4. Inayat Khan – Hermetische Aufsätze
1. DIE VORBEREITUNG ZUR REISE
Das innere Leben ist eine Reise, und wer sie antritt, muss sich darauf vorbereiten. Ist man nicht vorbereitet, so läuft man immer Gefahr, umkehren zu müssen, ehe man sein Ziel erreicht hat. Wer auf Reisen geht und etwas zu vollbringen hat, muss wissen, was er auf dem Wege braucht, damit seine Reise leicht vonstatten geht und er vollenden kann, was er zu tun begonnen hat. Die Reise im innern Leben ist so lang wie die Entfernung zwischen Leben und Tod; sie ist die längste Reise, die man im ganzen Leben macht, und man muss alles vorbereitet haben, damit man nicht zur Umkehr gezwungen wird, nachdem man schon eine gewisse Strecke zurückgelegt hat.
Das erste Erfordernis ist, dass man keine Schulden hinterlässt. Ein jeder Mensch hat im Leben irgendeine Schuld zu zahlen: Der Mutter, dem Vater, dem Bruder oder der Schwester, dem Gatten, der Frau oder dem Freund, seinen Kindern, seiner Rasse oder der Menschheit; wenn er sie nicht bezahlt hat, ist er innerlich mit Stricken gebunden, die ihn wieder rückwärts ziehen. Das Leben in der Welt ist ein ehrlicher Handel – könnte man das nur recht verstehen, wüsste man nur, wie viele Seelen es in der Welt gibt, mit denen man irgendwie verbunden oder verwandt ist oder denen man jeden Tag frisch begegnet! Jeder von ihnen ist man irgend etwas schuldig, und hat man seine Schuld nicht bezahlt, so muss man sie später mit Zinsen zahlen. Es gibt eine innere Gerechtigkeit, die über die weltliche Gerechtigkeit hinaus wirkt; und wenn der Mensch das innere Gesetz der Gerechtigkeit nicht befolgt, so kommt es daher, dass er zu jener Zeit im Rausche lebt, dass seine Augen geschlossen sind und dass er das Gesetz des Lebens nicht erkennt. Aber der Rausch wird vergehen; der Tag wird kommen, an dem die Augen aller Seelen sich öffnen; und es ist schade, wenn dem Menschen die Augen zu spät aufgehen. Es ist besser, die Augen öffnen sich, solange der Beutel noch gefüllt ist; denn es ist beschwerlich, wenn die Augen sich öffnen und der Beutel leer ist. Dem einen ist man Rücksicht schuldig, dem andern Achtung, diesem einen Dienst oder Duldsamkeit, jenem Vergebung oder Hilfe. Irgendwie hat man in jeder Hinsicht, in jedem Zusammenhang etwas zu bezahlen. Und ehe man die Reise antritt, muss man die Gewissheit haben, dass man bezahlt hat, und zwar ganz bezahlt hat, so dass nichts mehr zu zahlen übrig bleibt. Außerdem muss der Mensch, bevor er seine Reise antritt, die Gewissheit gewinnen, dass er seine Pflichten erfüllt hat – seine Pflicht gegenüber denen, die seinem Kreis angehören, und seine Pflicht gegenüber Gott. Wer aber seine Pflicht gegenüber den Menschen seines Kreises für heilig hält, der erfüllt seine Pflicht gegenüber Gott.
Bevor der Mensch seine Reise antritt, muss er es sich überlegen, ob er alles gelernt hat, was er von dieser Welt lernen wollte. Hat er etwas noch nicht gelernt, so muss er es tun, bevor er sich auf den Weg macht. Denn wenn er denkt, „ich will die Reise antreten, obwohl ich zuvor noch etwas zu lernen wünschte“, wird er sein Ziel nicht erreichen. Der Wunsch, etwas zu lernen, wird ihn rückwärts ziehen. Alle Wünsche, jeder Ehrgeiz, jedes Streben, die er im Leben hat, müssen befriedigt werden. Und nicht nur das: Beim Beginn seiner Reise darf er keine Reue mehr haben, noch darf er nachher etwas bedauern. Trägt er noch Reue oder Bedauern in sich, so muss er vor Antritt seiner Reise damit aufräumen. Er darf auch gegen niemand Groll hegen, noch klagen, dass jemand ihm Leid zugefügt habe. Denn nähme er diese Dinge, die dieser Welt eigen sind, mit auf die Reise, so würden sie ihm auf dem geistigen Pfade zur Last werden. Die Reise ist ohnedies mühselig genug, und sie wird noch mühseliger, wenn man eine Bürde zu tragen hat. Wer sich eine Last an Missvergnügen, Unzufriedenheit und Verdruss auflädt, wird auf diesem Pfade schwer daran tragen. Der Pfad führt zur Freiheit; und wer diesen Pfad gehen will, muss selbst frei sein; keine Bindung darf ihn rückwärtsziehen, kein Verlangen darf ihn zurücklocken.
Außer diesen Vorbereitungen braucht man auch ein Fahrzeug zur Reise. Das Fahrzeug hat zwei Räder, und diese heißen: Gleichgewicht in allen Dingen. Dem einseitigen Menschen sind Grenzen gesetzt, wie stark auch seine Hellsichtigkeit oder Hellhörigkeit, wie groß auch sein Wissen sein mögen; und er kommt nicht weit, denn der Wagen braucht zwei Räder zum Fahren. Es muss ein Gleichgewicht vorhanden sein, und zwar das Gleichgewicht zwischen Kopf und Herz, das Gleichgewicht zwischen Kraft und Weisheit, zwischen Tätigkeit und Ruhe. Gleichgewicht hilft dem Menschen die Mühen der Reise ertragen und erlaubt ihm, auf dem Pfade fortzuschreiten, indem es ihm den Weg erleichtert. Man darf nicht einen Augenblick lang glauben, dass der Mensch, dem es an Gleichgewicht fehlt, auf dieser geistigen Reise je vorankommen kann, wie stark er auch geistig veranlagt scheint. Nur ausgeglichene Menschen können das Außenleben wie das Innenleben gleich stark erleben, Denken und Fühlen gleichermaßen genießen und ebenso gut ruhen wie tätig sein. Rhythmus ist der Mittelpunkt des Lebens, und Rhythmus gibt Gleichgewicht.
Auf dieser Reise hat man auch eine gewisse Summe Kleingeld nötig, das man unterwegs ausgibt. Und worin besteht dieses Kleingeld? In wohlbedachten Worten und Taten. Man muss auch einen Vorrat an Speise und Trank mitnehmen, und dieser Vorrat besteht aus Leben und Licht. Man muss auch etwas Kleidung auf die Reise mitnehmen, um sich vor Wind und Sturm, vor Hitze und Kälte zu bewahren, und diese Kleidung ist das Gelübde der Verschwiegenheit, der Hang zur Schweigsamkeit. Beim Aufbruch zu dieser Reise muss der Mensch den anderen Lebewohl sagen, und dieses Lebewohl ist ein liebendes Sichloslösen; bevor er die Reise antritt, hat er seinen Freunden etwas zu hinterlassen: Die glückliche Erinnerung an die Vergangenheit.
Wir alle sind auf der Reise; das Leben selbst ist eine Reise. Niemand ist hier sesshaft; wir alle wandern immer weiter, und daher ist es nicht richtig, wenn man sagt, man gebe sein sesshaftes Leben auf, wenn man eine geistige Reise antritt. Niemand hat hier eine bleibende Statt; wir alle sind unsesshaft, wir alle sind auf der Wanderung. Doch wer die geistige Reise unternimmt, wählt einen andern, einen leichteren, besseren und angenehmeren Weg. Diejenigen, welche diesen Weg nicht einschlagen, kommen auch ans Ziel; der Unterschied liegt im Weg. Der eine Weg ist leichter, ebener, besser; der andere Weg ist voller Schwierigkeiten, und da die Schwierigkeiten im Leben nicht aufhören von dem Augenblicke an, wo man die Augen auf dieser Erde öffnet, kann man ebenso gut den ebeneren Weg wählen, um an das Ziel zu kommen, das jede Seele eines Tages erreicht.
Unter „innerem Leben“ versteht man ein Leben, das nach Vollkommenheit strebt, die man die Vollkommenheit der Liebe, Harmonie und Schönheit nennen kann, ein Leben, das, dem orthodoxen Sprachgebrauch gemäß, Gott zustrebt.
Das innere Leben steht nicht notwendigerweise im Gegensatz zum weltlichen Leben; aber das innere Leben ist ein reicheres Leben, Weltliches Leben heißt Begrenztheit des Lebens, inneres Leben heißt Leben in seiner Vollständigkeit. Asketen, die eine dem weltlichen Leben völlig entgegengesetzte Richtung einschlagen, tun es um der Möglichkeit willen, die Tiefen des Lebens zu ergründen. Doch wenn man nur in einer einzigen Richtung geht, so schafft man sich kein vollständiges Leben. Inneres Leben bedeutet somit Fülle des Lebens.
Kurz, man kann sagen, dass das innere Leben aus zweierlei Dingen besteht, aus bewusstem, wissendem Tun und aus Ruhen bei ruhenden Sinnen. Indem man diese beiden einander entgegengesetzten Dinge tut und in diesen beiden Richtungen das Gleichgewicht wahrt, gelangt man zur Fülle des Lebens. Wer das innere Leben lebt, ist einfältig wie ein Kind, ja einfältiger als ein Kind und dabei weiser als viele klugen Leute zusammen. Dies bekundet sich in einer Entwicklung nach zwei entgegengesetzten Richtungen hin. Jesu Einfalt war zu allen Zeiten bekannt. In jeder Regung, in jeder Tat erwies er sich als ein Kind. Alle großen Heiligen und Weisen – die Großen, die die Menschheit befreit haben – waren einfältig wie Kinder und dabei weiser, viel weiser als die im weltlichen Sinne klugen Menschen. Woher kommt das? Was gibt solchen Menschen das Gleichgewicht? Die Ruhe in der Passivität. Wenn sie vor Gott stehen, ist ihr Herz in ihnen wie ein leerer Kelch; wenn sie vor Gott stehen, um zu lernen, verlernen sie alles, was die Welt sie gelehrt hat; wenn sie vor Gott stehen, weicht ihr Ich, ihr eigenes Selbst, ihr Leben von ihnen. In diesem Augenblick denken sie nicht an sich und haben keinen Wunsch, der zu erfüllen, und kein Wollen, das zu vollbringen wäre, noch haben sie etwas von sich selber zu äußern. Sie sind wie leere Kelche, auf dass Gott ihr Wesen fülle, auf dass ihr falsches Ich verloren gehe.
Und aus demselben Grund geschieht es, dass sich in ihrem Alltagsleben ein Widerschein des stillen Augenblickes der Ruhe bekundet, den sie bei Gott verbrachten. In ihrem Alltagsleben bekunden sie Einfalt, jedoch nicht Unwissenheit. Sie wissen manche Dinge und wissen sie doch nicht. Sie wissen, wenn jemand eine...