Vorwort
Ein paar Schritte nur, der Tag war anstrengend. Tausend Dinge gehen mir noch durch den Kopf, ich kann mich jetzt nicht einfach ins Bett legen. Nicht weit von meiner Wohnung strecke ich mich auf einer Wiese aus, in der grünen Stadt Berlin ist das möglich. Die vielen Lichter trüben den Blick in den Nachthimmel, und doch ist es dieser Blick, der mich beruhigt. Schon als kleiner Junge habe ich ihn geliebt, als mein Vater mir die Sterne zeigte, den Großen Wagen beispielsweise, der immer dort oben steht, als wäre er unverrückbar, obwohl jeder einzelne Stern mit unvorstellbarer Geschwindigkeit auf seiner eigenen Bahn durch die endlose Weite rast. Wer bin ich angesichts dieser Dimensionen? Wer sind wir Menschen?
Wir leben auf einem Planeten, der uns als große, weite Welt erscheint, aber aus der Perspektive der Sterne ist er nur ein verschwindend kleiner Punkt in der unendlichen Schwärze des Alls, wir selbst sind völlig unsichtbar. Das Leben, das jeder Einzelne in dieser Welt, auf der Erde, in diesem Land, an diesem Ort, in seinem persönlichen Alltag lebt, ist für den Gang der Sterne belanglos. Was ist der Sinn unserer Existenz?
Unter den eigenartigen Wesen, die die Evolution auf dem Planeten Erde im Laufe langer Zeiten hervorgebracht hat, erscheint dieses als das eigenartigste: Der Mensch ist ein Wesen, das darüber nachdenkt, was ein Mensch ist, kein anderes Wesen macht so etwas. Endgültige Resultate liegen nicht vor, aber provisorische Auffassungen sind möglich: Ein Mensch ist ein Körper mit all seiner Sinnlichkeit, eine Seele mit gefühlten Energien, ein Geist mit einigem Reichtum an Gedanken. Eine Frage ist stets von Neuem, ob und wie Körper, Seele und Geist zu unterscheiden sind, wann genau das Menschsein beginnt, wann es endet. Nicht jeder Mensch ist fähig zur Reflexion und Selbstreflexion, vielmehr sind Ungeborene, Demente und Menschen mit geistiger Behinderung dazu eingeschränkt oder nur potenziell in der Lage. Aber jeder muss mit sich und seinem Leben irgendwie zurechtkommen, kein Anderer kann ihm dies abnehmen. Jeder lebt auf irgendeine Weise mit Anderen, und sei es auf Distanz, und muss auch diese Herausforderung meistern. Jeder ist in soziale und ökologische Zusammenhänge eingebunden, die er nicht beliebig verändern kann, darüber hinaus in eine kosmische und vielleicht transzendente Welt, die er nicht wirklich durchschaut.
Schon der Blick in die Sterne, den Menschen in allen Kulturen und zu allen Zeiten pflegen, lässt darauf schließen, dass es sie fasziniert, über das hinauszublicken, was vor ihren Füßen liegt, um sich in einem größeren Horizont wahrzunehmen. Es interessiert sie, immer wieder ihre momentane Wirklichkeit zu überschreiten (transcendere im Lateinischen) und ins Offene zu gelangen; seit ihren urzeitlichen Anfängen scheint ihnen das eigen zu sein: In diesem Sinne ist der Mensch von Grund auf ein transzendentes Wesen, jeder einzelne, unabhängig davon, ob er sich in irgendeiner Weise als religiös versteht. Transzendent ist sein Blick, sein Glaube, sein Traum, seine Sehnsucht, seine Hoffnung, seine Vision und Utopie, sogar noch seine Melancholie, dieser diffuse Schmerz über die Begrenztheit des Lebens auf diesem Planeten. Transzendent ist sein Bestreben, Wissen über alle möglichen Zusammenhänge zu gewinnen und sich anstelle ihres Soseins ein Anderssein im Denken vorzustellen, nie nur Wirklichkeit, immer auch Möglichkeiten zu sehen und auf ihre Verwirklichung hinzuarbeiten.
Der Mensch ist überhaupt, so lässt sich sagen, ein Wesen der Möglichkeiten. Mit ihm als Gattung und mit jedem Einzelnen wird eine Möglichkeit des Lebens wirklich. Jeder kann für sich selbst weitere Möglichkeiten finden, erfinden und erproben, und wo er nicht weiterweiß, kann er Versuche anstellen und Experimente wagen. Die gesamte Existenz des Menschen lässt sich als Experiment verstehen, das die Evolution anstellt und das jeder Einzelne noch forcieren kann: »Wir sind Experimente«, meinte schon Nietzsche (Morgenröthe, 1881, 453), »wollen wir es auch sein!« Und welches Experiment bin ich, welches will ich sein? Welche Möglichkeit ist meine eigene, mit der ich zur Welt gekommen bin? Welche Möglichkeiten kann ich selbst entdecken und erkunden? Wie kann ich werden, was ich sein kann?
Gleichförmigkeit ist jedenfalls kein Beitrag zur Evolution. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass der Mensch auch das Wesen ist, das Probleme macht, um sich an ihrer Lösung zu versuchen. Eigentlich hätte er ausreichend mit den Schwierigkeiten zu tun, die ihm die Bedingungen seines Lebens bereiten. Aber immer wieder stellt er haarsträubende Dinge an und überschreitet sämtliche Normen, Formen und Grenzen, vermutlich, um auch auf diese Weise Möglichkeiten des Lebens aufzutun und Unmöglichkeiten kennenzulernen. Für den Blick von außen auf den Menschen tritt diese Eigenart des Einzelnen und der Gattung deutlich hervor: Der Mensch akzeptiert nur Grenzen, die er selbst als solche erfährt, mag er dabei auch bittere Erfahrungen machen. Seinen Eigensinn, die ihm auferlegten und von ihm selbst gesetzten Grenzen stets von Neuem in Frage zu stellen, nennt er Freiheit. Die Epoche ihrer umfangreichsten Verwirklichung nennt er Moderne.
Eigenartigerweise geht der Gewinn von Freiheit jedoch mit einem Verlust von Sinn einher. Dabei scheint der Mensch das Wesen zu sein, das Sinn braucht, um leben zu können. Sinnlos frei, beginnen Menschen erneut nach Sinn zu suchen, und der kosmische Beobachter kann bei genauerem Hinsehen aus ihrer Bewegung auf der Erdoberfläche schließen, wo sie fündig werden: Es scheint das Zueinanderhin zu sein, das Menschen mit Sinn erfüllt, das Voneinanderweg ruft Klagen über Sinnlosigkeit hervor. Wenn das als Indiz gelten kann, dann ergibt sich Sinn daraus, in Beziehung zu sein, sich zu kontaktieren, Handlungen miteinander und aneinander zu vollziehen. Dem Leben Sinn zu geben, erfordert dann, gegen die moderne Zerstörung von Beziehungen anzuleben, Beziehungen jeder Art zu gründen, zu pflegen und zu bewahren: Ein sinnerfülltes Leben ist ein Leben in Beziehung. Vom eisigen Kosmos aus gesehen ist klar, warum: Menschen suchen nach Wärme, und im Austausch und in der Reibung mit Anderen, körperlich, seelisch und geistig, ist sie am ehesten zu finden. Jede Erfahrung von Sinn eröffnet einen Zugang zu Energien, mit denen Menschen erstaunlich viel fühlen und denken, tun und ertragen können.
Ein immenses Potenzial an Sinn und somit Energie bietet das, was Menschen Liebe nennen. Für viele ist sie von solcher Bedeutung, dass sie sich, um nur ja nichts auszulassen, in ein Liebesleben verstricken, das komplizierter und widersprüchlicher kaum sein könnte. Sie suchen nach Liebe und nehmen jede Gelegenheit dazu wahr, fliehen sie wieder und zerstören sie, um sie im Verlust neu schätzen zu lernen und erneut nach ihr zu suchen. Die größte Sinnlosigkeit wird erfahrbar, wenn die Liebe geht und wenn sie fehlt. Auch aus diesem Grund sollte es die Liebe besser im Plural geben, statt alles vom Gelingen einer einzigen Liebe zwischen zweien abhängig zu machen: Viele Lieben sind nötig, um dem Leben Sinn zu geben. Über die Liebe im engeren Sinne hinaus kommen damit viele weitere Beziehungen der Zuwendung und Zuneigung in den Blick: Zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln, Geschwistern, Freunden, Kollegen, »Nächsten« aller Art und sogar Feinden. Und nicht nur Menschen können geliebt werden, sondern auch Tiere und Pflanzen, Dinge der Natur und Kultur, das Leben und die Welt insgesamt und darüber hinaus das, was viele Menschen Gott nennen.
Die Liebe scheint ein durchgängiges Phänomen zu sein: In jeder Einzelliebe wird das gesamte Kontinuum erfahrbar, jeder Teil steht für das Ganze, pars pro toto. Bei allen Arten von Liebe zeigen sich ähnliche Elemente in variablen Arrangements: Meist treibt eine Sehnsucht Menschen um, häufig verbergen sich ganz unterschiedliche Auffassungen unter dem einen Wort »Liebe«, immer prägt Polarität auch wider Willen das gemeinsame Leben zwischen Freude und Ärger, Vertrauen und Misstrauen, Gewissheit und Eifersucht, Treue und Verrat. Hartnäckig halten sich Unterschiede in den Wahrnehmungen von Männern und Frauen, die sich dazu jedoch ungern bekennen wollen. Oft sind mehrere Ebenen der Sinngebung möglich, sinnlich, seelisch, geistig, transzendent, aber selten bewegen die Liebenden sich auf derselben Ebene. Durchweg sind sie mit dem Alltag, mit Fragen von Macht, Recht und Gerechtigkeit konfrontiert, und immer wieder flammt die Angst vor dem Ende der Liebe auf. Jede Liebe, nicht nur die zwischen zweien, eröffnet neue Möglichkeiten, mündet jedoch zum Verdruss aller in eine Wirklichkeit, die den Möglichkeiten nur teilweise entspricht. Sollte aber eine Verwirklichung gescheut werden, kommt auch keine Möglichkeit zum Zug.
Wenn trotz allem der Liebe sehr viel Sinn zu verdanken ist, dann heißt dem Leben Sinn geben von Grund auf, für die Liebe zu leben. Diese Sinngebung ist nicht an eine letzte Klärung der Frage gebunden, ob »das Leben an sich« irgendwelchen Sinn hat. Und sie hängt nicht so sehr von aufwallenden Leidenschaften ab, sondern von einer willentlichen Entscheidung. Das Potenzial des Liebens für die Sinngebung so vollständig wie möglich in den Blick zu bekommen, ist das Anliegen dieses Buches, dem bereits eines über die Liebe zwischen zweien vorausging.1 Beide Bücher sind Teil des Projekts, eine umfassende Kunst des Liebens zu begründen, als deren Basis die Selbstbeziehung und Freundschaft mit sich selbst gelten darf.2 Die Kunst des Liebens als gekonnter Umgang mit sich, mit Anderen und...