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Die Trance des geringen Selbstwertgefühls
Eines Nachts gehst du spazieren …
Dir wird plötzlich klar,
dass du am Entfliehen warst
und dass du schuldig bist:
Du hast die Anweisungen falsch verstanden,
du bist kein Mitglied, du hast deine Karte verloren oder nie eine gehabt …
Jahrelang hatte ich einen immer wiederkehrenden Traum, in dem ich mich vergeblich abmühe, irgendwohin zu gelangen: Manchmal renne ich einen Hügel hinauf, oder ich klettere über Felsbrocken oder schwimme gegen eine Strömung an. Oft steckt eine geliebte Person in Schwierigkeiten, oder es wird gleich etwas Schlimmes passieren. Mein Verstand rast, doch mein Körper fühlt sich schwer und erschöpft an; es ist, als wate ich in Sirup. Ich weiß, ich sollte imstande sein, das Problem zu lösen, aber ganz gleich, wie sehr ich mich bemühe, ich kann nicht dahin gelangen, wo ich hinmuss. Mutterseelenallein und voll Angst, zu versagen, bin ich in meinem Dilemma gefangen. Es existiert nichts anderes mehr auf der Welt.
Dieser Traum erfasst die Trance des geringen Selbstwertgefühls im Kern. Oft scheinen wir in unseren Träumen die Protagonisten eines vorgezeichneten Dramas zu sein, dazu verdammt, auf bestimmte Weise auf unsere Umstände zu reagieren. Es scheint uns nicht bewusst zu sein, dass es auch andere Wahlmöglichkeiten geben könnte. Wenn wir in der Trance und in unseren Geschichten und Ängsten über all die Möglichkeiten unseres Versagens und Scheiterns gefangen sind, befinden wir uns in einem ziemlich ähnlichen Zustand. Wir leben in einem Wachtraum, der die Erfahrungen unseres Lebens vollständig definiert und einschränkt. Der Rest der Welt bildet nur noch den Hintergrund, während wir uns abmühen, irgendwohin zu gelangen, ein besserer Mensch zu sein, etwas zu erreichen, Fehler zu vermeiden. Wie im Traum halten wir unsere Geschichten für die Wahrheit – eine zwingende Realität –, und sie beanspruchen den Großteil unserer Aufmerksamkeit. Unsere Gedanken drehen sich ständig um unsere Sorgen und Pläne, beim Mittagessen, auf der Heimfahrt nach der Arbeit, beim Gespräch mit unseren Partnern oder wenn wir den Kindern vor dem Einschlafen etwas vorlesen. Dieser Trance wohnt die Überzeugung inne, dass wir unser Ziel, ganz gleich, wie sehr wir uns anstrengen, immer irgendwie nicht erreichen werden.
Dieses geringe Selbstwert- oder Minderwertigkeitsgefühl geht mit dem Empfinden einher, von anderen getrennt, vom Leben abgetrennt zu sein. Wie sollen wir denn dazugehören können, wenn wir mit Makeln und Fehlern behaftet sind? Es ist ein Teufelskreis: Je unzulänglicher wir uns vorkommen, desto isolierter und verletzlicher fühlen wir uns. Hinter unserer Angst, nicht zu genügen, lauert eine urtümlichere Angst, dass mit dem Leben etwas nicht in Ordnung ist, dass etwas Schlimmes passieren wird. Auf diese Angst reagieren wir mit Schuldzuweisungen, sogar mit Hass, gegenüber dem, was wir als Quelle des Problems erachten: wir selbst, andere, das Leben an sich. Aber tief im Innern fühlen wir uns nach wie vor verletzlich, auch wenn wir unsere Aversionen nach außen richten.
Unsere Minderwertigkeits- und Entfremdungsgefühle lassen die verschiedensten Formen von Leiden entstehen, deren augenfälligste die Sucht ist. Dabei kann es sich um Alkohol, Essen oder Drogen handeln; andere haben eine Beziehungssucht, fühlen sich von einer bestimmten Person oder bestimmten Leuten abhängig, um sich als ganz empfinden und das Leben lebenswert finden zu können. Manche versuchen, sich durch lange, aufreibende Arbeitsstunden wichtig zu fühlen – eine Sucht, die in unserer Gesellschaft oft Beifall findet. Manche schaffen sich äußere Feinde und befinden sich im permanenten Kriegszustand mit der Welt. Der Glaube, dass wir unzulänglich und nichts wert sind, macht uns das Vertrauen darauf, wirklich geliebt zu werden, schwer. Viele von uns leben mit einer unterschwelligen Depression oder ohne jede Hoffnung, sich anderen Menschen jemals nahe fühlen zu können. Wir haben Angst, abgelehnt zu werden, wenn die anderen merken, wie langweilig oder dumm, egoistisch oder unsicher wir sind. Wenn wir nicht attraktiv genug sind, werden wir vielleicht nie auf intime, romantische Weise geliebt werden. Wir sehnen uns danach, dazuzugehören, möchten uns bei uns selbst und anderen daheim, unbeschwert und vollkommen akzeptiert fühlen. Aber die Trance des geringen Selbstwertgefühls hält das süße Erleben des Zugehörigkeitsgefühls außer Reichweite.
Und die Trance intensiviert sich, wenn unser Leben schmerzlich wird und außer Kontrolle geraten zu sein scheint. Wir glauben vielleicht, dass unsere physische Krankheit oder Depression unsere eigene Schuld ist – die Folge unserer schlechten Gene oder unseres Mangels an Disziplin oder Willenskraft. Wir meinen vielleicht, dass der Verlust unseres Arbeitsplatzes oder eine schmerzliche Scheidung unseren persönlichen Makel widerspiegelt. Wären wir nur besser gewesen, wären wir nur irgendwie anders gewesen, dann wären die Dinge nicht schiefgegangen. Es mag zwar sein, dass wir die Schuld jemand anderem anlasten, aber im Stillen sprechen wir uns doch schuldig dafür, überhaupt in diese Situation geraten zu sein.
Und auch wenn es nicht um uns selbst geht, sondern eine uns nahestehende Person – der Partner, die Partnerin oder ein Kind – leidet oder Schmerzen hat, nehmen wir das als weiteren Beweis für unsere Unzulänglichkeit. Beim dreizehnjährigen Sohn einer meiner psychotherapeutischen Klientinnen wurde ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert. Sie hat alles in ihrer Macht Stehende getan, ihm zu helfen – Ärzte, Ernährung, Akupunktur, Medikamente, Liebe. Doch er leidet noch immer unter schulischen Rückschlägen und fühlt sich gesellschaftlich isoliert. Er ist davon überzeugt, ein »Verlierer« zu sein, und schlägt oft aus lauter Schmerz und Frustration um sich. All ihrer liebevollen Bemühungen und Anstrengungen ungeachtet quält sie das Gefühl, dass sie ihren Sohn im Stich lässt und mehr tun sollte.
Die Trance des geringen Selbstwertgefühls zeigt sich nicht immer so offenkundig als Empfinden von Scham und Unzulänglichkeit. Als ich einer guten Freundin berichtete, dass ich über das geringe Selbstwertgefühl und seine allgemeine Verbreitung schreibe, reagierte sie mit dem Einwand: »Mein Hauptproblem sind nicht die Schamgefühle, sondern es ist der Stolz.« Sie, eine erfolgreiche Schriftstellerin und Lehrerin, erzählte mir, wie leicht sie sich im Überlegenheitsgefühl anderen gegenüber verfängt. Sie findet viele Leute geistig etwas lahm und langweilig. Und weil so viele Menschen sie bewundern, reitet sie oft auf den Wogen des Gefühls, etwas Besonderes und wichtig zu sein. »Es ist mir peinlich, es zuzugeben«, sagte sie, »und vielleicht passt hier das Schamgefühl hinein. Aber ich mag es, wenn die Leute zu mir aufsehen … dann fühle ich mich gut und wohl mit mir selbst.« Hier agiert sie die andere Seite der Trance aus. Dann gab sie zu, in Dürrezeiten, wenn sie sich nicht produktiv oder nützlich oder bewundert fühlt, in Minderwertigkeitsgefühle abzusacken. Statt einfach ihre Talente anzuerkennen und ihre Stärken zu genießen, braucht sie die Bestätigung des Gefühls, etwas Besonderes oder anderen überlegen zu sein.
Davon überzeugt, nie gut genug zu sein, können wir uns nie entspannen. Immer sind wir auf der Hut und überprüfen uns auf Schwächen und Mängel. Wenn wir sie dann unvermeidlich entdecken, fühlen wir uns noch unsicherer und minderwertiger. Wir müssen uns noch mehr anstrengen. Und die Ironie bei allem ist … wo glauben wir denn überhaupt hinzugehen? Ein Meditationsschüler berichtete mir, dass er das Gefühl habe, ständig unter Dampf zu stehen, getrieben vom Gefühl, noch mehr tun zu müssen. Und mit Wehmut in der Stimme setzte er hinzu: »Ich streife über das Leben hinweg und rase auf die Ziellinie zu – den Tod.« Wenn ich in meinem Meditationsunterricht über das Leiden des geringen Selbstwertgefühls spreche, sehe ich Schülerinnen und Schüler häufig mit dem Kopf nicken, und manchen kommen die Tränen. Vielleicht wird ihnen zum ersten Mal klar, dass ihre Schamgefühle nicht ihre eigene, ganz persönliche Bürde sind, sondern dass viele Menschen diese Empfindungen haben. Hinterher bleiben einige noch da, um zu reden. Sie gestehen, dass ihr mangelndes Selbstwertgefühl es ihnen unmöglich macht, um Hilfe zu bitten oder sich von der Liebe eines anderen Menschen umfangen und gehalten zu fühlen. Manche erkennen, dass ihre Minderwertigkeits- und Unsicherheitsgefühle sie daran hindern, ihre Träume zu verwirklichen. Oft erzählen mir Schüler, dass ihr chronisches Minderwertigkeitsgefühl sie fortwährend daran zweifeln lässt, dass sie richtig meditieren und sich auf spiritueller Ebene weiterentwickeln.
Eine ganze Reihe von ihnen berichtete mir, zu Beginn ihres spirituellen Pfades angenommen zu haben, dass ihre Unzulänglichkeitsgefühle durch eine hingebungsvolle Meditationspraxis transzendiert werden würden. Doch sie mussten feststellen, dass ihnen die Meditation zwar auf wichtige Art und Weise geholfen hat, aber die tiefen Nester des Scham- und Unsicherheitsgefühls überdauern hartnäckig – manchmal trotz jahrzehntelanger Praxis. Mag sein, dass sie einen Meditationsstil kultiviert haben, der für ihr persönliches emotionales Naturell nicht gut geeignet ist. Vielleicht brauchen sie auch zusätzliche psychotherapeutische Hilfe, um tiefe Wunden aufdecken und heilen zu können. Wie auch immer, wenn es uns nicht gelingt, uns durch die spirituelle Praxis von diesem Leiden zu befreien, kann das in uns...