Denkt man an die großen Ereignisse des Lebens zurück, dann sind es oft scheinbare Kleinigkeiten, die einem als Erstes ins Gedächtnis kommen. Es kann ein Geruch sein, ein Gespräch oder ein Geschmack, der spontan die Vergangenheit lebendig werden lässt. Für mich ist es ein Geräusch, das mich zurückbringt in die Welt von Meister Shi Yang He und zu den Mönchen von Shaolin. Ein leises, sattes Klatschen, wie es entsteht, wenn jemand mit der flachen Hand auf seinen ausgestreckten Fußrücken schlägt. Wann immer ich etwas Ähnliches höre, habe ich umgehend den Klosterhof vor Augen, und ich sehe mich selbst, versteckt hinter einer dünnen Säule, wie ich auf eine kleine Gruppe Menschen in orangefarbenen Mönchsgewändern starre.
Zwar war die rote Stütze, hinter der ich mich notdürftig verbarg, viel zu schmal, um meinen ganzen Körper zu verdecken. Doch sie gab mir ein Gefühl der Sicherheit, während ich die jungen Männer beobachtete, die sich wenige Meter von mir zu einer beängstigenden Choreografie bewegten. Die Reihenfolge ihrer Bewegungen schien einem klar definierten Muster zu folgen. Zuerst stießen sie mit einem kurzen Schrei die rechte Faust nach vorne, ließen dann die linke folgen und zogen schließlich beide Fäuste blitzartig zurück an die Hüfte. Ein kurzes Verharren, wieder ein Schrei. Dann ein hoher Sprung, und die Männer ließen sich rücklings auf den Steinboden fallen. Reflexartig schloss ich die Augen. Doch kaum hatte ich sie wieder geöffnet, da war auch die Truppe schon auf den Beinen, und der Ablauf begann von vorne.
Ich beobachtete die Männer mit einer Mischung aus Angst und Faszination. Mir fiel auf, dass die Mitglieder nicht nur in ihren Bewegungen eine perfekte Einheit bildeten. Auch sonst waren sie kaum zu unterscheiden. Alle hatten das schwarze Haar gleich kurz geschoren. Am Körper trugen sie ein orangefarbenes Oberteil und dazu eine weit geschnittene Hose in derselben Farbe. Die Beine waren unten von weißen Strümpfen bedeckt, die ein schwarzes, im Zickzack gebundenes Band eng an den Unterschenkeln hielt, und die Füße steckten in weißen, flachen Turnschuhen einer mir unbekannten Marke. Einzig derjenige, der die Gruppe zu befehligen schien, wich etwas von dieser Norm ab. Zwar war auch er mit der orangefarbenen Hose, weißen Stutzen und den gleichen Schuhen bekleidet, doch trug er trotz der empfindlichen Kälte obenherum nur eine weiße, ärmellose Weste, von der grimmig die gestickten Embleme eines Tigers und eines Drachen herabblickten.
Nachdem der Trainer eine Zeit lang schweigend seine Schützlinge beobachtet hatte, gab er ein kurzes Kommando. Augenblicklich unterbrachen die Männer die Übung und stellten sich in Viererreihen vor ihm auf. Sichtlich zufrieden ließ der Meister den Blick über die Gruppe schweifen. Dann setzte ein weiteres Kommando die Mönche erneut in Bewegung. In exaktem Gleichschritt hoben die Männer nun das rechte Bein so weit in die Höhe, dass die Zehenspitzen über den Kopf ragten, und schlugen sich dabei mit der Handfläche auf den Fußrücken. Dann stellten sie den Fuß zurück und wiederholten die Übung mit dem zweiten Bein. Rechts. Klatsch. Links. Klatsch. Rechts. Klatsch. Klatsch. Klatsch.
Während ich das Geschehen beobachtete, begannen meine Gedanken abzuschweifen. Ich dachte an zu Hause. Wie es wohl meinen Kollegen ging, von denen keiner geglaubt hatte, dass ich jemals diesen Ort erreichen würde? Bald zwei Monate war ich jetzt unterwegs und hatte mich kein einziges Mal daheim gemeldet. Kurz verspürte ich ein schlechtes Gewissen und nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit zumindest eine Postkarte zu schreiben. Die Mönche marschierten weiter mit diesem Klatschen im Hof herum, und ich dachte lächelnd daran, dass sich in diesem Moment ein Traum erfüllt hatte.
Begonnen hatte alles an einem dieser dunklen, trüben Herbstabende, an denen ich nichts anderes tun konnte, als mir die Zeit bis zum nächsten Arbeitstag mit Lesen zu vertreiben. Gelangweilt nahm ich eine der Zeitschriften in die Hand, die mir jeden Monat geliefert wurden, weil ich zu bequem war, das Abonnement zu kündigen. Ich blätterte lustlos durch die Seiten und wollte sie gerade wieder zurück auf den Stapel legen, als mein Blick an einem leicht unscharfen Porträt hängen blieb. Das Bild nahm die ganze Seite ein und zeigte einen Mann, der offensichtlich aus Asien stammte. Gebannt starrte ich auf das Foto. Etwas faszinierte mich an dem Mann. Angestrengt versuchte ich, dahinterzukommen, was es war. Der Bildunterschrift konnte ich entnehmen, dass es sich um einen chinesischen Mönch handelte. Doch allein die Tatsache, dass der Fotografierte Asiate war, reichte nicht, um mich derart anzusprechen. Es musste noch etwas anderes sein. Ich legte mir die Zeitschrift auf die Knie und ließ das Foto auf mich wirken. Langsam wurde mir klar, wo die Faszination herrührte. Der Abgebildete strahlte eine Ruhe und Überlegenheit aus, die sich selbst über das Foto auf mich übertrug. Obwohl ich müde war, beschloss ich, die zu dem Bild gehörende Geschichte zu lesen.
Nach den ersten Zeilen war meine Müdigkeit wie weggeblasen. Der Artikel handelte von einem Reisenden, der in den heiligen Bergen Chinas ein im Westen bis dahin unbekanntes Kloster entdeckt haben wollte. Angeblich verfügten dessen Mönche über ein geheimnisvolles Wissen, das sie seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergaben. War das der Grund für die Ruhe, die dieser Mann ausstrahlte? Ungeduldig überflog ich die Beschreibung der abenteuerlichen Anreise, bis ich zu der Stelle kam, an der es um die Bewohner des Tempels ging. Aufgeregt richtete ich mich auf. Die Mönche, so schrieb der Verfasser, verfügten über Fähigkeiten, mit denen sie ihren Tempel seit mehr als eineinhalb Jahrtausenden gegen alle Angreifer verteidigt hatten. Unsicher, ob ich die Geschichte glauben sollte, unterbrach ich die Lektüre. Konnte so etwas ernsthaft existieren? Oder versuchte hier jemand, mit einer gut erfundenen Story Geld zu verdienen? Andererseits, wie sonst hätte mich der Mönch auf dem Foto derart berühren können?
Es folgten einige Zeilen über die Geschichte des Tempels, welche der Legende nach auf einen indischen Mönch zurückging. Dann blieb mein Blick an einer fett gesetzten Zwischenüberschrift hängen. »Seit der Gründung des Klosters galten die Mönche von Shaolin als unbesiegbare Meister des waffenlosen Nahkampfes.« Die Worte brummten in meinem Kopf. Unbesiegbare Meister. Ich blätterte zurück zu dem Porträt. War der Mann auf dem Foto tatsächlich unbesiegbar? Wirkte er vielleicht deshalb so glücklich? Ich zwang mich, den Blick von dem Mönch zu nehmen und weiterzulesen. »Seit der Gründung des Tempels im fünften Jahrhundert arbeiteten die Mönche unablässig an der Entwicklung und Vervollkommnung von Techniken, mit denen sie ihre Körper in tödliche Waffen verwandeln konnten.« Erneut legte ich die Zeitschrift zur Seite und schloss verwirrt die Augen. Seit wann gab es kämpfende Mönche? Hatte der Verfasser des Artikels zu viel mit den falschen Drogen experimentiert? Oder hielt er seine Leser einfach zum Narren? Doch sofort kam mir wieder das Foto in den Sinn.
»Die Mönche feilten auch an Methoden, die es ihnen erlaubten, ihren Geist zu stählen. Schließlich schien dieser ihnen die einzige wirklich bedeutende Kraft. Schnell hatten die fernöstlichen Meister nämlich erkannt, dass selbst die größte körperliche Stärke nutzlos ist, sobald der Kämpfer auch nur für einen Augenblick die Kontrolle über seinen Geist verliert. Dann richtet sich nämlich seine eigene Kraft gegen ihn selbst.« Gierig las ich weiter. Nur wer imstande sei, sein Denken und seine Gefühle in jedem Augenblick zu kontrollieren, könne nach Ansicht der Mönche einen Kampf bereits beenden, bevor dieser begonnen hatte.
Wieder ließ ich das Heft sinken. Der Satz, der langsam in mein Bewusstsein sickerte, machte mich schwindlig. Ein Meister konnte einen Kampf beenden, bevor er begonnen hatte. Wenn das stimmte, dann musste ein Mensch, der einmal das Bewusstsein eines solchen Meisters erreicht hatte, nie wieder kämpfen.
Automatisch stellte ich mir meinen Alltag vor, in dem ich mich weder mit den Kollegen auseinandersetzen musste noch mich mit ihnen messen. Ich sah mich diesen ständigen Vergleichen aus dem Weg gehen, bei denen ich ohnehin jedes Mal den Kürzeren zog.
Doch so beeindruckend mir diese Überlegungen auch erschienen, so groß waren meine Zweifel.
Wer hatte denn schon sein Lebensglück wirklich selbst in der Hand? Sogar wenn ich mir mein Bankkonto ansah, war es damit trotz der vielen Arbeit nicht weit her. Bisher war noch nie so viel Geld darauf gewesen, dass es mich richtig glücklich gemacht hätte. Worauf aber waren die Mönche dann aus?
Gedankenverloren klappte ich die Zeitschrift zu und legte sie zu den anderen auf den Stapel. Einerseits schien mir klar, dass die beschriebenen Methoden nicht funktionieren konnten, jedenfalls nicht für mich. Das Leben war nun einmal ein ewiger Kampf – gegen einen selbst und gegen jene, die es nicht gut mit einem meinten. Bereits als Kind hatte ich gelernt, dass jeder Versuch, etwas daran ändern zu wollen, vergeudete Zeit war, in der man besser seinen Pflichten nachging. Dagegen konnten weder heilige Berge noch chinesische Mönche etwas ausrichten. Ich musste eben wie jeder andere mein Geld verdienen, wenn ich meine Kosten begleichen und nicht eines Tages auf der Straße landen wollte. Andererseits ging mir die Frage nicht mehr aus dem Kopf, woher der Mönch auf dem Foto diese beeindruckende Ruhe hatte.
In diesem Moment beschloss ich, mich auf die Suche zu machen. Zumindest herauszufinden, ob es nicht vielleicht doch möglich war, dem ewigen Kampf ein Ende zu bereiten. Was...