Delhi. Ein gütiger Umgang mit dem Leben auch auf einer ganz und gar körperlichen Ebene ist charakteristisch für die Jainas.
Ich erwähne dieses scheinbare Paradox der Lehren des Jainismus, weil es auf einen wichtigen Aspekt integraler Spiritualität hinweist, den wir im Sonnenyoga wiederfinden. Da Mahavir ein Praktizierender des Sonnenyoga war, ist es nicht verwunderlich, dass wir auf dieses Thema sowohl in seinen Lehren wie auch im Sonnenyoga allgemein stoßen. Zum einen weist wahre Spiritualität den Menschen darauf hin, dass seine Existenz als Körper und Persönlichkeit eine zeitweilige Erscheinung ist, die im Sein, das jenseits aller Veränderung verbleibt, entsteht und vergeht. Manchmal können solche Lehren dann zu einer Geringschätzung und Vernachlässigung der begrenzten Aspekte des menschlichen Lebens führen. Eine solche Haltung mag unter bestimmten kulturellen Umständen ohne dramatische Folgen bleiben, funktioniert aber für die Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt nicht, weshalb ja dort ein großes Interesse an integraler Spiritualität zu beobachten ist. Transzendenz und irdische Belange sollten gleichermaßen zu ihrem Recht kommen, und diese Haltung findet man bei den meisten Menschen vor, die sich in unserem Kulturkreis für Spiritualität interessieren. Menschen wie Mahavir geben uns interessante Hinweise darauf, wie gerade die Erkenntnis der Vergänglichkeit des irdischen Lebens dazu führt, dass es besonders wertgeschätzt und liebevoll angenommen wird.
Dies ist auch eine Erfahrung, die durch die transformierende Kraft des Sonnenyoga zugänglich wird, gerade weil man seine eigene Identität unabhängig von den Ebenen des Körpers, der Persönlichkeit und der Lebensumstände erlebt, werden diese Bereiche unseres Daseins mit mehr Achtsamkeit und Mitgefühl durchdrungen.
Mahavir selbst hinterließ eine Tradition der Ethik und Religiosität, die sich im Umgang mit dem Leben beweist und die bis zum heutigen Tag lebendig geblieben ist. Doch erstaunlicherweise ist die Praxis des Sonnenyoga weitgehend aus dem Blickfeld des Jainismus verschwunden. Die Jainas der heutigen Zeit gehen davon aus, dass der Zustand der vollständigen seelischen Befreiung eines Mahavir für den modernen Menschen unerreichbar ist. In religiösen Traditionen geschieht es immer wieder, dass die effektivsten Lehren oder Methoden in Vergessenheit geraten und Pioniere wie Mahavir oder Jesus deshalb wie unerreichbare Wesen erscheinen. Doch die lebendigen, ursprünglichen spirituellen Lehren haben den Menschen immer ermutigt, ihr eigenes Potenzial zur inneren Entfaltung zu erkennen. Die großen Lehrer des Jainismus wie Mahavir haben der Menschheit mehr hinterlassen als eine tiefgründige religiöse Ethik. Sonnenyoga war in Mahavirs eigenem Leben von wesentlicher Bedeutung und ist eine zeitlose Möglichkeit, die Freiheit und Vollständigkeit der Seele zu realisieren.
Erst durch die Pionierarbeit von Hira Ratan Manek in den vergangenen Jahrzehnten wurde Mahavirs Sonnenyoga wiederentdeckt und seine Bedeutung im Zusammenhang mit den Jaina-Lehren aufgezeigt.
Hira Ratan Manek
Hira Ratan Manek wird meistens einfach als „HRM“ bezeichnet, er selbst wendet dieses Akronym für seinen Namen auch an, sodass ich es im Folgenden übernehmen werde. HRM wurde 1937 in Bodhavad, Indien, geboren und erfuhr schon in seiner Jugend von der alten Tradition des Sonnenyoga. Zunächst aber studierte er Maschinenbau, und dann widmete er sich den Geschäften seiner Familie, die eine Spedition und einen Gewürzhandel betrieb. 1962 traf er Mira Alfassa (1887–1973), die spirituelle Gefährtin von Sri Aurobindo. Aurobindo war mit der nur auf Erlösung von der Wiedergeburt ausgerichteten Yogaphilosophie nicht einverstanden gewesen und hatte mit Mira Alfassa gemeinsam einen neuen, den Integralen Yoga entwickelt, der die Transformation des Menschen bis in die Zellen des Körpers zum Ziel hat.
HRM bekam in seiner Begegnung mit Mira Alfassa die deutliche Botschaft, den Sonnenyoga wiederzuentdecken und zu verbreiten. Nachdem er 1992 in den Ruhestand gegangen war, erforschte er den Sonnenyoga ausgiebig und erzielte bemerkenswerte Resultate. Er hielt sich dabei vornehmlich an die Erkenntnisse von Mahavir, aber wurde auch durch alte ägyptische und indianische Quellen über die Kraft der Sonne inspiriert.
Die Möglichkeit des Menschen, ohne Nahrung zu leben, wird ja seit vielen Jahren von verschiedenen Autoren propagiert. HRM ist einer der wenigen Menschen, die diese Fähigkeit tatsächlich über längere...