Ohne sie
Juni 2009
Der wahre Souverän unseres Gemeinwesens ist der Überdruss. Im Sommer diesen Jahres lässt er über einen seiner Pressesprecher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verkünden, dass die Saison für Bücher über Krebs und Tod beendet sei: »Erzählt von dem, was zählt, und nicht von Tumormarkern. Erzählt vom Leben. Das Ende kennen wir schon.« Damit spricht er zweifellos einer Leserschaft aus dem Herzen, die sich aufgrund der demografischen Entwicklung vorwiegend aus den schlagfesten und witterungsbeständigen Best Agern der Jahrgänge 1930 bis 1950 rekrutiert, die sich nicht nur ans Leben klammern, wie es der Autor besungen wissen will, sondern auch die der Apotheken-Umschau entnommene Glücksformel kennen, mit der es bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auszudehnen ist: Mülltrennung und Heilfasten, Bachblütentherapie und Wassertreten, Bio-Kost und Gemütsschonung und nach dem letzten Fango vollzieht sich das Finale womöglich so schmerzfrei, reibungslos und geräuscharm wie der Etagenwechsel in einem Wellness-Hotel der Fünf-Sterne-Kategorie.
Das Ende kennen wir schon? Sie werden ihr Wunder erleben, und davon, dass es kein blaues sein wird, könnten die jährlich 200 000 Krebstoten ein Lied singen, wenn sie denn eine Stimme hätten.
Wenn es zutrifft, dass der typische Angehörige der studentischen Protestgeneration unter anderem daran zu erkennen ist, dass es ihm bis ins Rentenalter vergönnt ist, unter Umgehung der in der bürgerlichen Restgesellschaft üblichen Reifungsprozesse, wie eingefroren in der Gestalt des Adoleszenten zu verharren, kann ich von mir sagen, dass mein Bad im Jungbrunnen des Alternativmilieus vor zwölf Jahren mit Anfang 50 vergleichsweise früh und jäh endete. Getrieben von dem, was der Essayist Michael Rutschky als Erfahrungshunger bezeichnete, ein Zustand, in dem das kollektive Ideal der Weltrevolution im Verlauf seines Scheiterns auf die Abmessungen einer individuellen Utopie der Unbestimmtheit, des Vagierens, der Strukturlosigkeit, der Entgrenzung und der radikalen Selbstverwirklichung schrumpfte, machte ich zu diesem Zeitpunkt einer Frau den Hof, die als Psychoanalytikerin meine halbherzige Werbung über mehrere Jahre mit einer Mischung aus Verwunderung und klinischem Interesse hatte über sich ergehen lassen und der an einem schönen Augusttag des Jahres 1997 angesichts meines unverbindlichen Geplänkels endgültig der Geduldsfaden riss: »Wenn du mich mit deiner poetischen Suada wirklich meinst, musst du dich entscheiden: Take it or leave it!«
Ihr Ultimatum, lebensklug und frei von Frivolität, verwandelte den blinkenden Talmipanzer des narzisstischen Blenders in das schäbige Kleid eines Narren, der, ausgestattet mit dem Habitus der moralischen und theoretischen Überlegenheit des undogmatischen Linken, alles in trügerischen Einklang zu bringen suchte: die Launen mit den Gelegenheiten, das Gewünschte mit dem Vorhandenen und das literarische Kunstgewerbe mit der Herstellung vorübergehender Erregungszustände: Dies bisschen Lust will Ewigkeit? Das Repertoire hatte sich offensichtlich erschöpft, und als die kühle Selbsterkenntnis ins gewöhnliche Selbstmitleid zu kippen drohte, ging mir ein Licht auf. Da war es doch endlich, das herbeigesehnte sehende Gesicht; offene Augen, die dich umfangen und halten mit Wissen und Güte, Verlangen und Hingabe, Wärme und Vertrauen. Ich war dem Menschen begegnet, der mir bestimmt war von Anbeginn, von dem ich wusste, dass er zu mir passte wie keiner vor und nach ihm, und weil das so war, bedurfte es nur eines Wortes: »Ja.«
Danach war alles ganz einfach. Unter dem Müll postmoderner Auswegsfülle, aus den verleugneten und verschütteten Quellen zweier katholischer Kindheiten sprang jenseits verschlissener Liebesschwüre ein Gefühl unauflöslicher Verbundenheit auf, ein von heiligem Ernst beflügelter Glaube, der den romantischen Furor und die wechselseitige physische Anziehung aufhob, ohne sie zu unterwerfen: Du und Ich, Treue um Treue bis in alle Ewigkeit.
Credo quia absurdum, das heißt, es ist gewiss, weil es unmöglich scheint, und nach 20-monatiger Adventszeit bestaunten eine nicht mehr ganz junge Frau und ein Mann in fortgeschrittenem Alter das atmende Wunder, das sie selbst hervorbringen durften: »Ein Kindelein so zart und fein, das soll euer Freud und Wonne sein.« Ein dankbares Paar, eine Handbreit über den Niederungen des Alltags, zitternd vor Glück, das, gleichermaßen unverdient wie uneinklagbar, zweifellos von oben kommt. Und Gott war mit den Liebenden, zehn Jahre oder 3650 Tage und Nächte lang. Bis zum Morgen des 15. Juni 2008.
Der Engel, der die Vertreibung verkündet, ist kein mit dem Flammenschwert drohender Cherubim, sondern der stets freundlich lächelnde Leiter der onkologischen Abteilung des St.-Markus-Krankenhauses. Er kann nach mehrwöchigen diagnostischen Anstrengungen und dem erfolglosen Einsatz panzerbrechender Antibiotika ausschließen, dass es sich bei der anhaltenden Atemnot um das Symptom eines grippalen Infekts, einer Bronchitis oder einer Pneumonie handelt. Er spricht mit fremden Zungen und seine Stimme hat einen dünnen metallischen Klang: »Bronchialkarzinom Stadium IV. Maligner Pleuraerguss. Weichteilmetastase linker Oberarm.«
Im Andachtsraum der Klinik sinkt sie mir weinend in die Arme: »Halt mich fest, ich bin verloren. Das wird die Hölle. Bring die Kleine aus der Schusslinie.«
Da, wo die Haut besonders dünn, durchscheinend und empfänglich ist für ganz andersartige Berührungen, unterhalb ihres linken Schulterblatts, wird der Port gelegt, eine im Durchmesser etwa ein Zentimeter große künstliche Öffnung, durch die diverse chemische Kampfstoffe an die Tumore herangeführt werden sollen. Durch die orale Beigabe acht verschiedener Präparate seien, so heißt es, die Kollateralschäden bei einer positiven Grundeinstellung der Patientin auf nahezu null zu minimieren. Die geforderte Einstellung ist vorhanden, die Nebenwirkungen aber kommen, bleiben und breiten sich aus: Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe, Bewegungsstörungen, Fieber, Schüttelfrost, Blutungen, Angstattacken.
In den Feuerpausen kämpft sie sich mit dezenten Kosmetika und erlesener Kleidung in einen gesellschaftsfähigen Zustand zurück und beugt den stolzen Nacken nicht. Sie weist meine Dauerbemutterung zurück, streitet mit mir über die Lufthoheit im Familienverband, kontrolliert die Schularbeiten, putzt die silbernen Serviettenringe, wässert das Orangenbäumchen, lädt Freunde zum Spargelessen ein, verteilt Weihnachtsgeschenke an das Krankenhauspersonal, legt für Kind und Mann Tagebücher an, verabschiedet ihre Patienten und versichert sich in den raren Momenten der Schmerzfreiheit einer körperlichen Nähe, deren wir beide mehr denn je bedürfen: »In the chilly hours and minutes of uncertainty I want to be in the warm hold of your loving mind.«
Der sanfte Onkologe mit dem eisernen Kern bemäntelt das Ende seiner Kunst mit Durchhalteparolen und redet von den Pfeilen, die er im Köcher, und Trümpfen, die er im Ärmel habe. Das Arsenal der maximalinvasiven Verfahren wird um die Strahlentherapie erweitert, die die Haut in der Armbeuge nach drei Wochen wie mit einem Lötkolben bearbeitet erscheinen lässt: Der Tumor ist weder grausam noch heimtückisch und noch nicht einmal blind. Er ist vollkommen eigenschaftslos und macht einfach und unaufhaltsam weiter: Die Gewalttätigkeit der Medizin, die Gleichgültigkeit der Natur und das Schweigen Gottes verbünden sich gegen mein Liebstes auf Erden, die Frau, die unter meinen Händen und Augen im Schmerz zerbricht und dahinwelkt Stunde um Stunde.
Im Verlauf von vier chemotherapeutischen Behandlungszyklen sinkt sie elfmal in die Knie und steht zehnmal wieder auf. Kurz vor dem Eintritt in die Zone des Unsagbaren bittet sie mich zu sich und sagt flüsternd, dass sie das Kind meiner Obhut anvertrauen müsse und es als eine Ehre betrachte, mit mir verheiratet gewesen zu sein. Aufschreiend verbiete ich ihr, von sich und uns in der Vergangenheitsform zu reden, und fordere sie in ultimativem Tonfall auf, die verfluchten Medikamente zu schlucken und das Wasser zu trinken.
Sie entzieht sich meinen peinigenden Worten und erlischt am 15. Mai des Jahres 2009 um 22 Uhr 45. Ich schließe ihre Augen, die blauen, küsse ihre Lippen, die zarten, löse die über ihrem Rücken verteilten Morphiumpflaster, streife ihr den Trauring vom Finger und umrahme das schöne, schmal gewordene Gesicht mit den Blütenblättern weißer Rosen, um dem Kind den Anblick der toten Mutter zu erleichtern.
Am nächsten Morgen entsendet das Bestattungsinstitut zwei robuste türkische Mitarbeiter, die radebrechend ihre Anteilnahme herunterleiern und sich mit einem blauen Plastiksack in das Sterbezimmer zurückziehen. Das Geräusch des sich über ihr schließenden Reißverschlusses fräst sich durch die Gehörgänge und will nie mehr verebben.
Dem Grauen standhalten, aber wie? »Bereits kurze Zeit nach dem Tod des Kranken«, versichert Sigmund Freud in seinen 1895 erschienenen Studien über Hysterie, »setzt die psychische Verarbeitung des Verlustes ein, in deren Verlauf die Szenen der Krankheit und des Sterbens wieder und wieder vor Augen geführt werden. So macht der Trauernde jeden Tag jeden Eindruck von neuem durch, weint und tröstet sich darüber – man möchte sagen in Muße.« Nach dieser nüchternen Definition bin ich ein schlechter Trauerarbeiter: gehe keine Wege ab, will nichts durcharbeiten, suche keinen Trost, vergieße keine Träne, suhle mich noch nicht einmal im Selbstmitleid, will sie nur wiederhaben, und zwar sofort. Der Hinterbliebene als zweibeiniger, neben sich stehender Halbautomat. Er stellt den Wecker, belegt das Pausenbrot, schält einen Apfel, schneidet Fingernägel, leistet...