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Der falsche Krieg

Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert

AutorNiall Ferguson
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783641110987
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Welche Faktoren haben 1914 den Zusammenbruch der europäischen Ordnung tatsächlich bewirkt? Wie wäre die Entwicklung verlaufen, wenn Großbritannien nicht in den Krieg eingetreten wäre? Niall Ferguson entwirft ein weitgefasstes Panorama des Krieges, verdeutlicht das komplexe Ursachengeflecht und rückt insbesondere die Kriegsschuldfrage in ein neues Licht. Auch die häufig vorgebrachte These von der »Unvermeidbarkeit« des Ersten Weltkrieges ist so nicht länger haltbar.

Ferguson geht sowohl mit der deutschen als auch mit der britischen Politik jener Zeit scharf ins Gericht: Auf beiden Seiten haben politisches Unvermögen, unverantwortlicher Ehrgeiz, katastrophale Fehleinschätzungen und der skrupellose Bruch internationalen Rechts zur »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« geführt, die Millionen Menschen das Leben kostete und in fataler Weise auf die weitere Geschichte Europas gewirkt hat.

Niall Ferguson, geboren 1964, ist einer der bekanntesten und renommiertesten Historiker unserer Zeit. Er war Professor für Geschichte an der Harvard University und an der Harvard Business School und lehrte u.a. an der Oxford University, an der Stanford University und der London School of Economics and Political Science. Er ist Milbank Family Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University und Fakultätsmitglied am Belfer Center for Science and International Affairs in Harvard. Er gilt als Spezialist für Finanz- und Wirtschafts- und europäische Geschichte. Ferguson ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Der falsche Krieg« (DVA 1999). Zuletzt ist von ihm erschienen »Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft« (DVA 2021).

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Leseprobe

1 Die Mythen des Militarismus

Propheten

Es wird oftmals behauptet, daß der Erste Weltkrieg auf kulturelle Ursachen – um genau zu sein: auf die Kultur des Militarismus – zurückzuführen sei: Diese soll die Menschen so gut auf den Krieg vorbereitet haben, daß sie sich geradezu nach ihm sehnten. Einige Menschen sahen den Krieg gewiß voraus, aber ob viele ihn mit Freude begrüßten, ist zweifelhaft.

Falls es richtig ist, daß der Erste Weltkrieg durch die Art von Prophezeiungen verursacht wurde, die selber für ihre Erfüllung sorgen, dann war einer seiner ersten Propheten ein gewisser Headon Hill, dessen Roman »The Spies of Wight« (1899) sich um die Machenschaften deutscher Spione gegen Großbritannien dreht.123 Dies war der Anfang einer Flut von Vorwegnahmen eines zukünftigen englisch-deutschen Krieges in der Kunstform literarischer Darstellung. A.C. Curtis’ »A New Trafalgar« (1902) war einer der ersten Romane, der von einer Blitzattacke der deutschen Marine gegen Großbritannien in Abwesenheit des britischen Kanalgeschwaders handelte; glücklicherweise hat die Royal Navy jedoch ein todbringendes neues Schlachtschiff in Reserve, das die Entscheidung zugunsten Großbritanniens herbeiführt.124 In Erskine Childers berühmter Abenteuergeschichte »Das Rätsel der Sandbank« [»The Riddle of the Sands«] (1903) stoßen die beiden Helden Carruthers und Davies auf Beweise für die Existenz eines deutschen Schlachtplans, der vorsieht, daß »eine Vielzahl seetüchtiger Leichter, voll beladen mit Soldaten (…) gleichzeitig in sieben geordneten Flotten aus sieben Fahrrinnen hervorkommt und unter dem Geleitschutz der Kaiserlichen Marine die Nordsee überquert und sich auf die Küsten Englands wirft«.125

Nach einem ähnlichen Angriff muß Jack Montmorency, ein Schuljunge und der Held von L. James »The Boy Galloper« (1903), den Raum des Aufsichtsschülers verlassen und seine Kadettenuniform anziehen, um den Deutschen entgegenzutreten.126 Vielleicht die berühmteste Darstellung einer deutschen Invasion in Romanform lieferte William Le Queux in seinem Bestseller »Die Invasion von 1910« (deutsch: Berlin 1907), der zuerst 1906 als Fortsetzungsroman in der Daily Mail erschien. Hier wurde ein erfolgreicher Angriff auf England durch ein deutsches Heer von 40000 Soldaten dargestellt, auf den »Die Schlacht von Royston« und »Die Bombardierung Londons« folgen.127 Doch erst in A. J. Dawsons »The Message« (1907) mußten die Briten einem nicht wieder auszugleichenden Mißerfolg – der zu Besetzung, Reparationen und Verlust einiger Kolonien führt – ins Antlitz blicken. Der Feind war in Dawsons Buch ein innerer und ein äußerer zugleich: Während im Londoner Intellektuellenviertel Bloomsbury Pazifisten für die Abrüstung demonstrieren, sagt ein deutscher Kellner zum Helden dieses Romans: »Vaire shtrong, sare, ze Sherman Armay.« (Die deutsche Armee ist stark, Sir.) Es stellt sich heraus, daß dieser Kellner und Tausende andere deutsche Einwanderer als Spione an der Vorbereitung einer Invasion mitgewirkt haben. Sie hatten den Auftrag, dafür zu sorgen, daß »die deutsche Armee beinahe bis zum letzten Heuhaufen wußte, was an Trockenfutter zwischen London und der Küste zu finden war«.128 In E. Phillips Oppenheims »A Maker of History« (1905) erklärt Hauptmann X, der Chef der deutschen Spionage in London:

»Es gibt in diesem Land 290000 junge Landsmänner von uns, die gedient haben und schießen können (…). Angestellte, Kellner und Friseure (…), jeder von ihnen hat seine Aufgabe. Die Festungen, die diese große Stadt schützen, mögen von außen nicht einzunehmen sein, aber von innen – da liegt die Sache ganz anders.«129

Ähnlich gibt es in Walter Woods »The Enemy in our Midst« (1906) »einen deutschen Ausschuß für geheime Vorbereitungen«, der im Verborgenen die Grundlagen für einen Putsch in London legt. Und zu diesem Thema tauchten zahllose Variationen auf, so viele, daß der Ausdruck »Spionagefieber« in diesem Zusammenhang angebracht erscheint. 1909 kam der wohl einflußreichste dieser Romane heraus, William Le Queux’ »Spies of the Kaiser«, der von der Existenz eines geheimen Netzwerks deutscher Spione im Inselreich erzählt.130 Zeitgleich wurde Hauptmann Curties, »When England Slept«, 1909 publiziert. In diesem Roman wird London über Nacht durch ein deutsches Heer besetzt, das im Laufe einiger Wochen unbemerkt in das britische Königreich eingedrungen war.131

Selbst Saki ( das ist Hector Hugh Munro) – einer der wenigen Erfolgsautoren jener Zeit, den man immer noch mit einer gewissen Hochschätzung lesen kann – versuchte sich in diesem Genre. In seinem Werk »When William Came: A Story of London under the Hohenzollerns« (1913) kehrt der Held, Murrey Yeovil – »der als Mitglied einer Herrscherrasse zur Welt gekommen und aufgewachsen ist« –, aus dem finstersten Winkel Asiens zurück und findet daheim ein besiegtes Großbritannien vor: »eingegliedert in das Reich der Hohenzollern (…) als ein Reichsland nach dem Vorbild von Elsaß-Lothringen, doch an den Ufern der Nordsee, statt an jenen des Rheins«. Hier gibt es nun in der »Regentstraße« Cafés im kontinentalen Stil, und wenn man den Rasen des Hyde Park betritt, wird sogleich eine Strafe fällig.132 Während Yeovil fieberhaft danach strebt, Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht zu leisten, muß er feststellen, daß ihn die Tories seiner Zeit im Stich lassen. Sie sind (gemeinsam mit König George V.) nach Delhi geflohen und haben eine verabscheuungswürdige Mannschaft von Kollaborateuren zurückgelassen, darunter befinden sich Yeovils eigene moralisch verkommene Ehefrau, ihre Freunde aus Kreisen der Boheme, verschiedene kleine Bürokraten und die »allgegenwärtigen« Juden.133 Ernest Oldmeadows schon früher erschienener Roman »North Sea Bubble« (1906) stellte sogar dar, wie die Deutschen ihre neuen Vasallen durch Verteilung von Weihnachtsgeschenken und subventionierte Nahrungsmittel zu umwerben suchen. Tatsächlich bestanden die schlimmsten Greueltaten, die die Besatzer in Oldmeadows deutschem Britannien ihren Opfern antaten, in der Einführung eines neuen Speiseplans, der sich weitgehend auf Würste und Sauerkraut stützte. Außerdem setzten die Deutschen durch, daß der Name »Handel« in Konzertprogrammen richtig als Händel zu schreiben sei.134

Auch die Deutschen produzierten Visionen zukünftiger Kriege. Karl Eisenharts »Die Abrechnung mit England« (1900) geht von einem Inselreich aus, das im Burenkrieg eine Niederlage erlitten hat und nun von Frankreich angegriffen wird. Britannien verkündet eine Seeblockade und ignoriert dabei die Rechte der neutralen Schiffahrt, und genau dies führt zum Krieg zwischen Großbritannien und Deutschland. Eine deutsche Geheimwaffe (ein Schlachtschiff mit Elektromotor) entscheidet den Krieg zugunsten der Deutschen, und voller Freude eignen sich diese eine reiche Ernte an britischen Kolonien, darunter auch Gibraltar, an.135 In seinem Werk »Der Weltkrieg. Deutsche Träume« (1904) stellte sich August Niemann vor, daß die Heere und Flotten Deutschlands, Frankreichs und Rußlands zusammen gegen den gemeinsamen Feind – nämlich Großbritannien – vorgehen, der den Globus mit seinen Polypenarmen umfängt. Die deutsche und die französische Flotte besiegen schließlich gemeinsam die Royal Navy, und am Firth of Forth landet eine Invasionsstreitmacht.136 Max Heinrichka sah in »100 Jahre deutsche Zukunft« (Leipzig 1913) einen anglo-deutschen Krieg voraus, bei dem es um Holland ging und der wiederum in einer erfolgreichen deutschen Invasion seinen Höhepunkt fand. Wie bei Niemann gestattet es der Sieg den Deutschen auch hier, sich die erlesensten Teile des Empire anzueignen.137 Doch muß man an dieser Stelle einräumen, daß nicht alle deutschen Autoren von einem derart gewaltigen Selbstvertrauen geprägt waren. In einem weiteren, 1905 erschienenen Buch sind die Rollen umgekehrt verteilt: Hier ist es die britische Marine, die der deutschen »ein neues Kopenhagen« – analog zum Präventivschlag, den die britische Flotte 1807 gegen die dänische durchführte – zufügt, und es ist die Stadt Hamburg, die eine britische Invasion zu erdulden hat.138

Auf der Grundlage derartigen Materials ließe sich leicht behaupten, der Erste Weltkrieg sei zumindest teilweise deshalb entfacht worden, weil die Menschen dieses Ereignis eben erwarteten. Nachdem die Prophezeiung sich bereits erfüllt hatte, riß die literarische Produktion nicht ab. Ende 1914 ließ Le Queux mit »The German Spy: A Present Day Story« einen literarischen »Schnellschuß« erscheinen, und Gaumonts zuvor verbotene verfilmte Version von »The Invasion of 1910« wurde nun unter dem Titel »If England Were Invaded« zur Vorführung freigegeben. Paul Georg Münchs »Hindenburgs Einmarsch in London«, in dem dargestellt wurde, wie der Sieger von Tannenberg eine erfolgreiche Invasion über den Kanal leitet, erschien in Deutschland 1915.139

Doch muß man derlei Phantasien in einem weiteren Zusammenhang betrachten. Nicht alle Propheten eines bevorstehenden Krieges erwarteten, daß sich dieser zwischen England und Deutschland abspielen werde. In nur wenigen vor 1900 in Großbritannien erschienenen Werken ging es um einen deutschen Feind, und Frankreich und Rußland mußten darin häufig die Schurkenrolle übernehmen.

Auch bei den deutschen Erzeugnissen der Zukunftsliteratur...

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