21
Gottes Auge
Sie stand da und schaute,
wie am östlichen Horizont die Sonne aufging.
Und wie sie so stand und versank
in der goldenen Pracht,
begann sie sich zu wundern,
weshalb ausgerechnet Gott,
der doch Allmächtige,
nur ein Auge haben sollte und nicht zwei.
Da ging, mit einem Male
und einem einzigen Wimpernschlag,
das Herz ihr auf und wurde weit.
Und wie nun auch in ihr die Sonne schien,
da erkannte sie Gottes zweites Auge,
verborgen in einer jeden Form,
auf dass das Geschöpf seinen Schöpfer
erkenne und lobpreise.
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In den Wochen nach Bamberg und im Verlauf des voranschreitenden Winters – es war inzwischen Anfang Februar - fühlte Lea sich immer mehr wie eine semipermeable Membran, durch die eine neue, ihr noch unbekannte Kraft zu diffundieren begann, um sich in der Mitte ihres Herzens zu sammeln. Mit „Herz“ war jedoch nicht ihr physisches Herz gemeint, sondern das psychische, welches sich – wie sie von Sri Aurobindo gelernt hatte - in einer höheren Dimension verborgen, in etwa hinter dem Brustbein des Menschen befindet. Lea spürte, wie diese Kraft mit der Zeit dort, an genau dieser Stelle, immer mehr akkumulierte, um etwas zu formen, das Gestalt anzunehmen drängte. Dieser geheimnisvolle Ort wirkte wie ein Magnet: Je mehr der neuen Energie sich dort wie eine Masse ansammelte, umso bewusster wurde sie, und je bewusster Lea wurde, desto stärker wurde die sich sammelnde Kraft. Kein Wunder, denn alles, worauf der Mensch sein Bewusstsein richtet, wächst. Zugleich ging an dieser Stelle, sobald Lea sich darauf konzentrierte, ein solches, manchmal gerade noch erträgliches, dann wieder äußerst schmerzhaftes Drücken und Pressen vonstatten, als ob nicht nur Mutter Erde in den Wehen läge, sondern auch Lea selbst.
Das, was da hinausdrängte in die physische, raumzeitliche Welt, hatte eindeutig eine kristalline Struktur, war vollkommen durchsichtig, durchlässig und klar, wie eine Linse, durch die transzendente Kräfte strahlen. Und der Kosmos fügte sich, ordnete sich neu um dieses winzige, frisch geborene „Es“ herum. Dabei handelte es sich bei diesem Geschehen nicht um ein einmaliges, vielmehr war auch dieses ein Prozess, der, wie Ebbe und Flut, durch Leas Bewusstsein brandete, wobei sie seine Auswirkungen mal mehr, mal weniger deutlich vernahm. Lea spürte jedoch genau, dass sie damit an der Schwelle zu etwas vollkommen Neuem stand, wie an der Grenze zu einer neuen Welt. Manchmal, im Zustand tiefer Meditation, komprimierte sich dieses kristallklare Etwas in ihrer Brust so stark, dass Lea das Gefühl überkam, inmitten eines Diamants zu sitzen, dessen inneres Feuer die Kraft von Tausend Sonnen besaß. Bei all dem war sie unsicher, was da in ihr vor sich ging, konnte das Neue, das Neugeborene noch nicht benennen. Es gab noch keine Worte dafür und im Archiv ihres Unbewussten noch keine Schablone, es zu erkennen. Und so wusste sie nicht: War etwas in ihr „aufgegangen“ oder entfacht: ein inneres Auge, ein Feuer, ein Licht - oder hatte sie womöglich ein Fenster geboren?
Das Empfinden, durch ein sehr klares Fenster in die Welt hinaus zu blicken, häufte sich, wobei es zu höchst interessanten Vorfällen kam. Eines Tages ließ Lea eine Fußpflegerin kommen wegen einer schmerzenden Schwiele und einem Hühnerauge an ihrem rechten Fuß. Während diese ihr dann gegenüber saß, veränderte sich Leas Sicht, und es überwältigte sie wieder das Empfinden, durch eine Öffnung hindurch nach draußen zu schauen. Das, was sich sonst zwischen den Menschen befindet und sie voneinander trennt, ein Schleier, ein Vorhang, manchmal sogar eine dicke Mauer, sie in Subjekt und Objekt spaltet, war verschwunden, Leas Blick frei, ungehindert. Und was sie sah, ließ sie ebenso staunen wie schmunzeln: Die Fußpflegerin, ein wenig älter als sie, recht korpulent und mit wogendem Busen, hatte, genau wie Lea an diesem Tag, ein dunkelblaues T-Shirt mit weißen Streifen an, dazu ebenfalls eine helle Jeans, und sogar ihre Socken waren exakt die gleichen, hellgraue mit winzigen weißen Punkten, die hatte ihr ihre Schwester letztes Jahr zu Ostern geschenkt. Sie selbst, Lea, war bei ihrem Betrachten mal wieder verschwunden, wobei ihre Sicht sie an jene erinnerte, wie wenn man in einen Spiegel schaut – nur dass Lea nicht sich selbst sah, sondern die Fußpflegerin, „die Andere“. Da es aber nur noch diese in ihrer Wahrnehmung gab, musste sie ganz offensichtlich doch auch selbst diese Andere sein; nennt man dies nicht „Identität“?
Und es kam noch verblüffender: Während die Fußpflegerin sich mit Hingabe Leas Füßen widmete, raspelte, schnippelte und sie zum Abschluss ausgiebig salbte, klingelte das Telefon und meldete, da Lea nicht dran ging, kurz danach die Ankunft einer SMS, die Lea, sobald die Fußpflegerin sich verabschiedet hatte, las. Sie war von ihrer Schwester, die sie freudig darüber informierte, dass Leas jüngste Nichte, die seit dem frühen Morgen zur Entbindung im Krankenhaus lag, ihr erstes Kind geboren hatte, einen gesunden Jungen namens Theo. Da staunte Lea nicht schlecht… Sie vermutete zwar, dass diese außerordentliche Koinzidenz – sie selbst in ihrem Innern in Wehen liegend, etwas Neues gebärend, zeitgleich die Nachricht dieser Geburt in der äußeren Realität, die Ankunft eines Kindes, das noch dazu Theo - „Geschenk Gottes“ - hieß, eine Botschaft für sie war, sie wusste nur noch nicht so genau, welche. Lea war zwar bewusst, dass alles, was im Außen geschieht, im Innern seine Entsprechung hat, aber wirklich einordnen konnte sie dieses Ereignis trotzdem noch nicht. Im Hintergrund aber, gewissermaßen aus dem „Off“ heraus, hörte sie, zwischen fernen Flötenklängen, jemanden leise lachen. Die Vorstellung, es gäbe eine von einem Betrachter unabhängige „objektive“ Welt, gab Lea von diesem Tag an für immer auf.
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Freudenräder
Sie schlägt Räder inmitten der Leere,
im freien, leeren Raum,
vorsichtig-ungläubig zunächst,
dann mutiger, mit zögerlichem Vertrauen,
dann ausgelassen und voller Freude,
denn siehe, die Leere: sie trägt!
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Die Wirklichkeit an sich ist chaotisch und ungeformt. Der Mensch aber trägt in seiner Psyche so etwas wie Urbilder oder „Schablonen“ – der große Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung nannte sie „Archetypen“ -, mittels deren er diese „Ursuppe“, die vibrierenden Energien des Universums, in sinnhafte Bilder formen oder einfangen, ihnen somit bedeutungsvolle Gestalt verleihen kann. Die den Menschen bekannten Sternbilder hängen ja auch nicht in genau dieser Konstellation am Himmel. Auch hier wurden zu Urzeiten von den Frühmenschen aufgrund innerer Bilder einzelne Sterne zu bedeutungsvollen Sternbildern zusammengefasst; durch diesen Vorgang der Gestaltgebung offenbarte sich nach und nach die raumzeitliche, die dreidimensionale Welt. Dieser Prozess ist, wenn Lea C. G. Jung richtig verstand, immer der gleiche, was bedeutet, dass es stets neuer, vielmehr frisch aktivierter Urbilder bedarf, die im Menschen jedes Mal dann heranreifen, in ihm aufgehen wie aufbrechende Knospen im zunehmenden Licht der Sonne, wenn am Horizont des menschlichen Bewusstseins eine neue Welt heraufzuziehen beginnt.
Früher, als junge Erwachsene, als sie erstmals die Schriften von Jean Gebser, Teilhard de Chardin und Sri Aurobindo las, war Lea wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass diese große Bewegung des Kosmos zu seiner Erfüllung hin und zu einem vollendeten, einem göttlichen Leben auf Erden noch ewig lange dauern würde und nur das Ergebnis sein könne eines unendlich mühevollen, unendlich schwierigen Prozesses. Inzwischen aber, und weil doch das neue Licht auch schon in sie und ihr Leben hineinzuströmen begann, hindurchschimmerte durch den diaphan gewordenen, abgenutzten alten Vordergrund, dämmerte ihr auf einmal eine ganz andere Wahrheit: Was wäre, wenn das Hindurchscheinen dieses Lichts gar nicht nur sie selbst beträfe, Lea, sondern die ganze Erde, die ganze Welt, und eine neue Zeit und eine neue Welt tatsächlich schon in den Startlöchern stünden, bereit und nur darauf wartend, in die bestehende Welt hereinzubrechen, die alte und verbrauchte abzulösen, und wenn der Mensch genau jetzt schon, jetzt und hier, sich am Übergang befände zu etwas noch nie Dagewesenem, nie Gesehenem, zu einer völlig neuen Realität: jenem All-Herrlichen, in dem die ganze Schöpfung zu ihrer Erfüllung findet?
Lea wusste auf einen Schlag, dass es genauso war, wie soeben vermutet, auch wenn sie ein solches, geradezu unverschämtes Wunder angesichts des so bedauerlichen und mehr als desolaten Zustands der Menschheit wie der Erde kaum zu hoffen wagte. Aber heißt es nicht auch, Rettung sei immer dann am nächsten, wenn die Not am größten ist? Und dass, wenn man die neue Welt noch nicht sah, dies wahrscheinlich einzig und allein nur daran lag, weil noch keiner die Sprache des Neuen sprach, dieses verheißenen Paradieses am Ende der Zeiten, noch niemand dessen neue Bilder kannte, ebenso wenig die dort herrschenden neuen Regeln oder Gesetze. Ja, vielleicht war es doch tatsächlich schon so weit, dass die Menschheit, oder vielleicht reichten zunächst ja auch ein paar mutige Einzelne, nur noch einen einzigen großen beherzten Schritt wagen mussten, um an das mystische Ufer des Neuen zu gelangen, auf seine noch so zaghaften Anzeichen vertrauend?
Und Lea war vollkommen klar, dass dort, in dieser Neuen Welt, ganz andere Spielregeln gelten, der Mensch froher Diener sein würde und nicht mehr...