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Das frühe Rom – ein erster Überblick
Im neunten Jahrhundert war Rom lediglich eine von mehreren Siedlungen, die in Latium emporwuchsen.[1] Es mag größer gewesen sein als viele seiner Nachbarn, doch einen besonderen Anspruch auf Prominenz konnte es nicht erheben, weder in der Region noch gar darüber hinaus. Die mächtigsten und dynamischsten Gemeinschaften im Mittelitalien dieser Zeit fanden sich in Etrurien, nördlich des Tiber. Doch im dritten Jahrhundert hatte sich Rom bereits zu einem machtvollen Stadtstaat entwickelt, die Kontrolle über ganz Italien übernommen und war bereit, ein den gesamten Mittelmeerraum umspannendes Imperium zu erobern. In diesem Buch gehe ich der Frage nach, wie sich Rom entwickelte, von seinen Ursprüngen bis in die Mitte des dritten Jahrhunderts, wie seine Herrschaft über Italien beschaffen war und warum es zu einem solchen Grad der Machtentfaltung befähigt war. Die früheste Geschichte Italiens und Roms ist zeitlich weit entfernt, doch sie spricht in erstaunlichem Ausmaß Phänomene an, die auch unsere Moderne angehen. Die damaligen Gesellschaften waren mit den Belastungen und Spannungen in multi-ethnischen Gemeinwesen konfrontiert; sie hatten mit großen sozialen, politischen und rechtlichen Ungleichheiten zu kämpfen, und neben breiten Bürgerschaften stand eine internationale Elite. Im dritten Jahrhundert hatte Rom ferner mit den ethischen und praktischen Fragen zu tun, die sich aus der schnellen imperialen Expansion ergaben.
Roms Entwicklung fand nicht im luftleeren Raum statt; sie kann nur in einem größeren italischen Zusammenhang verstanden werden. Dieses Buch verfolgt daher auch das Ziel, die weiter gespannte Geschichte Italiens, seiner Völker und Kulturen vorzustellen sowie deren Beziehungen zu Rom zu untersuchen. Die Überlieferung ist selbstverständlich für Rom sehr viel komplexer als für andere italische Gemeinwesen, da wir sowohl ausführliche antike Berichte zur frühen Geschichte der Stadt als auch reiches archäologisches Material haben; freilich stellen beide die Deutung vor Probleme. Die Kapitel dieses Buch wechseln daher die Perspektive: Kapitel über Italien entwickeln die größeren, übergreifenden Themen, jeweils gefolgt von Kapiteln über Rom im Besonderen. Den Schluss bilden die Beziehungen zwischen Rom und seinen Nachbarn.
Die Quellen für diese frühe Zeit sind hochproblematisch. Es gibt reiches archäologisches Material aus den meisten Regionen Italiens, doch die Grabungsbefunde aus Rom selbst sind fragmentarisch und schwierig zu deuten, da die Stadt seit der Antike kontinuierlich besiedelt ist. Die literarischen Quellen werfen ähnlich diffizile Probleme auf. Es gibt einige zeitgenössische Hinweise auf die italische und römische Geschichte in griechischen Quellen des fünften und vierten Jahrhunderts; die frühesten römischen Historiographen hingegen, deren Werke zudem nur fragmentarisch greifbar sind, schrieben im späten dritten und zweiten Jahrhundert.[2] Einige Autoren der mittleren und späten Republik, deren Werke überliefert sind – unter ihnen Polybios (zweites Jahrhundert) sowie Cicero und Varro (beide erstes Jahrhundert) –, haben in ihren Werken Nachrichten über das frühe Rom eingefügt, doch die frühesten Erzählungen für diesen Zeitraum bieten Livius und Dionysios von Halikarnassos, die beide im späten ersten Jahrhundert schrieben. Da zeitgenössische Textzeugnisse fehlten, hatten die Verfasser dieser überlieferten Werke bestenfalls begrenzte Kenntnisse der Zeit vom zwölften bis zum vierten Jahrhundert und schlimmstenfalls überhaupt keine authentischen Informationen. Die Römer pflegten zwar offizielle Aufzeichnungen und Archive, doch wann diese Praxis begann, ist unklar. Private oder öffentliche Dokumentationen waren in der Zeit vor der Gründung der Republik höchstwahrscheinlich sehr begrenzt, oder sie existierten überhaupt nicht; überdies waren sie anfällig für Beschädigung. Eine Einführung in die antiken Berichte zum frühen Rom und eine Diskussion einiger der von ihnen aufgeworfenen Probleme findet sich im Anhang ›Zur Quellenlage‹.
Das antike Italien war ein sehr vielgestaltiger Raum, mit einer großen Bandbreite an klimatischen Bedingungen, natürlichen Ressourcen und Landschaftsformen, von den Hochgebirgsregionen des fernen Nordens über die Ebenen von Latium und Kampanien bis hin zu den trockenen Bergen Kalabriens. Fruchtbare Ebenen entlang der Küste und in einigen Flusstälern, namentlich des Po, wechseln sich mit eher gebirgigen Gegenden ab. Die Apenninen bilden das Rückgrat Italiens: ein Kamm hochgelegenen und ungastlichen Geländes, der sich über die Länge der Halbinsel erstreckt und Italien in zwei getrennte Hälften scheidet. Die natürlichen Kommunikationsbarrieren zwischen den Küsten der Adria und des Tyrrhenischen Meeres sorgten dafür, dass diese Regionen sich kulturell und wirtschaftlich sehr unterschiedlich entwickelten.
Italien lag ansonsten günstig. Hier schnitten sich seit alters viel frequentierte Handelsrouten: zur See von Griechenland und dem östlichen Mittelmeerraum nach Spanien, Frankreich und Nordafrika, zu Land über die Alpen ins nördlichere Europa. An der langen Küstenlinie gab es viele natürliche Häfen, und die Halbinsel bot einen nahegelegenen und praktischen Übergang für Menschen und Güter aus Westgriechenland und von der dalmatinischen Küste, ebenso für Leute, die sich um die Inseln im westlichen Mittelmeer herum bewegten. Italien und seine Bewohner waren durch ein weit gespanntes Netzwerk von Kontakten verbunden, das sich vom Nahen Osten und Ägypten bis nach Mitteleuropa erstreckte. Dieser Umstand spiegelte sich nicht allein in Einfuhren aus Griechenland und dem Osten, sondern auch in beider Einfluss auf viele italische Kulturen, wie er sich aus diesen Kontakten ergab. Ein lebendiges Beispiel dafür ist Rom, das bereitwillig kulturelle Stile und Gebräuche aus ganz Italien und dem Mittelmeerraum entlehnte und adaptierte, ohne jedoch die eigene römische Kernidentität je aus dem Blick zu verlieren.
Die Küstenebenen waren dicht besiedelt. Schon früh bildete sich hier der Stadtstaat als die hauptsächliche soziale und politische Organisationsform aus, wie man an der hohen Dichte städtischer Siedlungen ablesen kann (Karte 1). Vom neunten bis zum siebten Jahrhundert etablierten sich zunächst proto-urbane Siedlungen. Während jedoch in Griechenland die natürlichen Grenzen des Gebietes einer jeden Stadt ziemlich klar gezogen waren, bildeten in Italien die Apenninen die einzige größere Landschaftsbarriere. Einige niedriger gelegene Regionen sind zwar durch Ketten etwas bergigeren Landes gegliedert, doch es gibt ausgedehnte Gebiete ohne klare natürliche Grenzen – eine gute Voraussetzung für Gebietskonflikte und zwischenstaatlichen Hickhack. Die meisten Flachlandregionen waren reich an fruchtbarem Land und mineralischen Ressourcen; daher überrascht es nicht, dass der Krieg in diesen Gebieten mehr oder minder zuhause war und die wachsenden Städte miteinander um immer größere Anteile an Land und Reichtum konkurrierten.
Urbanisierung bildet das Schlüsselkonzept zum Verständnis der Entwicklung Italiens, doch ist sie nicht leicht zu definieren, und so gibt es ein weites Spektrum an wissenschaftlichen Bemühungen darum. Bereits in der antiken Welt gab es nennenswerte Unterschiede: Im klassischen Griechenland war die Eigenart einer Stadt durch ihre Bewohner sowie ihre physische Gestalt bestimmt, doch spätere griechische Autoren klassifizierten Städte danach, ob sie bestimmte bauliche Eigenschaften aufwiesen, während die Römer sie nach rechtlichen Kategorien ansprachen: als Gemeinwesen mit einer von Rom gewährten Verfassung.[3] Moderne wissenschaftliche Ansätze liegen ähnlich weit auseinander, wobei der jüngste und umfassendste dem »Copenhagen Polis«-Projekt zugrunde liegt: Dort werden antike Städte definiert als Siedlungen mit mindestens 1000 Einwohnern und einem Gebiet von nicht...