1 Die betäubende Wirkung des Vertrauten
Überhaupt zu leben, ist Wunder genug.
Mervyn Peake, The Glassblower (1950)
Wir alle müssen sterben, das heißt, wir haben Glück gehabt. Die meisten Menschen sterben nie, weil sie nie geboren werden. Die Männer und Frauen, die es rein theoretisch an meiner Statt geben könnte und die in Wirklichkeit nie das Licht der Welt erblicken werden, sind zahlreicher als die Sandkörner in der Sahara. Und unter diesen ungeborenen Geistwesen sind mit Sicherheit größere Dichter als Keats, größere Wissenschaftler als Newton. Das wissen wir, weil die Menge an Menschen, die aus unserer DNA entstehen könnten, bei weitem größer ist als die Menge der tatsächlichen Menschen. Und entgegen dieser gewaltigen Wahrscheinlichkeit gibt es gerade Sie und mich in all unserer Gewöhnlichkeit.
Moralphilosophen und Theologen messen dem Augenblick der Empfängnis großes Gewicht bei: Er ist in ihren Augen der Zeitpunkt, ab dem die Seele zu existieren beginnt. Und auch wer sich wie ich durch solches Gerede nicht rühren lässt, muss einen bestimmten Moment neun Monate vor der Geburt als das entscheidendste Ereignis seines persönlichen Schicksals betrachten. Es ist der Augenblick, in dem unser Bewusstsein plötzlich billionenmal genauer vorhersehbar wird als noch einen Sekundenbruchteil zuvor. Sicher, der embryonale Mensch, der nun existiert, hat noch viele Hürden zu überwinden. Die meisten Befruchtungsprodukte enden in einer frühen Fehlgeburt, bevor die Mutter überhaupt davon weiß, und wir alle haben Glück gehabt, dass es uns nicht so ergangen ist. Außerdem besteht die persönliche Identität nicht nur aus Genen – das erkennen wir an eineiigen Zwillingen (die sich nach dem Augenblick der Befruchtung trennen). Dennoch war der Moment, in dem eine bestimmte Samenzelle in eine bestimmte Eizelle eingedrungen ist, in unserem persönlichen Rückblick von Schwindel erregender Einzigartigkeit. Damals verschob sich die Wahrscheinlichkeit, dass wir zu einem Menschen wurden, vom Astronomischen in den einstelligen Bereich.
Begonnen hat die Lotterie schon vor der Empfängnis. Unsere Eltern mussten sich kennen lernen, und ihre Empfängnis war ebenso unwahrscheinlich wie unsere eigene. Und so weiter rückwärts in die Vergangenheit über unsere vier Großeltern und acht Urgroßeltern bis in eine Zeit, an die wir nicht einmal denken mögen. Desmond Morris beginnt seine Autobiographie Mein Leben mit Tieren (1981) in seinem charakteristischen, fesselnden Tonfall so:
Mit Napoleon hat alles angefangen. Wenn er nicht gewesen wäre, säße ich jetzt wahrscheinlich nicht hier, um dieses Buch zu schreiben … eine seiner Kanonenkugeln, abgefeuert im Spanischen Krieg von 1808 – 1814, hat meinem Ururgroßvater James Morris einen Arm weggerissen und dadurch der Geschichte meiner Familie eine ganz andere Richtung gegeben.
Dann berichtet Morris, wie der erzwungene Knick in der Berufslaufbahn seines Ahnen verschiedene Schneeballeffekte hatte, die schließlich in seinem eigenen Interesse für Naturgeschichte ihren Höhepunkt fanden. Aber eigentlich hätte Desmond nicht so vorsichtig sein müssen. An der Geschichte ist kein «wahrscheinlich». Natürlich verdankt er Napoleon schon sein Dasein als solches. Das Gleiche gilt für mich und jeden anderen. Napoleon brauchte James Morris nicht in den Arm zu schießen, um das Schicksal des kleinen Desmond – aber auch meines und Ihres – zu besiegeln. Nicht nur Napoleon, sondern auch der kleinste mittelalterliche Bauer brauchte nur zu niesen, um irgendetwas zu beeinflussen, das etwas anderes veränderte, das nach einer langen Kettenreaktion schließlich dazu führte, dass einer meiner potentiellen Vorfahren nicht mein Vorfahre, sondern der eines anderen Menschen wurde. Ich rede hier nicht von der «Chaostheorie» oder der ebenso modernen «Komplexitätstheorie», sondern nur von der schlichten Statistik der Kausalbeziehungen. Der Faden des historischen Geschehens, an dem unser Dasein hängt, ist erschreckend dünn.
Verglichen mit der Zeit, die wir nicht kennen, o König, ist unser Leben auf Erden wie der Flug eines Sperlings durch jenen Saal, wo Ihr im Winter mit Euren Heerführern und Dienstmannen sitzt. Der Sperling fliegt zur einen Tür herein und zur anderen hinaus, und solange er drinnen ist, ist er gefeit gegen die Winterstürme; doch diese kurze Ruhepause ist im Nu vorbei; er kehrt zurück in den Winter, aus dem er gekommen, und verschwindet aus Eurer Sicht. Mit dem menschlichen Leben ist es ebenso, und was danach sein wird oder davor war, entzieht sich unserer Kenntnis.
Beda Venerabilis,
A History of the English Church and People (731)
Auch in anderer Hinsicht haben wir Glück gehabt. Das Universum ist über 100 Millionen Jahrhunderte alt. Nach einem vergleichbar langen weiteren Zeitraum wird die Sonne zu einem roten Riesen angewachsen sein und die Erde verschlingen. Jedes dieser vielen hundert Millionen Jahrhunderte war zu seiner Zeit «das derzeitige Jahrhundert» oder wird es sein, wenn seine Zeit kommt. Interessanterweise können sich manche Physiker mit der Vorstellung von einer «wandernden Gegenwart» nicht anfreunden: Sie ist in ihren Augen ein subjektives Phänomen, für das sie in ihren Gleichungen keinen Platz finden. Aber ich argumentiere hier durchaus subjektiv. Für mich – und ich nehme an, auch für andere Menschen – fühlt es sich so an, als ob die Gegenwart aus der Vergangenheit in die Zukunft wandert, wie ein winziger Scheinwerferkegel, der an einem riesigen Zeitlineal entlangkriecht. Hinter dem Lichtkegel liegt alles im Dunkeln, in der Düsternis einer toten Vergangenheit. Und alles vor dem Lichtkegel liegt in der Dunkelheit der unbekannten Zukunft. Die Chance, dass unser Jahrhundert gerade dasjenige ist, auf dem der Scheinwerfer ruht, ist ebenso groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass ein zufällig in die Luft geworfener Pfennig auf eine ganz bestimmte, auf der Straße von New York nach San Francisco krabbelnde Ameise trifft. Mit anderen Worten: Jeder von uns ist mit überwältigend großer Wahrscheinlichkeit tot.
Trotz dieser schlechten Chancen bemerken wir, dass wir in Wirklichkeit lebendig sind. Menschen, an denen der Scheinwerferkegel bereits vorübergegangen ist, und auch solche, die er noch nicht erreicht hat, können kein Buch lesen. Ebenso großes Glück habe ich, dass ich in der Lage bin, ein Buch zu schreiben – allerdings kann ich das vielleicht nicht mehr, wenn Sie diese Worte lesen. Eigentlich hoffe ich sogar, dass ich dann tot bin. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich liebe das Leben und wünsche mir, es möge noch lange dauern, aber jeder Autor möchte, dass seine Werke eine möglichst große Leserschaft erreichen. Und da die Gesamtbevölkerung der Zukunft wohl beträchtlich größer sein wird als die Zahl meiner Zeitgenossen, muss es einfach mein Bestreben sein, nicht mehr zu leben, wenn Sie diese Worte sehen. Nüchtern betrachtet, ist es schlicht die Hoffnung, dass mein Buch nicht so schnell aus dem Verlagsprogramm genommen wird. Aber beim Schreiben sehe ich nur eines: Ich habe Glück, dass ich am Leben bin, und das gilt auch für alle anderen.
Wir bewohnen einen Planeten, der für unsere Art von Leben fast ideal ist: nicht zu warm und nicht zu kalt, von freundlichem Sonnenlicht beschienen und sanft bewässert – ein gemächlich rotierendes, grün-goldenes Prachtstück von einem Planeten. Ja, und leider gibt es auch Wüsten und Slums, Hunger und quälendes Elend. Aber sehen wir uns einmal die Konkurrenz an. Im Vergleich zu den meisten Planeten ist unserer ein Paradies, und manche Teile der Erde sind paradiesisch, ganz gleich, welchen Maßstab man anlegt. Wie groß ist die Chance, dass ein zufällig ausgewählter Planet diese angenehmen Eigenschaften hat? Sie läge selbst bei noch so optimistischer Berechnung unter eins zu einer Million.
Stellen wir uns einmal ein Raumschiff mit schlafenden Entdeckern vor, tiefgefrorenen Siedlern in spe aus irgendeiner weit entfernten Welt. Vielleicht gehört das Schiff zu einer Verzweiflungsmission, mit der die Spezies gerettet werden soll, bevor ein unaufhaltsamer Komet auf ihrem Heimatplaneten einschlägt wie damals auf der Erde, als die Dinosaurier ausgelöscht wurden. Bevor sich die Raumfahrer in den Kälteschlaf versetzten, haben sie ganz nüchtern ausgerechnet, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, dass ihr Schiff jemals durch Zufall auf einen lebensfreundlichen Planeten treffen wird. Wenn sich im besten Fall einer unter einer Million Planeten dafür eignet und wenn die Reise von einem Stern zum anderen mehrere Jahrhunderte dauert, ist es geradezu erschütternd unwahrscheinlich, dass das Raumschiff eine erträgliche oder gar sichere Zuflucht für seine schlafende Besatzung findet.
Aber malen wir uns nun einmal aus, der Steuerungscomputer des Schiffes hätte dieses unvorstellbare glückliche Händchen gehabt. Nach Jahrmillionen findet das Schiff einen Planeten, der Leben ermöglicht: mit gleichmäßiger Temperatur, ins warme Licht eines Gestirns getaucht, mit Sauerstoff und Wasser gesegnet. Die Passagiere, lauter Rip Van Winkles, stolpern schlaftrunken ans Licht. Nach einem Schlummer von einer Million Jahren finden sie einen neuen, fruchtbaren Globus, einen Planeten mit üppig-warmem Grün, mit glitzernden Bächen und Wasserfällen, voller Lebewesen, die pfeilschnell durch die fremde Pflanzenpracht schießen. Unsere Reisenden wandeln wie im Traum, überwältigt, unfähig, ihren aus der Übung geratenen Sinnen oder ihrem Glück zu glauben.
Wie gesagt: Diese Geschichte erfordert zu...