1. Kapitel
Was ist Demenz?
Symptome der Demenz
Ein Sohn sagt über seine Mutter:
In ihrem Gedächtnis breiteten sich schwarze Löcher aus. An schlechten Tagen schlurfte sie ziellos durch die Räume. Ihr Körper wollte nicht mehr gehorchen. Alles stolperte, drohte ganz zu stocken. Wollte sie in der Küche Kaffee- oder Teewasser aufsetzen, kam sie mit einer Apfelsine und einem Kartoffelschäler zurück. Ging sie zum Briefkasten, verschlug es sie zu ihrer eigenen Verwunderung auf den Dachboden, und sie erschrak vor den Kartons mit vergessenem Kinderspielzeug, dem Schaukelpferd, das sich plötzlich von allein bewegte, dem Bettgestell mit der verschlissenen Strohmatratze. Meinte sie, ins Wohnzimmer zu gehen, fand sie sich auf dem Hinterhof am Waldrand wieder. Läutete das Telefon, ging sie zur Haustür. Sagte sie ›Kinderwagen‹, meinte sie ›Zimmerpflanze‹.
Die Erlebnisse ihrer Sinne verwirrten sich in ihrem Geist. Die Hitze eines brennenden Streichholzes kommentierte sie mit den Worten »Kalt wie Eis, nicht?«. Wenn sie sprach, wählte sie falsche Worte.
Freriks 2001
Menschen mit Demenz sind alle in erheblichem Maß vergesslich. In der ersten Phase der Krankheit werden vor allem Ereignisse aus der nahen Vergangenheit vergessen. Ein Betroffener wird zum Beispiel, wie die Mutter in Kester Freriks’ Roman, oft seine Vorhaben vergessen, er wird vergessen, dass er vor einer Minute einen Topf auf den Herd gestellt hat, er wird nicht mehr wissen, was zehn Minuten zuvor gesagt wurde, oder sich nicht mehr daran erinnern, dass er noch am selben Vormittag einkaufen gegangen ist. Für Menschen mit Demenz verliert das Gedächtnis also immer mehr seinen Wert als Führer im Leben. Wenn die Krankheit fortschreitet und die Vergesslichkeit zunimmt, kann er auch vergessen, wo man seine Bedürfnisse befriedigt, oder er kann ein Spülmittel für Mundwasser halten.
Eine andere Erscheinung von Demenz ist, dass man manche Dinge nicht mehr ausführen kann. Eines Tages ist der Demenzkranke nicht mehr in der Lage, zu kochen, Kaffee zu bereiten, den Fernseher mit der Fernbedienung ein- oder auszuschalten, zu rechnen, und es wird ihm die größte Mühe bereiten, für einfache Probleme eine Lösung zu finden. Schlimm – sowohl für ihn selbst als auch für seine Umgebung – ist auch, dass immer häufiger Augenblicke kommen, in denen er seine eigenen Gefühle nicht mehr beherrschen kann und nicht mehr versteht, was andere sagen. Und schließlich kommt es sogar so weit, dass er die Fähigkeit verliert, sich in verständlicher Sprache auszudrücken, für sich selbst zu sorgen und seine Angehörigen zu erkennen.
Demenz ist ein Syndrom, das heißt: Es treten verschiedene Symptome auf, oft in einer ganz bestimmten Kombination. Neben den soeben genannten Symptomen kann bei jedem Betroffenen auch eine Reihe anderer Merkmale vorkommen, die gerade im Umgang mit ihm Probleme schaffen können: Veränderungen im Charakter, plötzliche Stimmungsschwankungen, Sammelwut, (nächtliche) Unruhe und so weiter.
Missdeutungen
Viele Menschen meinen, Personen mit Demenz litten alle an ein und derselben Krankheit. Das ist ein Irrtum. Ein allmählich voranschreitender geistiger Niedergang kann sich als Folge vieler Krankheiten entwickeln. In diesem Zusammenhang kann man Vergleiche mit dem Begriff »Fieber« anstellen. Verschiedene Krankheiten oder Leiden gehen mit Fieber einher: Grippe, Lungenentzündung, Masern, ein entzündeter Finger, ein Sonnenstich etwa. Es gibt also viele Ursachen der erhöhten Temperatur. Dasselbe gilt für die Demenz: Hinter auf den ersten Blick identisch wirkenden Symptomen können sich verschiedene Krankheitsursachen verbergen.
So wird leicht das Alter mit einem Prozess geistigen Verfalls gleichgesetzt. »Er ist schon alt, er wird kindisch« ist ein oft gehörter Seufzer. »Kindisch werden« wird dann als logische Folge der Alterung angesehen. Zum Glück ist auch das eine Missdeutung, denn die Mehrheit der Alten bleibt bis ins hohe Alter bei klarem Verstand. Von den Sechzig- bis Siebzigjährigen sind nur 1,5 Prozent dement. Wohl aber nimmt die Gefahr, dement zu werden, umso mehr zu, je weiter das Alter voranschreitet.
Eine andere unzutreffende Vorstellung ist, dass ein Mensch dement zu werden beginnt, sobald er vergesslich wird. Auch wenn Vergesslichkeit tatsächlich das Hauptmerkmal der Krankheit ist, würden wir doch vielen Menschen, die mit der Merkfähigkeit und dem Erinnern Schwierigkeiten haben, Unrecht tun, würden wir ihnen allesamt den Stempel »Demenz« aufdrücken. Viele ältere Leute leiden hin und wieder an Vergesslichkeit, ohne dass sie dement sind. Probleme mit dem Behalten von Namen etwa sind in höherem Alter ganz normal und nicht in jedem Fall ein Vorbote oder Zeichen von Demenz. Ein Unterschied zu jungen Leuten ist jedoch tatsächlich, dass Ältere länger brauchen, um Erfahrungen aus ihrem Gedächtnis zurückzuholen, und dass es ihnen mehr Mühe bereitet, verschiedene, schnell aufeinanderfolgende Eindrücke richtig zu verarbeiten. Die Ursache hierfür ist, dass im Alter alle Prozesse des Lebens, also auch das Behalten und Reproduzieren von Gedächtnismaterial, etwas langsamer verlaufen.
Es stimmt auch nicht, dass man nur in höherem Alter dement werden kann. Demenz kommt auch bei unter Sechzigjährigen vor, allerdings nicht sehr häufig.
Und schließlich ist da noch der Irrtum, dass alle Menschen mit Demenz in ihrem Tun und Lassen gleich sind. Tatsächlich sind die Unterschiede bei Demenzkranken ebenso groß wie bei »normalen« Menschen. Mit anderen Worten: Jeder Demenzkranke ist anders und folglich einzigartig.
Ursachen von Demenzerscheinungen
Körperliche Krankheiten können, vor allem bei älteren Menschen, Anlass für Demenzerscheinungen sein. So können bei einem Grippekranken zeitweilig leichte Vergesslichkeit und Unruhe auftreten. Der Gebrauch gewisser Medikamente oder von zu viel Alkohol kann ebenfalls zu verwirrtem Verhalten führen. Auch bei einer schlechten Durchblutung des Gehirns tritt oft erhöhte Vergesslichkeit auf. Und so gibt es noch sehr viele weitere körperliche Ursachen, durch die, manchmal zeitlich begrenzt, Demenzerscheinungen hervorgerufen werden können (s. S. 28).
Auch psychosoziale Probleme führen bei älteren Menschen manchmal zu Demenzerscheinungen. Ein Umzug oder eine Krankenhausaufnahme bringen manche alten Leute so aus dem Gleichgewicht, dass eine zeitweilige Verwirrtheit folgt; die meisten Hausärzte haben in ihrer Praxis alte Menschen erlebt, die nach dem Tod des Partners sehr schnell geistig abbauten. Einsamkeit oder schwere Schicksalsschläge sind andere psychosoziale Faktoren, die Demenzerscheinungen begünstigen können.
Bei etwa fünfundsiebzig Prozent der Menschen, die Erscheinungen von Demenz aufweisen, liegt die Ursache im Gehirn. Da es nicht möglich ist, das Gehirn ohne nachteilige gesundheitliche Folgen bei einem lebenden Menschen diesbezüglich zu untersuchen, ist es immer erst nach dem Tod möglich, mit Sicherheit zu sagen, ob die Ursache der Demenz im Gehirn liegt oder nicht.
Formen der Demenz
Wie erwähnt, ist Demenz ein Sammelbegriff für verschiedene Krankheiten. Im Folgenden werde ich die Varianten erläutern. Eine Bemerkung jedoch zuvor: Es gibt Hinweise darauf, dass die verschiedenen Unterarten der Krankheit nicht so scharf zu trennen sind, wie bisher angenommen wurde (Swart-Zuijderduijn 2004).
Die Alzheimer-Krankheit
»Mein Mann hat zum Glück keine Demenz, sondern Alzheimer. Das hat der Hausarzt mir selbst gesagt.« Das hörte ich vor Kurzem eine telefonierende Frau im Zug sagen. Es lag mir auf der Zunge, sie nach ihrem Telefonat anzusprechen. Hätte ich den Mut gehabt, so hätte ich gesagt: »Entschuldigen Sie bitte, ich habe gerade Ihr Telefongespräch gehört und muss Ihnen etwas Schmerzliches sagen: Alzheimer ist eine Form von Demenz, und zwar die am häufigsten vorkommende.« Denn so ist es tatsächlich. Von allen Menschen mit Demenz leiden sicher siebzig Prozent an der Alzheimer-Krankheit. Dabei...