Ein zentraler Aspekt dieser Arbeit liegt darin, dass Demokratie-Lernen in der Schule von den bestehenden Verhältnissen ausgehen muss. Vorgaben, die durch den Lehrplan und den institutionellen Rahmen von Schule gegeben sind, müssen in den Überlegungen über eine Umsetzung des Demokratie-Lernens berücksichtigt werden.
In diesem Abschnitt wird deshalb der Frage nachgegangen, welche Aufgaben die Schule als Ganzes und der Sozialkundeunterricht im Speziellen erfüllen müssen und können. Vorneweg ist die Frage zu stellen, welchen Einfluss Schule überhaupt auf die Lebenswelt der Schüler hat, um realistisch beurteilen zu können, was mit der idealen politischen Bildung maximal zu erreichen wäre.
3.1 Der allgemeine Bildungsauftrag
Palentien und Hurrelmann schreiben der Schule zwei Bedeutungen zu. Zum einen dient sie der curricularen Wissensvermittlung. Insbesondere sollen intellektuelle und soziale Fähigkeiten entwickelt werden. Schule soll die Schüler dazu befähigen, Kompetenzen zur Problembewältigung zu erlangen, „gerade in einer reizüberfluteten und unübersichtlichen Welt.“ (Palentien / Hurrelmann 2003: 9)
Zum anderen ist Schule ein Ort der Kommunikation. Schüler kommunizieren mit Schülern und mit Lehrern, auch außerhalb des Unterrichts. Hier hat sie die Aufgabe, die sozialen Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen zu stärken, insbesondere „im Rahmen der [...] Möglichkeiten der Mitbestimmung und Mitwirkung.“ (Ebd.)
Wolfgang Sander schreibt der Schule vier Aufgabenbereiche in der politischen Bildung zu. Dabei nennt er den Politikunterricht als Unterrichtsfach, demokratisches[25] Lernen als Unterrichtsprinzip, demokratische Erziehung durch soziales Lernen und demokratische Erziehung durch demokratische Handlungserfahrung (vgl. Sander 1997: 232).
Die Schulgesetze der einzelnen Bundesländer sehen die Aufgaben der Schule in der Vermittlung von Wissen und Können. Die Schüler sollen in der Lage sein, „das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage von Demokratie, Frieden, Freiheit und Menschenwürde zu gestalten.“ (Trommer 1999: 72) Die dazu erforderlichen Kompetenzen, wie Informiertheit und Urteilsfähigkeit, werden in der Schule erworben. Alle Lehrer sind angehalten, in ihren Fächern politische Bildung als Unterrichtsprinzip zu beachten. „Schule muß also nicht nur Inhalte vermitteln, sie muß sich auch einer demokratischen Unterrichtskommunikation und der Möglichkeit zu Partizipation und Mitbestimmung öffnen“ (ebd.).
So sehen das auch die 28 Länder, die an der Civic Education Studie (vgl. Kapitel 2.5.2) teilgenommen haben:
„Während es bezüglich der Aufgaben des Fachs Politik zwischen einzelnen Ländern durchaus unterschiedliche Ansätze gibt, gibt es eine einheitliche Auffassung von Schule als demokratischer Institution zum Erwerb demokratischer Kompetenzen.“ (Oesterreich 2002: 72)
Ob diese Ansprüche erfüllt werden, wird in den Kapiteln 4.1 und 4.3 untersucht.
3.2 Der Bildungsauftrag des Sozialkundeunterrichts
„Das primäre Ziel des Sozialkundeunterrichts besteht darin, zur politischen Mündigkeit und demokratischen Handlungsfähigkeit der Heranwachsenden beizutragen.“ (Kötters-König 2002: 115)
Der Lehrplan Rheinland-Pfalz sieht folgendes allgemeines Ziel vor:
„Allgemeines Ziel politischer Bildung ist die Vermittlung der Fähigkeit und Bereitschaft zur politischen Beteiligung und zum politischen Handeln durch möglichst unvoreingenommene Information, gewissenhafte Urteilsbildung und verantwortliche Entscheidung nach Maßgabe des Grundgesetzes (Menschenwürde, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit).“ (MBWW RP: 239)
Auch wenn an dieser Stelle der Begriff der politischen Bildung und nicht „Demokratie-Lernen“ verwendet wird, beinhalten die Lernziele doch einige Komponenten des Demokratie-Lernens nach unserer Definition. So werden Fähigkeiten wie Selbstbestimmung, Mitbestimmung, soziale Kompetenz, Toleranz, kritisches Urteilen sowie Wissen um gesellschaftliche Zusammenhänge und die politische Ordnung als vorrangige Lernziele dargestellt (vgl. ebd.: 239f). „Diese Qualifikationen beschreiben die Fähigkeiten und Haltungen, die [...] den politisch mündigen Bürger kennzeichnen.“ (Ebd.: 240)
Noch eindeutiger sind die Zielvorgaben im „Darmstädter Appell“, einem Aufruf verschiedener Fachdidaktiker und Fachwissenschaftler zur Reform der politischen Bildung in der Schule aus dem Jahre 1995. Hier werden drei wesentliche Kompetenzen gefordert, um die Bürgerrolle auszufüllen. Bei diesen drei Komponenten handelt es sich um das Wissen über das politische und gesellschaftliche System und den Ablauf politischer Prozesse, um Einstellungen wie Kompromissbereitschaft oder Konfliktfähigkeit, sowie um Fähigkeiten wie Entscheidungs- und Problemlösungsfähigkeit und Kompetenzen zur Partizipation (vgl. Darmstädter Appell 1995: 6).
Zur Umsetzung dieser Ziele fordert der Lehrplan fünf didaktische Prinzipien:
„Schülerorientierung“,
„Problemorientierung“,
„Handlungsorientierung“,
„Kontroversität“ und
„Wissenschaftsorientierung“ (MBWW RP 1998: 240ff).
„Schülerorientierung“ bedeutet, die Themen nach Interesse und Betroffenheit der Schüler auszuwählen, altersgerechte Lernplanung, selbstständiges und verantwortliches Lernen und Arbeiten zu ermöglichen, sowie konkrete und anschauliche Beispiele zu verwenden (ebd.: 240).
„Problemorientierung“ meint, dass die Lernziele anhand von konkreten Problemstellungen erreicht werden sollen. Das Lernen soll in „authentischen oder auch simulierten Situationen“ (ebd.: 241) erfolgen.
Das Prinzip der „Handlungsorientierung“ zielt darauf ab, erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten auch aktiv ausprobieren zu können. Dies kann durch Formen im Unterricht, „die selbständiges Lernen und Arbeiten verlangen“ (ebd.) erreicht werden. Außerdem sollen die Lehrer schulische Partizipation ihrer Schüler unterstützen (vgl. auch Kapitel 5.1.4).
„Kontroversität“ bedeutet, dass Themen und Inhalte, die politisch und wissenschaftlich kontrovers diskutiert werden, auch im Unterricht als solche behandelt werden müssen. „Eine Indoktrinierung und Überwältigung der [...] Schüler ist unter allen Umständen zu vermeiden.“ (Ebd.) In diesem Punkt sind die ersten beiden Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses verwirklicht. (Vgl. Kötters-König 2002: 117)
Das didaktische Prinzip der „Wissenschaftsorientierung“ weist darauf hin, dass sich „das Fach Sozialkunde [...] an den Bezugswissenschaften Politikwissenschaft, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften“ (MBWW 1998: 241) orientiert und dass den Schülern elementare wissenschaftliche Methoden vermittelt werden.
Schließlich weist der Lehrplan darauf hin, verschiedene Methoden anzuwenden und zwar solche, „die Selbsttätigkeit, Kooperationsfähigkeit und Selbstverantwortung fördern. Diese Methoden orientieren sich mehr am Lernen durch Erfahren als am Lernen durch Belehrung“ (ebd.: 242). Als Beispiele werden Rollen- und Planspiele, Realbegegnungen oder fächerübergreifende Projekte genannt (vgl. ebd.).
Im folgenden Kapitel werden verschiedene Bürgerleitbilder vorgestellt. Diese Leitbilder sollen eine Orientierung geben, welche Bildungsziele der Sozialkundeunterricht für die Schüler anstreben sollte.
3.3 Ziele des Sozialkundeunterrichts - Bürgerleitbilder
Wenn im Darmstädter Appell davon die Rede ist, die Schüler müssen „die Befähigung [...] zur Wahrnehmung ihrer Bürgerrolle in der Demokratie“ (Darmstädter Appell 1995: 6) erhalten, so stellt sich die Frage, was denn eigentlich diese Bürgerrolle beinhaltet. In der fachdidaktischen Diskussion sind verschiedene Formen von Bürgerleitbildern im Gespräch.
1. Der „politisch desinteressierte Bürger“ kümmert sich nicht viel um Politik. Er verzichtet auf jegliche Teilnahme am politischen Leben (vgl. Detjen 2000: 30).
2. Der „reflektierte Zuschauer“: Dieser „muß zumindest soviel über die Zusammenhänge des politischen Lebens wissen, daß er sie einigermaßen beurteilen kann.“ (Ackermann 1998: 14) Der reflektierte Zuschauer ist politisch nicht aktiv, geht aber zur Wahl und nimmt Kenntnis vom politischen Geschehen (vgl. Detjen 2000: 31)
3. Der „interventionsfähige Bürger“ engagiert sich zwar nicht dauerhaft politisch, ist aber in der Lage, ins...