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E-Book

Dem Leben Antwort geben

Autobiografie

AutorViktor E. Frankl
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783407864628
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Der Klassiker »Was nicht in meinen Büchern steht« in neuer Ausgabe: Frankls Bericht von Auschwitz hat Millionen Leser bewegt. Aber wie verlief sein Leben davor und danach? Wer ist der Mensch hinter den Büchern? In seiner Autobiografie erzählt der weltberühmte Psychologe von den Erfahrungen, die ihn zum Vordenker der Resilienzforschung und Begründer der sinnzentrierten Psychotherapie machten: sein jüdisches Elternhaus, die frühen Kontakte zu Sigmund Freud und Alfred Adler, seine Arbeit mit selbstmordgefährdeten Jugendlichen, sein Widerstand gegen die Euthanasie der Nazis, politische Verfolgung, Deportation und die Rückkehr nach Wien, wo er fast sein ganzes Leben verbrachte. Zahlreiche Fotografien aus dem Familienarchiv ergänzen Frankls Erinnerungen, die trotz Verlust und Leid von Menschenliebe geprägt sind. »Wir sind es, die zu antworten haben auf die Fragen, die uns das Leben stellt. Und diese Lebensfragen können wir nur beantworten, indem wir unser Dasein selbst verantworten.« Viktor E. Frankl

Viktor E. Frankl (1905-1997) wurde als Begründer der dritten Schule der Wiener Psychotherapie bekannt. Fast seine gesamte Familie starb in Konzentrationslagern, er selbst entging dem Tod nach der Odyssee durch vier Konzentrationslager nur knapp. Nach seiner Rückkehr wurde er Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien und hatte Professuren in den USA inne. Als erster Psychologe stellte er die Erfahrung von Sinn ins Zentrum der therapeutischen Praxis. Seine Bücher erreichten Millionenauflagen; sie erschienen in über 50 Sprachen.

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Leseprobe

Die Eltern


Meine Mutter stammte aus einem alteingesessenen Prager Patriziergeschlecht – der Prager deutsche Dichter Oskar Wiener1 (dessen Gestalt in Meyrinks Roman Der Golem verewigt wurde)2 war ihr Onkel. Ich sah ihn, als er längst erblindet war, im Lager Theresienstadt zugrunde gehen. Zu ergänzen wäre, dass meine Mutter von Raschi,3 der im 12. Jahrhundert gelebt hat, abstammt, aber auch vom »Maharal«,4 dem berühmten »Hohen Rabbi Löw« von Prag. Und zwar wäre ich die 12. Generation nach dem »Maharal«. Das geht alles aus dem Stammbaum hervor, in den Einblick zu nehmen ich einmal Gelegenheit hatte.

Zur Welt gekommen wäre ich beinahe im berühmten Café Siller in Wien. Dort bekam meine Mutter die ersten Wehen, an einem schönen Frühlingssonntagnachmittag des 26. März 1905. Mein Geburtstag fällt mit dem Todestag Beethovens zusammen, wozu ein Schulkamerad einmal boshaft gemeint hat: »Ein Unglück kommt selten allein.«

Meine Mutter war ein seelensguter und herzensfrommer Mensch. Ich kann also eigentlich nicht verstehen, warum ich als Kind so »sekkant« war, wie man mir gesagt hat. Als Kleinkind schlief ich immer nur ein, wenn sie mir »Lang, lang ist’s her« als Wiegenlied gesungen hat – der Text spielte keine Rolle. Sie hat mir erzählt, dass sie immer wieder gesungen hat »So sei doch schon ruhig, du elendiger Kerl – lang, lang ist’s her, lang, lang ist’s her« usw. Die Melodie musste auf jeden Fall stimmen.

An das Elternhaus war ich so emotional attachiert, dass ich furchtbar unter Heimweh litt während der ersten Wochen und Monate, ja Jahre, in denen ich in diversen Krankenhäusern, an denen ich angestellt war, übernachten musste. Zuerst wollte ich noch jede Woche einmal, dann jeden Monat einmal und schließlich an jedem meiner Geburtstage zu Hause übernachten.

Nachdem mein   Vater in Theresienstadt gestorben und ich mit meiner Mutter allein geblieben war, habe ich es mir zum Prinzip gemacht, wo immer ich ihr begegnete und wann immer sie von mir Abschied nahm, sie zu küssen, so dass eine Garantie bestand, dass, wenn uns irgendetwas trennen sollte, wir im Guten voneinander gegangen sind.

Und als es dann so weit war und ich mit meiner ersten Frau Tilly nach Auschwitz abtransportiert wurde und mich von meiner Mutter verabschiedete, bat ich sie im letzten Moment: »Bitte, gib mir den Segen.« Und ich werde nie vergessen, wie sie mit einem Schrei, der ganz aus der Tiefe kam und den ich nur als inbrünstig bezeichnen kann, gesagt hat: »Ja, ja, ich segne dich« – und dann gab sie mir den Segen. Das war etwa eine Woche, bevor sie selbst ebenfalls nach Auschwitz und dort direkt ins Gas gekommen ist.

Im Lager dachte ich sehr viel an meine Mutter, aber wann immer ich daran dachte, wie es sein würde, wenn ich sie wiedersehe, drängte sich mir unabweislich die   Vorstellung auf, das einzig Angemessene wäre, wie es immer so schön heißt, in die Knie zu sinken und den Saum ihres Kleides zu küssen.

Wenn ich gesagt habe, dass meine Mutter ein seelensguter und herzensfrommer Mensch gewesen sei, dann war mein   Vater charakterologisch eher das Gegenteil. Er besaß eine spartanische Lebensauffassung und eine ebensolche Vorstellung von Pflicht. Er hatte seine Prinzipien und er blieb ihnen treu. Auch ich bin Perfektionist und von ihm dazu erzogen worden. Mein (älterer) Bruder und ich wurden am Freitagabend von unserem   Vater gezwungen, ein Gebet hebräisch vorzulesen. Und wenn wir, wie es meistens der Fall war, einen Fehler machten, dann wurden wir keineswegs gestraft, aber es gab keine Prämie. Eine solche gab es nur, wenn wir den Text absolut perfekt herunterlesen konnten. Dafür gab es zehn Heller, aber dazu kam es nur ein paarmal im Jahr.

Meines Vaters Lebensauffassung hätte man nicht nur als spartanisch, sondern auch als stoisch bezeichnen können, wenn er nicht auch ebenso zum Jähzorn geneigt hätte. In einem Anfall von Jähzorn zerbrach er einmal einen Spazierstock oder Bergstock, während er mich damit verprügelte. Trotz alledem habe ich in ihm immer die Personifikation der Gerechtigkeit gesehen. Hinzu kam, dass er uns immer Geborgenheit vermittelte.

Im Großen und Ganzen bin ich eher meinem  Vater nachgeraten. Die Eigenschaften, die ich aber von meiner Mutter geerbt haben mag, dürften zusammen mit denen meines  Vaters in meiner Charakterstruktur eine Spannung erzeugt haben. Einmal testete mich ein Psychologe von der psychiatrischen Universitätsklinik in Innsbruck mit dem Rorschach-Test und behauptete dann, so etwas habe er noch nie gesehen, eine solche Spannweite zwischen extremer Rationalität einerseits und tiefgreifender Emotionalität andererseits. Erstere habe ich vermutlich von meinem  Vater geerbt, Letztere von meiner Mutter – nehme ich an.

Mein  Vater stammte aus Südmähren, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Als mittelloser Sohn eines Buchbindermeisters hungerte er sich bis zum Absolutorium durch das Studium der Medizin, musste dann aber aus finanziellen Gründen aufgeben und in den Staatsdienst eintreten, wo er es im Ministerium für soziale Verwaltung bis zum Direktor brachte. Bevor er im Lager Theresienstadt Hungers starb, wurde der Herr Direktor einmal dabei angetroffen, wie er aus einer leeren Tonne den Rest von Kartoffelschalen herauskratzte. Als ich selbst später vom Konzentrationslager Theresienstadt über Auschwitz nach Kaufering gekommen war, wo wir schrecklich hungern mussten, konnte ich meinen Vater verstehen: Dort war ich es selbst, der einmal aus dem vereisten Erdboden ein winziges Stückchen Karotte herauskratzte – mit den Fingernägeln.

Eine Zeitlang war mein Vater Privatsekretär bei Minister Joseph Maria von Baernreither.5 Dieser verfasste damals ein Buch über Strafvollzugsreform und seine persönlichen Erfahrungen, die er dazu in Amerika gemacht hatte. Auf seinem Gut oder Schloss in Böhmen diktierte er meinem  Vater, der zehn Jahre lang Parlamentsstenograph gewesen war, das Buchmanuskript. Einmal fiel ihm auf, dass mein  Vater immer auswich, wenn er zum Essen eingeladen war, bis er ihm eines Tages die Frage stellte, warum er das tue. Mein Vater erklärte ihm, dass er nur rituelle Kost zu sich nehme – das hat unsere Familie bis zum Ersten Weltkrieg tatsächlich getan. Daraufhin veranlasste Minister Bärnreither, dass seine Kutsche jeden Tag zweimal in ein nahe gelegenes Städtchen hinunterfuhr und koscheres Essen für meinen Vater heraufholte, damit er nicht weiterhin nur von Brot, Butter und Käse leben musste.

In dem Ministerium, in dem mein Vater zu dieser Zeit arbeitete, gab es einen Sektionschef, der ihn zur stenographischen Aufnahme einer Sitzung bat. Mein  Vater lehnte ab mit dem Hinweis darauf, dass an dem betreffenden Tag der höchste jüdische Feiertag war, der »Jom Kippur«. An diesem Tag fastet man 24 Stunden lang, man betet und darf natürlich nicht arbeiten. Der Sektionschef drohte meinem  Vater eine Disziplinaruntersuchung an. Trotzdem lehnte mein  Vater es ab, am jüdischen Feiertag zu arbeiten, und wurde tatsächlich mit einer Disziplinarstrafe belegt.

Im Übrigen war mein  Vater zwar religiös, aber nicht ohne sich kritische Gedanken zu machen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre der erste und führende liberale Jude in Österreich geworden beziehungsweise ein Repräsentant dessen, was später in Amerika als »Reformjudentum« bezeichnet worden ist. Und so wie ich einschränken muss, was ich in Bezug auf Prinzipien gesagt habe, muss ich erweitern, was ich in Bezug auf Stoizismus gesagt habe: Als wir vom Bahnhof Bauschowitz ins Lager Theresienstadt marschierten, hatte er seine letzte Habe in einer großen Hutschachtel verstaut und auf dem Rücken getragen. Während die Leute einer Panik nahe waren, sagte er ein paarmal zu ihnen: »Immer nur heiter, Gott hilft schon weiter.« Lächelnd sagte er das. So viel zu meiner charakterologischen Herkunft.

Was nun die Herkunft meines Vaters anbelangt, so dürften seine Ahnen aus Elsass-Lothringen stammen. Zu der Zeit, als Napoleon auf einem seiner Feldzüge in der Heimatstadt meines Vaters in Südmähren (auf halber Strecke von Wien nach Brünn) einmarschiert war und seine Grenadiere dort einquartiert wurden, trat einer dieser Soldaten auf ein Mädchen zu, fragte sie nach einem bestimmten Namen und sie sagte, das sei ihre Familie. Er ließ sich bei dieser Familie einquartieren und erzählte dann, dass er in Elsass-Lothringen beheimatet sei und seine Angehörigen ihm aufgetragen hätten, nach der Familie des Mädchens Ausschau zu halten und ihr Grüße zu bestellen. Die Auswanderung des betreffenden Ahnen muss etwa um das Jahr 1760...

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