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Der Einfluss von Bürgerinitiativen auf kommunalpolitische Entscheidungsprozesse

Erklärt am Fallbeispiel der Müllverbrennungsanlage der Stadt Hennigsdorf

AutorIna Gorzolka
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl115 Seiten
ISBN9783638626163
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Politik - Politische Systeme - Allgemeines und Vergleiche, Note: 2,3, Humboldt-Universität zu Berlin (Institut für Sozialwissenschaften), 59 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Strukturen der heutigen Politik sind sehr komplex und für den einzelnen Bürger immer undurchschaubarer. Politiker entwickeln ihre Konzeptionen zunehmend weiter vom Bürger entfernt. Zugleich wird es für die Repräsentanten immer schwieriger, die Bedürfnisse der Bürger zu beachten. Die komplexer werdenden Konzeptionen nehmen immer mehr Zeit der Politiker in Anspruch, was sie nicht selten bei der Nähe zum Bürger einsparen oder einsparen müssen. Somit kommen Politiker ihrer Dolmetscherfunktion zwischen Bevölkerung und Staat nicht mehr nach. Die Bürger hingegen haben zunehmend das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit gegenüber dem Staat. Sie könnten als Folge ein Gefühl von Unbehagen gegenüber dem Staat entwickeln. Die Bürger reagieren darauf entweder mit Resignation oder mit Aufbegehren. Bürgerinitiativen entstehen dort, wo sich Bürger von der bürokratischen Verwaltung oder von der Obrigkeit als ungerecht behandelt, oder in einer Entscheidung übergangen fühlen. Adressat der Bürgerinitiativen sind zumeist öffentliche Verwaltungen sowie die politischen Repräsentanten. Seit Ende der 60er Jahre konnte sich als eine Form des Auflehnens die Bürgerinitiative durchsetzen. Wieviel Einfluss tatsächlich von Bürgerinitiativen ausgeht, bezogen auf kommunalpolitische Entscheidungen, soll in dieser Arbeit erörtert werden. Dabei wird im ersten Teil zunächst der Begriff Bürgerinitiative genauer betrachtet, um danach auf die Entstehungsbedingungen von Bürgerinitiativen einzugehen. Auch die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit sowie die Funktion und die Bedeutung von Bürgerinitiativen soll untersucht werden. Im zweiten Teil soll an einem praktischen Beispiel -dem Prozess der Müllverbrennungsanlage der Stadt Hennigsdorf - der tatsächliche Einfluss von Bürgerinitiativen auf den kommunalpolitischen Entscheidungsprozess erörtert werden.

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Leseprobe

2. Begriffsbestimmung


 

2.1. Soziale Bewegung


 

Bevor der Begriff der Bürgerinitiative untersucht werden kann, muss erst die Erscheinung der sozialen Bewegung betrachtet werden, da Bürgerinitiativen ein Beispiel dieser Bewegungen sind. Deshalb soll im Folgenden eine Begriffsbestimmung für soziale Bewegungen kurz angerissen werden.

 

In den Sozialwissenschaften gibt es eine Vielfalt von Definitionen des Begriffes soziale Bewegung, so dass es schwierig ist, eine eindeutige und allgemeingültige Definition zu finden. Hier soll auf die Definition von Joachim Raschke hingewiesen werden, der soziale Bewegungen wie folgt beschreibt: „Soziale Bewegung ist ein mobilisierter kollektiver Akteur, der mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisationsformen das Ziel verfolgt, grundlegenderen sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen.” (Raschke:1987, S.21)  Somit wird der Begriff der sozialen Bewegung als aktives Handeln eines Akteurs beschrieben, der gesellschaftliche Veränderungen schaffen will. Dies geschieht in der Regel in einem Prozess sozialen Wandels.

 

Der Begriff soziale Bewegung umfasst verschiedene Bürgervereinigungen wie beispielsweise Interessengruppen oder Bürgerinitiativen.

 

Soziale Bewegungen sind nicht wie beispielsweise Parteien oder Vereine durch bestimmte Organisationsformen definiert, sondern variieren in ihrer Organisation, ihren Mitgliederzahlen und in ihrem jeweiligen Anliegen. Am Ende einer sozialen Bewegung löst sich die Bewegung entweder auf, sie institutionalisiert sich oder sie transformiert sich in eine Nachfolgebewegung. In diesem Fall wird die bestehende Aktions- und Organisationsmotivation der Mitglieder in oder nach einer Krise in eine Bewegung mit neuer Identität transformiert. (Raschke:1987, S.22ff)

 

Im Zusammenhang mit dem Begriff soziale Bewegung muss auch der Begriff der neuen sozialen Bewegung betrachtet werden, der sich Anfang der 80er Jahre prägte. Der Begriff war eine Sammelbezeichnung für verschiedene politische Bewegungen, die mit der Außerparlamentarischen Opposition und der Studentenbewegung, auf die unter Punkt drei näher eingegangen wird, entstanden sind. Ihr Ursprung liegt jedoch oftmals weiter zurück.

 

Das Adjektiv „neu” bezeichnet eine zeitliche und qualitative Abgrenzung zu den Organisationen der sozialen Bewegungen. Nach Dieter Rucht ist die Studentenbewegung „(...) eine Art Brücke (...)” zwischen den sozialen Bewegungen und den neuen sozialen Bewegungen. (Rucht:2000, S.406)

 

Die neuen sozialen Bewegungen hielten an bestimmten Positionen der Arbeiterbewegung fest, wie beispielsweise am Antikapitalismus, der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse und dem Demokratisierungsanspruch. Zu Beginn ihrer Entstehung lehnten sie das Konzept des Fortschrittes und die Organisationsmodelle der Arbeiterbewegung ab.

 

Neue soziale Bewegungen verbinden radikale demokratische Forderungen mit dem Ziel der solidarischen selbst bestimmten Lebensweise und der Verbesserung der Lebensbedingungen vorwiegend in der Reproduktionssphäre. Beispiele für diese Art von Bewegungen sind die Emanzipation der Frauen, Selbsthilfegruppen im Gesundheits- und Sozialbereich oder Ökologieinitiativen.

 

Die Bewegungen haben bedeutend zur unkonventionellen politischen Beteiligung auf kommunaler Ebene beigetragen. 1992 war bei 48,4 % der Mobilisierungen die Kommune der Adressat. International lag der Anteil der Mobilisierung bei nur 13 %, auf nationaler Ebene bei 38,6 %. (Rucht:1997, S.438)

 

Neue soziale Bewegungen haben bei übergreifenden Themen regelmäßig versucht, für ihre Anliegen nicht nur den lokalen kommunalen Raum als Ort für die Mobilisierung zu engagieren, sondern diese Themen selbst in lokale Zusammenhänge zu setzten. So setzten sich beispielsweise Frauengruppen für die Errichtung eines lokalen Frauenhauses ein. 

 

In der folgenden Tabelle sind die Themenfelder des Protests zusammengefaßt. Die Proteste in Ostdeutschland seit 1989 sind mit enthalten.

 

 

Abbildung1: Themenfelder des Protests sozialer Bewegungen; nach Rucht, Dieter, 1997: Soziale Bewegungen als demokratische Produktivkraft; In: Klein, Ansgar/Schmalz-Bruns, Rainer (Hrsg.): Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland, Bundeszentrale für politische Bewegung, Bonn S.387

 

Neue soziale Bewegungen konnten sich auf der kommunalen Ebene institutionalisieren. Dies gelang ihnen durch die Entstehung und Stabilisierung einer eigenen Infrastruktur von politischen Projekten, selbst verwalteten Betrieben und Kommunikationszentren. (Rucht:1997, S.438f)

 

2.2. Bürgerinitiative


 

Der Begriff Bürgerinitiative stand vor dem Erscheinungsbild der heute bekannten Form der Bürgerinitiative weniger für den Zusammenschluss politisch aktiver Bürger, sondern eher für staatsbürgerliche Tugenden, wie beispielsweise das Engagement von Privatpersonen im Dienst der Allgemeinheit oder sozial benachteiligter Gruppen.  Als sich Ende der 60er Jahre Bürger zusammenschlossen, um sich gemeinsam für ein bestimmtes Ziel einzusetzen, bezeichneten Sozialforscher diese Zusammenschlüsse zunächst als „Single purpose movement”[1]. Der Begriff Bürgerinitiative wurde erst später von Journalisten populär gemacht. (Kroll:1991, S.58) In der Literatur werden jedoch verschiedenen Begriffsdefinitionen diskutiert.

 

Der Begriff Bürgerinitiative ist nicht eindeutig präzisierbar, da jede Bürgerinitiative einzigartig ist und individuelle Ziele verfolgt. Jedoch gibt es nach Wolfgang Beer verschiedene Kriterien und Eigenschaften, die alle Bürgervereinigungen erfüllen müssen, um als Bürgerinitiative bezeichnet werden zu können. So sind Bürgerinitiativen unabhängige Selbsthilfegruppen. Sie sind der Zusammenschluss von Partei- und Verbandsunabhängigen Bürgern, die versuchen, bestimmte Probleme, von denen sie in der Regel selbst betroffen sind, zu lösen.

 

Des Weiteren haben Bürgerinitiativen das Ziel, bestimmte kollektive Bedürfnisse zu befriedigen, so beispielsweise den Einsatz für saubere Luft oder eine humane Wohnumwelt. Dabei kann es sich um die Verhinderung eines bestimmten Vorhabens oder um die Forderung bestimmter Maßnahmen handeln.

 

Bürgerinitiativen sind Reaktionen von Betroffenen, die überwiegend durch die Entscheidungen von Institutionen der politischen Willensbildung und der öffentlichen Verwaltung entstehen. Sie bilden sich, wenn Handlungen oder Unterlassungen der Verwaltung oder der Institutionen dazu führen, dass die Interessen und Bedürfnisse der Bürger nicht beachtet werden.

 

Ziel von Bürgerinitiativen ist es, die unberücksichtigten Bürgerinteressen zu vertreten. Somit stehen sie im Konflikt mit der Verwaltung und dem Parlament, was eine finanzielle und/ oder materielle Zusammenarbeit der Bürgerinitiative mit den staatlichen Institutionen jedoch nicht ausschließt.

 

Bürgerinitiativen können aber auch Gruppen sein, die sich für die Beseitigung von Missständen oder Notlagen einsetzen, von denen sie selbst nicht unmittelbar betroffen sind. In diesem Fall steht nicht die eigene Bedürfnissbefriedigung im Vordergrund, sondern die Parteinahme.

 

Bürgerinitiativen sind nur vorübergehende Zusammenschlüsse. Haben sie ihr Ziel erreicht, lösen sie sich in der Regel wieder auf. (Berr:1976, S.9) Jedoch neigen Bürgerinitiativen häufig dazu, sich einen dauerhaften Charakter in Vereinen oder themenspezifischen Verbänden zu geben. (Roth:1999, S.7)

 

Weiter sollen Bürgerinitiativen nach Wolfgang Beer unabhängig von finanzieller, materieller oder politischer Unterstützung einer bestimmten Institution, Partei oder Verband sein. Die Mitglieder sollen unabhängig handeln und nicht Vertreter bestimmter Interessen einer Institution sein. Ansonsten würde die Glaubwürdigkeit der Initiativen erheblich leiden.

 

Bürgerinitiativen stehen außerhalb der im politischen Systems vorherrschenden Meinung der Institutionen der politischen Meinungs- und Willensbildung. Die Aktivitäten müssen außerhalb der üblichen Formen der Meinungs- und Willensbildung wie beispielsweise bei Wahlen oder Parteimitarbeit liegen.

 

Bürgerinitiativen sind für alle Personen offen, insofern diese sich den Zielen der Initiativen anschließen. (Berr:1976, S.9)

 

Trotz der Individualität und Einzigartigkeit jeder Bürgerinitiative muss jede Gruppierung die eben genannten Kriterien erfüllen, um als Bürgerinitiative bezeichnet werden zu können. Daran lässt sich erkennen, ob es sich bei dem jeweiligen Bürgerzusammenschluss tatsächlich um eine Bürgerinitiative handelt.

 

Ein Bürgerzusammenschluss ist nicht mehr als Bürgerinitiative zu bezeichnen, wenn die Mitglieder als Agenten einer staatlichen Institution, einer Partei oder eines Verbandes oder Unternehmens arbeiten, wenn die Gruppe materiell oder politisch von einer der eben genannten Institutionen abhängig ist oder wenn die Tätigkeiten der Funktionäre den aktiven Einsatz der ehrenamtlichen Mitglieder übersteigt. (Beer:1978, S.42)

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