Vorwort
Sind Sie neugierig geworden, was ein Grundwurm sein soll? Gelegentlich wird von Grundbedürfnissen gesprochen, die sind eher bekannt. Dabei denken die meisten zunächst an Nahrung, Kleidung, Behausung, allgemein den Lebensunterhalt, auch Gesundheit, Erfolg usw. Wenn diese Bedürfnisse ausreichend befriedigt sind, kann aber immer noch entscheidend Wichtiges fehlen:
So war es auch, als vor etlichen Jahren eine zehnjährige Schülerin einen Brief an den lieben Gott schrieb. Darin hat sie ihm – umrahmt von lauter kleinen roten Herzen – ihr Herzensanliegen vorgetragen und zugleich ihr Leid geklagt: „Lieber Gott, hilf mir Freunde zu finden. Ohne Freunde ist mein Leben nutzlos. Ohne Freunde ist man so allein. Keine will mit mir reden und spielen: Bitte schenke mir einen Freund, der zu mir hällt. Er soll mir beistehn und mich beschützen. DANKE“. In die drei größten Herzen hat sie noch Glück, Liebe, Hofnung hineingeschrieben und damit noch eine andere, lebensnotwendige Art von Grundbedürfnissen gemeint, deren Erfüllung so wichtig ist, dass ohne sie das „Leben nutzlos“, man könnte auch sagen sinnlos, erscheint. Nicht nur für ein 10 Jahre altes Mädchen, sondern – den jeweiligen Lebensumständen entsprechend - für jeden Menschen jeglichen Alters. Die vorgebrachten Wünsche, besser Sehnsüchte, stehen für eine Vielzahl von lebenswichtigen und unverzichtbaren Voraussetzungen für umfassende leib-seelische Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität. Insgesamt geht es um Lebenslust und Liebe, die dem Leben Sinn verleihen und von dem Mädchen schmerzlich vermisst wurden.
Und was hat das alles mit dem Grundwurm zu tun? Weithin scheint er unbekannt, obwohl er ein überall vorkommender, heimtückischer und gefährlicher Schädling ist. Wenn er nicht entdeckt und beseitigt wird, kann er über Jahre und Jahrzehnte unbemerkt sein gefährliches Zerstörungswerk fortsetzen. Er steht noch nicht im Lexikon, auch nicht in Lehrbüchern der Biologie und wenn man ihn googelt wird er entweder als Familienname oder als sächsische Schmalspurbahn genannt, aber nicht als der weit verbreitete und unheilvolle „Grundwurm (vermis fundamentalis)“ von dem hier die Rede ist. An sich müsste er bekannt sein, weil so gut wie jeder weiß, was gemeint ist, wenn irgendwo „der Wurm drinsteckt“. Allerdings hat nicht jeder beliebige Wurm, beispielsweise der harmlose Bücherwurm, die grundlegende Bedeutung, wie sie eben dem Grundwurm zukommt, denn der nagt an den Wurzeln der lebenswichtigen Grundbedürfnisse.
Das war auch der Fall, als der Grundwurm entdeckt wurde und seinen Namen erhielt. Es geschah überraschend und unvermutet am Ende einer erfolgreichen Paar- und Sexualtherapie. Das Ehepaar war verzweifelt, die Beziehung stand auf dem Spiel. Dabei war der Beginn ihrer Liebesgeschichte so glücklich, wie man es sich nur wünschen kann. Sie erzählten von einem wundervollen sich kennen lernen, jeder hatte im anderen die Frau, den Mann seiner/ihrer Träume gefunden. Auch ihr partnerschaftliches und sexuelles Liebesleben sei ursprünglich „sehr befriedigend“ gewesen. Inzwischen sei jedoch die Sexualität zum beherrschenden Problem geworden und so gut wie abgestorben und zugleich abgewertet. Dasselbe Schicksal, befürchten sie für ihre Beziehung insgesamt.
Im Lauf der Gespräche wurde klar, dass die wunderbare Sexualität des Anfangs hauptsächlich aus der Sicht des Mannes so befriedigend war, seine Partnerin hat (hätte) von Anfang an andere Vorstellungen gehabt. Es ist aber nie darüber gesprochen worden. „Er“ hat nicht nachgefragt und „Sie“ hat von sich aus nichts gesagt. Das stimmt nicht ganz: Sie hat „direkt“ nichts gesagt, nur indirekt: Sie hat die Lust verloren. So haben beide diesbezüglich aneinander vorbei gelebt, sich zunehmend gegenseitig unverstanden und zu Unrecht beschuldigt gefühlt, sich entfremdet und schwer darunter gelitten.
In den Gesprächen des Paares und mit dem Paar war viel von den jeweiligen Grundbedürfnissen und ihre Verbindung zur Sexualität die Rede. Die unerwartet überraschende Entdeckung einer fehlerhaften Kommunikation, eines Missverständnisses, das von Anfang der Beziehung an bestanden hat, über das nie gesprochen und das daher auch nie erkannt wurde, aber über viele Jahre zunehmend zerstörerischer weiterwirkte, war ein ‚Aha-Erlebnis’ für das Paar: „Also war DAS der Grundwurm, der von Beginn an in unserer sexuellen Beziehung drin war!“ fasste der Ehemann seine Erkenntnis zusammen. Damit hat er voll ins Schwarze getroffen, er hätte es nicht passender formulieren können. Zugleich zeigte er mit einem Schuss Humor, dass er „verstanden“ hat: Der Grundwurm ist im Endeffekt der Gegenspieler der Grundbedürfnis-Erfüllung.
Das ist nichts triviales, weil „Liebe“ letztendlich aus der Fürsorge um die gegenseitige Erfüllung der Grundbedürfnisse besteht. Zumindest unbewusst wird das auch erwartet. Diese Erfüllung ist aber nicht möglich, solange die entsprechenden Bedürfnisse und Sehnsüchte entweder nicht geäußert, in ihrer Bedeutung nicht erkannt und verstanden werden oder nicht nach ihnen gefragt wird. Im konkreten Beispiel ging es um die unterschiedlichen Sichtweisen von Sexualität. Sie wurden nicht entdeckt, weil nicht darüber gesprochen wurde. Der Grundwurm gedeiht am besten im Nährboden fehlender Kommunikation. Dem Paar ist es gelungen, ihren Grundwurm zu entdecken und damit unschädlich zu machen. Nun geht es darum die Sprache der Sexualität des jeweils anderen so zu übersetzen, dass daraus eine neue, gemeinsame Verständigung werden kann, denn auf der Ebene der Grundbedürfnisse sind sie sich einig: Wir wollen beide dasselbe.
Angeblich arbeiten Archäologen nach dem Prinzip: „Die Wahrheit liegt immer darunter“. Daran orientiert sich auch die ganzheitliche Paar- und Sexualtherapie, wenn sie den Problemen „auf den Grund“ gehen will. Die Grundbedürfnisse sind quasi der letzte erreichbare „Grund und Boden“, darunter ist nichts mehr zu finden, dahinter oder darum herum sehr wohl, beispielsweise auch der Grundwurm an den Wurzeln der Grundbedürfnisse. Hier begegnen sich Patient/Partner, Paar, Arzt [1] und Grundwurm, man könnte auch sagen es begegnen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Wohl aus der eigenen befreienden Erfahrung, hat das Paar sein „Copyright“ an dieser Entdeckung dem Autor zur freien Verwendung überlassen, damit auch andere erfahren - was nicht einmal „Google“ bekannt ist –, dass es den Grundwurm gibt, woher er seinen Namen hat und dass es sich lohnt, ihn im Verdachtsfall aufzuspüren und unschädlich zu machen. Das kann mit oder ohne Hilfe von außen geschehen, also mit oder ohne „Therapie“, was eigentlich „Pflege“ heißt. Im Einzelfall bedeutet es gegenseitiges sich pflegen der Partner, konkret besagt es das Bemühen um die Erfüllung der für jeden unverzichtbaren, weil lebensnotwendigen Grundbedürfnisse. In Summe dreht sich alles um die Pflege der eigenen Beziehung und Beziehung entsteht und wächst durch Kommunikation. Das wird niemand bezweifeln, aber wieso ist dann von Sexualität bzw. Sexualtherapie die Rede?
Die Antwort liegt in den vielen Formen von Kommunikation, nicht nur durch Worte, auch durch Taten und nicht zuletzt durch die vielen Gesten der Körpersprache. Eine dieser Sprachen oder Gelegenheiten sich mitzuteilen, ist die Sprache der Sexualität (Loewit 1992). Erst wenn Sexualität bewusst als intimste Möglichkeit der Kommunikation entdeckt und begriffen wird, ist ein neues Erleben von partnerschaftlicher Sexualität erfahrbar bzw. entsteht eine neue Form von Sexualtherapie. Diese Erfahrung wird durch das Zusammenführen von Sex und Bindung, dh. Beziehung ermöglicht. Erst durch die Ausrichtung auf das Paar und seine Beziehung, also auf die allgemeine und die sexuelle Paar-Kommunikation, kann der oft empfundene Gegensatz zwischen Sex und Liebe überwunden werden. Er wird gegenstandslos und verschwindet. Wie das geschehen kann, soll aus den folgenden Seiten verständlich werden. Es geht dabei um die Behebung von zwei Störungen welche sich gegenseitig beeinflussen, die Störung der Beziehung und zugleich der Sexualität.
Insgesamt zielt die Entdeckung einer bisher zu wenig oder zu wenig bewusst erkannten Kommunikationsmöglichkeit durch Sexualität auf die Wiederherstellung der partnerschaftlich-sexuellen Zufriedenheit ab; in der entsprechenden Sexualtherapie auf die Rückkehr von „Lust und Liebe“: „So wie es jetzt ist, so kann es bleiben!“ war nach sieben Therapieterminen das Schlusswort der nicht mehr verzweifelten Ehefrau und ihres nicht mehr falsch verstandenen Mannes.
Das liest sich hier leicht und einfach. Jedenfalls einfacher als es tatsächlich ist. In Wirklichkeit gilt es – bildlich gesprochen –im Astgewirr eines Baumes den zu den Wurzeln (und damit zum Grundwurm) führenden Stamm nicht aus dem Blick zu verlieren. Der beste und sicherste Wegweiser, um sich im Dickicht der zahlreichen Seitenäste nicht zu...