| Formen und Verläufe von Depressionen
Wie schon erwähnt sind die Erscheinungsbilder der Depression vielfältig, sowohl in ihrer Symptomatik als auch in den Verläufen. Eine früher übliche Einteilung nach der vermuteten Ursache, ob sie von inneren – endogenen – Ursachen ausgelöst oder von äußeren Bedingungen her reaktiv bzw. neurotisch-fehlangepasst entstehen, ist heute überholt, weil das multifaktorielle Geschehen besser zur Erklärung dient. Stattdessen werden gemäß dem Einteilungssystem ICD-10 der WHO die Depressionsarten nach ihren Symptomen, ihrer Dauer und Schwere sowie ihrem Verlauf beschrieben. Zur Kategorisierung werden als Abkürzung Ziffernfolgen verwendet, beispielsweise steht F32.0 in der ICD-10 für eine Leichte depressive Episode. Solch eine Ziffernfolge finden Sie z. B. auf einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung Ihres Arztes, denn seine Diagnose muss immer eine ICD-10 Kategorie enthalten, wenn er seine Leistungen mit Kostenträgern abrechnen will.
Da in unserem Gesundheitssystem die Verwendung der ICD-10 (insbesondere bei psychischen Störungen) obligatorisch ist, beziehen sich alle weiteren Ausführungen auf dieses Klassifikationssystem.
| TIPP: Einen schnellen Hinweis, was Ihr Arzt mit den Ziffern diagnostiziert hat, erhalten Sie, wenn Sie diese einfach in eine Internetsuchmaschine eintippen. Genau und offiziell nachzulesen ist die Diagnose unter www.dimdi.de, dem Dokumentationsinstitut des Bundesgesundheitsministeriums. |
Depressionen zählen zu den sogenannten affektiven Störungen. Damit ist gemeint, dass sie in Zusammenhang mit Stimmungs- und Aktivitätsveränderungen stehen. Zu dieser Gruppe gehören auch Störungen, die sich in einer krankhaften Übersteigerung von Antrieb, Stimmung und Aktivitäten ausdrücken, die Manien, welche der Depression entgegengerichtete Symptome zeigen.
Es gibt ein Krankheitsbild, das beide affektiven Pole beinhaltet, die bipolaren affektiven Störungen mit wechselnden Phasen von depressiven und manischen Episoden. Kommen ausschließlich depressive oder manische Phasen vor, werden sie jeweils als unipolar bezeichnet.
Dieser Ratgeber befasst sich hauptsächlich mit den unipolaren Depressionen. Ein Exkurs zu den bipolaren Störungen und damit auch zur Manie ist dennoch erforderlich, weil sich manchmal Depressionen zum anderen Pol hin entwickeln können. Dieser Exkurs erfolgt im Unterkapitel „Weitere Depressionsarten“.
Wann aber wird nun konkret von einer behandlungsbedürftigen Depression, im Unterschied zur Umgangssprache und normalen Stimmungsschwankungen, ausgegangen?
Als Voraussetzung für eine klinische, bedeutsame Depression gilt:
Dauer der Symptomatik: mindestens 2 Wochen ununterbrochen
Hauptsymptome liegen während der meisten Zeit des Tages vor:
Depressive Verstimmung/Niedergeschlagenheit
Verlust von Interesse und Freude
Verlust von Antrieb und Energie, hohe Ermüdbarkeit
Zusatzsymptome:
Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
Selbstvorwürfe, Schuldgefühle
Pessimistische Zukunftsperspektiven
Suizidgedanken, Selbstverletzung oder Suizidhandlung
Schlafstörungen
Appetitverlust und Gewichtsveränderung
Psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit
Der Schweregrad ergibt sich aus der Anzahl und der Kombination der Symptome:
Leichte Depression: | mind. 2 Hauptsymptome und 2 Zusatzsymptome |
Mittelgradige Depression: | mind. 2 Hauptsymptome und 3 bis 4 Zusatzsymptome |
Schwere Depression: | Alle 3 Hauptsymptome und mindestens 4 Zusatzsymptome |
Zusätzlich kann eine Reihe körperlicher Beeinträchtigungen vorhanden sein.
Oft leiden die Betroffenen in den frühen Morgenstunden stärker unter den Symptomen, dieses Phänomen wird als ‚Morgentief‘ bezeichnet.
Für die Diagnosestellung ist es wichtig, dass die Symptome nicht auf andere Erkrankungen zurückzuführen sind, wie z. B. Multiple Sklerose, Tumorerkrankungen etc. Auch der Einfluss von Medikamenten oder Suchtmitteln muss auszuschließen sein.
Eine leichte Depression bedeutet übrigens nicht, dass die Betroffenen nicht darunter leiden und sich nur etwas mehr anstrengen müssen, um da wieder herauszukommen. Im Gegensatz zu den anderen beiden Schweregraden gelingt es ihnen meistens noch, ein Minimum an alltäglichen Verpflichtungen aufrechtzuerhalten. Gerade dieses ‚Durchbeißen‘ kann aber zu einer weiteren Verschlechterung des Zustandes führen, da alles schwerfällt, viel Kraft kostet und Erschöpfung und Selbstvorwürfe, zu wenig zu schaffen, zunehmen etc. Eine Behandlung ist u. U. genauso erforderlich wie bei den anderen Schweregraden, sie kann helfen, die Leidenszeit zu verkürzen (s. a. „Erste Behandlungsstrategie: Aktiv-abwartende Begleitung“).
Weitere Depressionsarten
Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Erscheinungsformen, die ganze Lehrbücher füllen, außerdem – wie schon erwähnt – die immer noch kursierenden Einteilungen nach den vermeintlichen Ursachen, wie z. B. reaktive Depressionen. Hier beschränken wir uns auf die Einteilung nach ICD-10 und nehmen noch kurz einige Sonderformen auf, die erwähnenswert scheinen.
Dysthymie
Im Unterschied zum Vollbild einer depressiven Episode oder Major Depression ist eine Dysthymie zwar nicht so schwer, aber sie dauert wesentlich länger, da sie als chronische Erkrankung gilt. Sie beginnt häufig im jungen Erwachsenenalter und kann manchmal sogar lebenslang anhalten, wobei die Intensität wechselt und es auch ‚gute‘ Phasen gibt, die leider selten länger als einige Tage oder Wochen anhalten. Die Betroffenen sind in der Regel müde, alles strengt sie an, sie fühlen sich niedergeschlagen, freudlos und den Anforderungen nicht gewachsen. Es ist zwar in der Regel möglich, den Alltag aufrechtzuerhalten, aber es fehlt in allem ein Gefühl der Befriedigung und Selbstbestätigung. Dieser Zustand ist trotz der geringeren Beschwerdeintensität wegen seiner Dauer und Zähigkeit sehr belastend.
Kennzeichen einer Dysthymie sind:
Dauer: mind. 1 Jahr
Hauptsymptom:
Depressive Verstimmung
Zusatzsymptome:
Verminderte Energie, schnelle Erschöpfung
Freudlosigkeit
Vermindertes Selbstwertgefühl, Versagensängste
Hoffnungslosigkeit
Bipolare affektive Störung
Diese früher als manisch-depressive Erkrankung bezeichnete Störung lässt sich gut mit den Worten ‚Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt‘ beschreiben. Nur dass diese Phasen nicht innerhalb kurzer Zeit wechseln, sondern jeweils eine gewisse Zeit andauern und der Übergang langsam vonstattengehen kann, bzw. zwischenzeitlich gar keine Symptome vorliegen. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen, bei 4–7 % aller Depressionen entwickeln sich bipolare Störungen. Die depressiven Episoden sind häufiger als die manischen, ihre Symptomatik entspricht denen der unipolaren Depression. Einige Studien berichten von Unterschieden bei Schlafstörungen und körperlichen Beschwerden, allerdings sind diese Erkenntnisse noch unsicher, deshalb lässt sich eine unipolare von einer bipolaren depressiven Episode nur im Verlauf unterscheiden.
Die bipolare affektive Störung ist eine gefährliche Erkrankung, 10–15 % aller nicht behandelten Betroffenen beenden ihr Leben durch Suizid.
Kennzeichen einer manischen Phase sind:
Dauer: mind. 1 Woche
Hauptsymptom:
Eine abnorm gehobene, expansive oder reizbare Stimmung über die meiste Zeit des Tages
Zusatzsymptome:
Übersteigertes Selbstwertgefühl, Größenideen, übertriebener Optimismus
Übersteigerter Antrieb und Aktivitätsdrang in allen Lebenssituationen
Extrem vermindertes Schlafbedürfnis
Hoher Rededrang
Sprunghaftigkeit im Denken, Gedankenflut
Hohe Ablenkbarkeit
Psychomotorische Unruhe, Betriebsamkeit, Hektik
Verändertes, distanzloses Sozialverhalten
Leichtsinnige, expansive Unternehmungen mit hohem Risiko, oft verbunden mit ruinösen finanziellen Geschäften
Den Betroffenen geht es in ihrer manischen Phase nach eigenem Ermessen hervorragend, sie sind voller Tatendrang, Optimismus, die Welt gehört ihnen und nichts und niemand kann sie aufhalten. Das ist für Angehörige und die gesamte Umwelt sehr belastend, Bedenken oder gar Kritik werden nicht ernst...