5.
DIEGO-HERBERT UND DAS GLÜCK
Man sollte glauben, das mit dem Glück sei eine große Sache. Dass es nicht ganz so groß sein kann, erklärt sich aber schon daran, dass Anna es letztens auf dem Rücksitz ihrer Uber-Fahrt gefunden hat. Dabei behauptet sie felsenfest, niemals ein Gespräch mit Uber-Fahrern zu beginnen. Wirklich niemals. Unerklärlicherweise findet sie sich trotzdem immer in tiefgreifenden Lebensfragen fremder Menschen wieder, in diesem Fall im kosmischen Fragenkatalog von Diego-Herbert. Möglicherweise war das nicht exakt sein Name. Aber als Anna mir die Geschichte erzählte, war sie überzeugt davon, dass er ein Herbert sein musste. Alles in ihm und an seiner Lebenseinstellung schrie förmlich Herbert. (Nichts gegen Herberts!) Da der Name aber so gar nicht zu ihrer Beschreibung eines südländischen Schnauzbartträgers mit übertrieben exponierter Brustbehaarung passte, einigten wir uns auf einen selbst kreierten, interkulturellen Doppelnamen – nämlich: Diego-Herbert.
Falls nun jemand aufgrund dieser Geschichte vorhat, seinen ersten Sohn, womöglich auch seinen zweiten oder gar dritten, so zu nennen, wären wir gerne darüber informiert. Wir wären dann immerhin namensgebende Tanten und hätten diesen jungen Geschöpfen das Glück sozusagen bereits in die Wiege gelegt. Das halten wir für eine schöne Sache und würden dann gerne gratulieren. Also, sagt uns Bescheid, sollten ein paar Diego-Herberts das Licht der Welt erblicken. Und an alle Diego-Herberts: Verklagt uns nicht – eure Eltern wollten es so.
Beim Einladen ihres Koffers fragte Diego-Herbert, aufmerksam wie er war, woher Anna denn gereist käme. »Berlin«, antwortete sie knapp, da sie eigentlich vorhatte, während der Fahrt ein paar E-Mails und Social-Media-Nachrichten zu beantworten. Doch Diego-Herbert stand der Sinn nach einer gepflegten Konversation über die verpasste Chance seines Lebens und er ließ sich keineswegs beirren.
»Berlin!«, rief er entzückt. »Ich habe früher mal in Deutschland gelebt.«
Das war er, der Beginn einer Konversation, aus der Anna so schnell nicht wieder rauskam. »Mhm.« Anna blickte nach wie vor auf den leuchtenden Bildschirm ihres Mobiltelefons, hoffend, sie könne der Konversation entkommen. Doch der Stolz in seiner Stimme ließ wenig Raum für Hoffnung.
»Das war eine schöne Zeit«, fuhr er fort. »Meine Familie und ich haben da gleich neben einem Gutshof in der Nähe von Heidelberg gelebt.«
Und so fand sich Anna mitten in Diego-Herberts Lebensgeschichte wieder. Es war an der Zeit, den Kopf zu heben, sich zu ergeben und einfach nur zu lauschen.
Diego-Herbert wohnte mit seiner Familie gleich neben dem Besitzer des Gutshofs, der gleichzeitig auch ihr Vermieter war. Sein Name war Olaf. Diego-Herbert schätzte ihn auf etwa Mitte siebzig. Er war ein sehr freundlicher, aber auch zurückhaltender Mann, der den Hof ganz alleine bewirtschaftete. Da Diego-Herbert jeden Tag am Hof vorbeispazierte, kamen die beiden eines Tages ins Gespräch und Diego-Herbert bot Olaf an, ihm zu helfen, ein paar Dinge auf dem Hof zu verrichten. Schon nach kurzer Zeit einigten sich die beiden darauf, dass Diego-Herbert von nun an, selbstverständlich gegen Bezahlung, für Olaf arbeiten würde, und darüber hinaus noch zur Hälfte des Mietpreises mit seiner Familie im Nebenhaus des Gutes wohnen durfte.
Das Verhältnis der beiden Männer wuchs schon innerhalb kürzester Zeit über das eines Arbeitsverhältnisses hinaus. Es entstand eine tiefe Freundschaft. Endlich war auch für Olaf das Glück eingekehrt. Er, der zuvor ganz alleine auf dem Hof gelebt hatte, durfte erleben, wie sich Kinderlachen in den Gängen, gemeinsame Abendessen mit Freunden und die damit einhergehende Wärme und Verbundenheit in seinem Herzen anfühlten. Er blühte auf. Er hatte wieder Freude am Leben. Diego-Herbert ging es ähnlich. Die beiden Männer hatten eine gute Zeit.
Doch Mariah, Diego-Herberts Frau, konnte das Glück in Heidelberg nicht finden. Nicht auf dem Land, nicht auf dem Hof und nicht ohne ihre Familie. Sie hatte Heimweh und wollte zurück nach Wien, wo sie den Rest ihrer Familie zurückgelassen hatte. Damit machte sie Olafs und am Ende auch Diego-Herberts Glück einen gehörigen Strich durch die Rechnung.
Diego-Herbert war innerlich zerrissen. Er musste wählen. Irgendwo zwischen Olafs und Mariahs Glück befände sich seines, so dachte er, und er war sich sicher, er müsse sich entscheiden. Er musste wählen und das fiel ihm ganz und gar nicht leicht. Als er sich letztlich dazu entschloss, mit seiner Frau und seinen Kindern nach Wien zu ziehen, fühlte er einen tiefen Schmerz, gepaart mit der Gewissheit, dass er sein Glück in Heidelberg zurückließ, und das nicht etwa nur kurz, sondern auf unbestimmte Zeit. Sein Glück wäre nun für immer in Deutschland und er in Wien – so dachte er zumindest, und während er Anna seine Geschichte erzählte, sah sie ihm an, wie traurig er war, so ganz ohne sein Glück.
»Olaf war ganz alleine«, erzählte er mit gepresster Stimme. »Er war reich, aber auch alt und sehr einsam, und er hatte niemanden, mit dem er sein Geld teilen konnte. Er wollte, dass wir den Hof und alles, was er besaß, eines Tages übernehmen. Er wollte, dass wir bleiben … Tja, man hat eben nur ein Mal im Leben Glück.« Die Wehmut packte ihn und Anna fuhr erschrocken hoch.
»Aber nein!«, rief sie. Nicht laut, aber doch merklich kräftiger und auch sehr viel wacher als noch beim Einstieg in diese vermeintliche Unglücksfahrt. Sie konnte es nicht fassen, was sie da gerade aus Diego-Herberts Mund vernommen hatte. »Man hat doch nicht nur ein Mal im Leben Glück!«
»Doch«, erwiderte Diego-Herbert mit trauriger Stimme. »Es war meine Chance und sie kommt nie wieder.«
Wie so oft im Leben passieren Dinge nicht umsonst. Vielleicht war es kein Zufall, dass Anna an diesem Abend ausgerechnet in Diego-Herberts Wagen gelandet war. Denn dass seine Schlussfolgerung nicht ganz stimmen kann, darin sind sich Anna und ich uns einig. Und wir haben dafür sogar mehrere, durchaus berechtigte Gründe. Was wäre denn beispielsweise, wenn man im zarten Alter von fünf Jahren eventuell mal Glück gehabt hätte? Kehrt das Glück danach nie wieder zurück? Man hätte bereits mit fünf Jahren sein gesamtes Glückspensum verpasst oder verbraucht? So kann das Leben doch nicht gemeint sein. Wäre es tatsächlich sein Glück gewesen, auf dem Gutshof bei Olaf zu bleiben? Hätte ihn das Leben auf dem Gutshof mit oder gar ohne Olaf tatsächlich glücklich gemacht? Oder wäre vielleicht seine Ehe zerbrochen, weil Mariah nicht auf dem Land leben wollte, oder die Abgase des Traktors hätten sich später auf seine empfindliche Lunge geschlagen und Diego-Herbert wäre sehr reich, aber am Ende möglicherweise sehr krank geworden? Eventuell wären seine Kinder in einem naheliegenden Fluss beim Spielen beinahe ums Leben gekommen und das ganze Geld wäre für endlose Therapiesitzungen der daraufhin notwendigen Angstbewältigung vor Wildflüssen draufgegangen? Und vor allem: Hat Diego-Herbert die seit mehreren Jahrzehnten überbrachte Vermutung berücksichtigt, dass Geld alleine womöglich gar nicht glücklich macht? Was hätte das ganze Geld genutzt, wenn er nach der Scheidung alleine in Heidelberg auf diesem riesigen Haufen Geld gesessen hätte, ohne Frau und Kinder – denn sie wären vermutlich gemeinsam mit ihrer Mutter nach Wien gegangen.
Diego-Herbert, wir fordern dich dazu auf, das alles noch mal gründlich zu überlegen! Vielleicht hast du hier einen klitzekleinen, aber doch entscheidenden Denkfehler gemacht, der dich inmitten deines gesamten Glückspotenzials eben genau dieses kostet. Ein hoher Preis!
Ein ebenso riskantes Unterfangen ist es, sein Glück von anderen Menschen abhängig zu machen. Das trifft natürlich sowohl auf Diego-Herbert als auch auf Olaf zu – im weiteren Sinne aber auch auf Mariah und die Kinder. An dieser Stelle werden einige Leser die Ellenbogen entrüstet in die Seiten stemmen. Denn, natürlich, wir haben es schon oft gehört oder zumindest mal gelesen: Kein Mensch ist eine Insel. Selbstverständlich möchte Diego-Herbert seine Frau und Kinder gerne an seiner Seite haben, im besten Fall auch Olaf gleich dazu. Wir kennen alle das Gefühl, einen oder mehrere Menschen im Leben nicht missen zu wollen. Das ist verständlich und durchaus legitim. Riskant wird es unserer Meinung nach dann, wenn wir beginnen, diese Menschen für unser eigenes Glück verantwortlich zu machen. »Wenn Olaf nicht mehr da ist, darf ich nicht mehr glücklich sein.« So ähnlich lauteten wohl seine Gedanken. Ganz schön trüb, oder? Das würde ja bedeuten, Olaf hätte Diego-Herberts Glück in seinen Händen. Ließe er es los oder fallen, es wäre vorbei...