1 Einleitung
1.1 Definition von Demenz und verwandten Begriffen
Als Demenz im Sinne von ICD-10 wird eine erworbene Erkrankung des Gehirns bezeichnet, die zu einer Störung des Gedächtnisses und mindestens einer weiteren geistigen Leistung führen (zum Beispiel Sprache, Denk- und Urteilsvermögen, räumlich/konstruktive Leistungen). Das Ausmaß der Störung zeigt sich darin, dass die Betroffenen im beruflichen und/oder privaten Alltagsleben behindert sind. Neben der kognitiven Störung kommt es meist auch zu einer Veränderung der Persönlichkeit und des Verhaltens. Die Störung muss seit mindestens sechs Monaten bestehen und nicht nur im Rahmen eines Delirs bestehen.
Doch diese Definition hat einige Mängel:
- bei manchen Demenzkrankheiten steht anfangs nicht eine kognitive Störung, sondern eine Wesensänderung im Vordergrund
- eine Gedächtnisstörung ist ein sehr häufiges, dem Wesen nach aber kein unabdingbares Symptom von Demenzen. Sie kann bei manchen Erkrankungen, zumindest im frühen Stadium, ganz im Hintergrund stehen
- eine Demenz kann sofort nach einmaliger Schädigung auftreten
- eine Demenz kann ausnahmsweise schon vor dem Ablauf von sechs Monaten zum Tod führen
Eine Demenz kann prinzipiell von jeder ausgeprägten Hirnschädigung, gleich welcher Ursache, hervorgerufen werden. Ursache können diffuse oder umschriebene Läsionen sein, die sich akut, subakut oder über Jahre entwickeln. Eine symptomatische Demenz nach einer einmaligen Schädigung kann, im Sinne eines Defektsyndroms, stabil bleiben (zum Beispiel nach Wernicke-Enzephalopathie, Trauma, Insult oder Herpesenzephalitis) oder sich bessern (zum Beispiel nach Behandlung eines Tumors, einer Hirnblutung, eines Normaldruckhydrozephalus oder einer metabolischen Störung). Demenzerkrankungen sind progrediente, prozesshaft verlaufende Gehirnerkrankungen und in vielen Fällen letal. Es sind in erster Linie degenerative und metabolische Erkrankungen des Nervengewebes, im weiteren Sinne auch progrediente Erkrankungen der zerebralen Blutgefäße und metabolische Erkrankungen des Gehirns im Kindesalter.
Leichtere Defizite, die nach einer umschriebenen Schädigung des Gehirns auftreten, werden als »kognitive Störung«, »Hirnleistungsstörung« oder »geistige Leistungsstörung« bezeichnet. Das Zwischenstadium zwischen Normalität und Demenz wird als »Leichte Kognitive Störung« bezeichnet, wenn es sich wahrscheinlich um eine prozesshafte Leistungsabnahme handelt. »Oligophrenie« bezeichnet das Nicht-Erreichen eines normalen geistigen Niveaus. Oligophrene Menschen können aber zusätzlich eine Demenz erleiden; insbesondere erleiden Menschen mit M. Down typischerweise eine Alzheimer-Demenz.
Von einer familiären Demenzerkrankung kann gesprochen werden, wenn mindestens drei Fälle in zwei oder drei Generationen betroffen sind. Der Begriff ist nicht genau definiert. Familär ist nicht gleichbedeutend mit »erblich«, »bekannter Erbgang« oder »Genmutation«. Von einer »familiären Erkrankung mit autosomal-dominantem Vererbungsmuster« kann auch gesprochen werden, wenn die zugrundeliegende Mutation unbekannt ist (Beispiel: familäre Frontotemporale Demenz ohne Tau-Mutation). Sporadische Demenzerkrankungen sind »nicht-erblich«. Viele sporadische Fälle zeigen aber eine familiäre Belastung, treten also in der Familie gehäuft auf, ohne dass ein definierter Erbgang bestünde. Bei solchen familär gehäuften sporadischen Erkrankungen liegen unbekannte oder auch bekannte, das individuelle Risiko modifizierende genetische Merkmale vor, zum Beispiel ein oder zwei Apolipoprotein-ε4-Allele bei M. Alzheimer.
Eine »Leichte Kognitive Störung« oder Mild Cognitive Impairment (ICD 10: F06.7) ist eine erworbene, progrediente, vermutlich organische kognitive Störung, die nicht oder nur in geringem Maß zu einer Alltagsbeeinträchtigung führt. Häufig steht eine Gedächtnisstörung im Vordergrund. Häufig, aber nicht immer stellt sie das Vorstadium einer Demenzerkrankung dar. Die Grenze zwischen MCI und Demenz ist naturgemäß unscharf, unter anderem deshalb, weil die Alltagsanforderungen verschiedener Personen sehr unterschiedlich sind. Bereits eine isolierte Gedächtnisstörung ist mit einer anspruchsvollen Berufstätigkeit unvereinbar. Wegen des Fehlens weiterer Defizite wird in einem solchen Fall dennoch nicht von einer Demenz gesprochen. Umgekehrt können Menschen mit stärkeren Defiziten in der Testuntersuchung in ihrem Alltagsleben noch gut kompensiert sein, so dass von einem MCI und noch nicht von einer Demenz gesprochen werden kann.
1.2 Häufigkeit von Demenzerkrankungen
Es ist bemerkenswert, dass das zentrale Nervensystem, und besonders das Gehirn, als nahezu einziges Organ des Körpers von einer Vielzahl degenerativer Erkrankungen betroffen sein kann. Auf einer sehr allgemeinen Erklärungsebene könnte die Ursache darin gesucht werden, dass die hohe Aktivität und der hohe Metabolismus der Neurone mit einer entsprechenden Beanspruchung der Enzymsysteme und Produktion schädlicher Metaboliten einhergeht. Aufgrund der weitgehend fehlenden Teilung von Neuronen in der Hirnrinde des Erwachsenen kann sich das Gewebe nicht regenerieren. Dadurch werden nicht-abbaubare und toxische Metabolite nicht stets von neuem auf Tochterzellen verteilt und verdünnt, kumulieren also in den Neuronen. Neben der mit Abstand häufigsten Erkrankung, M. Alzheimer, existieren etwa 15 andere degenerative Erkrankungen des Gehirns, die zu einer Demenz führen können.
Demenzerkrankungen sind überwiegend Alterskrankheiten, das heißt, ihre Inzidenz und Prävalenz steigt mit dem Alter nicht nur linear, sondern nahezu exponentiell an. Dies gilt vor allem für die Alzheimersche Erkrankung, die etwa zwei Drittel aller Demenzfälle ausmacht. Das hohe Lebensalter ist, neben der Hypertonie, auch der wesentliche Risikofaktor der Demenz bei subkortikaler arteriosklerotischer Enzephalopathie. Die Frontotemporale Demenz tritt dagegen im Durchschnitt zwei Jahrzehnte früher auf, meist im präsenilen Alter (< 65 Jahre), und hat ihren Häufigkeitsgipfel im sechsten Lebensjahrzehnt, mit anschließend wieder deutlich abnehmender Inzidenz. Etwa dreißig Prozent der Westeuropäer, die das 65. Lebensjahr vollendet haben, werden bis zu ihrem Lebensende eine Demenzerkrankung erleiden.
Die jährliche Neuauftretensrate von Demenzerkrankungen beträgt circa 100 pro 100 000 Einwohner. In einer Stadt mit 200 000 Einwohnern kommen somit pro Jahr circa 200 neue Fälle hinzu (Inzidenz), und es gibt circa 2000 manifest Erkrankte (Prävalenz). Dies entspricht etwa einem Prozent der Wohnbevölkerung. Für ganz Deutschland entspricht dies einer Prävalenz von circa einer Million Erkrankter.
1.3 Grundtypen der Demenz
Bei der Diagnostik und Beschreibung von Demenzsyndromen ist es nützlich, auf bestimmte Grundtypen Bezug zu nehmen und vorliegende Krankheitsbilder, soweit möglich, diesen Typen zuzuordnen. Die Einordnung basiert auf dem Gesamteindruck, dem neuropsychologischen Profil und dem Ort der Schädigung.
1.3.1 Kortikale Demenz
Bei Schädigung vor allem der Hirnrinde bestehen »Werkzeugstörungen« umschriebener höherer geistiger Leistungen: Sprache, räumliches Denken, visuelles Erkennen, Praxis. Diese Werkzeugleistungen sind bis zu einem gewissen Grad bestimmten Regionen der Hirnrinde zugeordnet. Dagegen sind basale Leistungen wie Wachheit, Aufmerksamkeit, Antrieb und Persönlichkeit, oft in starkem Kontrast zur Demenzsymptomatik, zunächst gut erhalten. Auch eine Gedächtnisstörung gehört oft zum Bild der kortikalen Demenz, ist aber unspezifisch. Der Prototyp der kortikalen Demenz ist die Alzheimersche Krankheit (AD). Demenzen bei Schädigung der frontalen Hirnrinde werden als eigenständiger Typ aufgefasst (siehe 1.3.3). Andere kortikale Demenzformen sind zum Beispiel Defektsyndrome nach zerebraler Hypoxie oder multiplen kortikalen Infarkten.
Eine kortikale Demenz tritt nicht selten gemischt mit subkortikalen Schädigungen auf, zum Beispiel bei der Multiinfarktdemenz, der kortikobasalen Degeneration, der Lewy-Körperchen-Erkrankung, der post-anoxischen Enzephalopathie und anderen symptomatischen Ursachen.
1.3.2 Subkortikale Demenzformen
Subkortikale Demenzen sind Erkrankungen mit Schädigung des zerebralen Marklagers, des Thalamus, des Ncl. Caudatus und aminerger sowie cholinerger Projektionskerne (Ncl. basalis Meynert, Ncl. Coeruleus, dopaminerge und serotonerge Kerne). Diese Strukturen stellen weit verzweigte Verbindungen zwischen Teilen der Hirnrinde her und bewirken eine Stimulation und Modulation der Aktivität ihrer Neurone. Werden sie geschädigt, kommt es zu einer diffusen De-Afferentierung, De-Efferentierung und De-Aktivierung der Hirnrinde, und damit zu einer Desintegration neuronaler Netzwerke. Klinisch resultiert ein unspezifisches, also schwer in Subtypen zu differenzierendes Krankheitsbild, das in vieler Hinsicht ein Gegenstück zur kortikalen Demenz darstellt. Die Patienten sind verlangsamt, konzentrationsschwach, antriebsgemindert, unspontan und wirken in ihrer Gesamtpersönlichkeit und ihrem mentalen Niveau reduziert. Dieses Syndrom ist quasi auf den ersten Blick zu erkennen. Es bedarf aber einer Abgrenzung gegenüber nicht-zerebralen und nicht-organischen Ursachen, die sich ähnlich unspezifisch manifestieren können.
Die Patienten zeigen weder auffallende Werkzeugstörungen noch Störungen des Gedächtnisses, sondern können die entsprechenden Leistungen bis zu einem gewissen Grad noch erbringen, wenn auch mühsam und...