2. Ekstase – Teil IV – Ferid-Ed-Din Attar
Die sieben Täler
Das erste Tal, das sich darbietet, ist das Tal des Suchens, nach ihm kommt das der Liebe, das keine Grenze hat, das dritte ist das der Erkenntnis, das vierte das der Selbstgenügsamkeit, das fünfte das der reinen Einheit, das sechste das der Bestürzung, das siebente endlich ist das Tal der Auflösung und der Vernichtung, über das hinaus du nicht fortschreiten kannst. Da wirst du dich angezogen fühlen und wirst doch nicht weiterziehen können; ein einziger Wassertropfen wird für dich wie ein Meer sein.
Das Tal des Suchens
Sobald du in das Tal des Suchens eingetreten bist, wird hundertfache Pein dich wieder und wieder überfallen. In jedem Augenblick wirst du da hundert Prüfungen erfahren; der Papagei des Firmaments ist da nur eine Fliege. Du wirst in diesem Tal viele Jahre in mühevoller Spannung und steter Wandlung deines Zu-Stands verbringen. Du wirst deine Schätze verlassen und alles, was du besitzest, ins Spiel werfen müssen. Du wirst in einem Blutstrom schreiten müssen, dem Allverzicht ergeben. Und hast du die Gewissheit gewonnen, dass du nichts mehr besitzest, musst du noch dein Herz ablösen von allem, was ist. Ist es von allem Anblick der Sonderung befreit, dann leuchtet ihm die göttliche Herrlichkeit auf, und durch dieses Licht, das sich dir offenbart, wächst dein Begehren ins Unendliche. Und erschiene ein Feuer am Pfade des Wandrers, und tausend Schluchten öffneten sich immer unwegsamer, von der Sehnsucht bewegt würde er wie ein Toller in die Schluchten dringen, wie ein Falter in die Flamme stürzen. Vom Liebeswahn getrieben, wird er dem Suchen leben; von seinem Mundschenk wird er einen Trunk verlangen. Hat er dieses Weines etliche Tropfen gekostet, wird er beide Welten vergessen. Eingetaucht im Meer des Schrankenlosen, wird er seine Lippen trocken verspüren, und auf dem Grunde seiner selbst wird er dem Geheimnis der ewigen Schönheit nachfragen. In seiner Begier, es zu erkennen, wird er vor den Drachen nicht weichen, die die Seelen verzehren. Würden in diesem Augenblick der Glaube und der Unglaube vor ihn treten, er würde sie beide gleich willig empfangen, wenn sie ihm nur die Pforte öffnen. Ist diese Pforte offen, was ist dann noch Glaube oder Unglaube, da es doch jenseits des Eingangs weder den einen noch den andern gibt?…
Zusammengekauert wie das Kind im Schoße der Mutter, sammle dich in dir selber ein, in Blut getaucht. Verlasse nicht dein Inneres, um dich ins Äußere zu bringen. Tut dir Speise not, ernähre dich vom Blute. Das Blut allein nährt das Kind im Schoße seiner Mutter; und aus der Wärme des Innern kommt es her…
Das Tal der Liebe
Um hier einzutreten, muss man ganz in Feuer tauchen, ja man muss selber Feuer sein, denn sonst könnte man da nicht leben. Der wahrhaft Liebende muss dem Feuer gleich sein, entflammten Angesichts, brennend und ungestüm wie das Feuer. Um zu lieben, darf man keinen Hintergedanken haben; man muss bereit sein, hundert Welten ins Feuer zu werfen; man muss weder Glauben noch Unglauben kennen, weder Zweifel noch Zuversicht hegen. Auf diesem Weg ist kein Unterschied zwischen Gut und Böse; wo die Liebe ist, sind Gut und Böse entschwunden… In diesem Tal ist die Liebe das Feuer, und sein Rauch ist die Vernunft. Wenn die Liebe kommt, entflieht die Vernunft in Eile. Die Vernunft kann mit der Raserei der Liebe nicht zusammenwohnen; die Liebe hat nichts zu schaffen mit der Vernunft des Menschen. Gewännest du einen rechten Blick der unsichtbaren Welt, dann erst vermöchtest du zu erkennen die Quelle der geheimnisreichen Liebe, die ich dir verkündige. Das Dasein der Liebe wird Blatt für Blatt völlig zerstört von der Trunkenheit der Liebe selbst.
Das Tal der Erkenntnis
Wenn die Sonne der Erkenntnis an der Wölbung dieses Weges strahlt, den man nicht würdig zu beschreiben vermag,… zeigt sich in Klarheit das Geheimnis des Wesens der Dinge, und der feurige Ofen der Welt wird zum Blumengarten. Der Wandrer wird die Mandel unter ihrer Schale schauen. Er wird sich selbst nicht mehr erblicken, nichts mehr wird er erblicken als seinen Freund allein; in allem, was er sehen wird, wird er sein Antlitz schauen, in jedem Atom die Sphäre des Alls; unterm Schleier wird er zahllose Heimlichkeiten betrachten, die leuchten wie die Sonne… Die sichtbare Welt und die unsichtbare Welt sind für die Seele nichts; der Körper ist der Seele nicht verborgen, noch die Seele dem Körper. Bist du aus der Welt ausgegangen, die nichts ist, dann findest du den Ort, der dem Menschen bestimmt ist…
Das Tal der Selbstgenügsamkeit
Hier ist keine Sucht und kein Forschen. Aus dieser Bereitschaft der Seele zur Genügsamkeit erhebt sich ein kalter Sturm, dessen Gewalt in einem Augenblick einen ungeheuren Raum verwüstet. Die sieben Ozeane sind dann nur noch eine Wasserlache; die sieben Wandelsterne ein Funken; die sieben Himmel ein Vorhang; die sieben Höllen zerschelltes Eis…
Sähest du eine ganze Welt, deren Herz ein Feuer fräße, du hättest nur einen Traum. Die Tausende von Seelen, die unablässig an diesem Meere niedersinken, sind da nur ein leichter und unwahrnehmbarer Tau…
Dieses Tal ist nicht so leicht zu durchschreiten, wie du es in deiner Einfalt glauben möchtest. Wenn auch das Blut deines Herzens sich in dieses Meer ergösse, könntest du nur die erste Station erreichen. Und durchliefest du alle Straßen der Welt, du fändest dich immer, wenn du drauf wohl achtetest, beim ersten Schritt. In der Tat hat kein Wandrer das Ziel seiner Reise geschaut und die Heilung seiner Liebe gefunden. Hältst du inne, wirst du versteinert, oder du stirbst und wirst eine Leiche. Setzest du den Schritt weiter und schreitest immer vorwärts in deinem Laufe, bis zur Ewigkeit wirst du den Schrei hören: „Weiter noch!“ Es ist dir nicht gestattet, fortzuschreiten noch stehenzubleiben; es ist dir nicht ersprießlich, zu leben noch zu sterben. Welchen Gewinn hast du aus all der Mühsal genommen, die du ertragen hast? Es gilt gleich, ob du dir den Kopf schlägst oder ihn nicht schlägst, o du, der mich hört! Bleib still, lass all dies und handle… Trachte danach, unabhängig und dir genug zu sein… In diesem vierten Tal strahlt der Blitz der Tugend, die darin besteht, sich selber zu genügen, so stark, dass seine Wärme Hunderte von Welten aufzehrt. Da Hunderte von Welten zu Staub werden, wäre es außergewöhnlich, wenn auch die Welt, die wir bewohnen, verschwände?… In diesem Tal darf niemand in der Untätigkeit bleiben, und nur in der Reife darf man es betreten. Es ist nun an der Zeit zu handeln, anstatt in der Ungewissheit oder in der Sorglosigkeit zu leben: Erhebe dich also und durchschreite dieses mühsame Tal, nachdem du deinem Geist und deinem Herzen entsagt hast; denn wenn du nicht dem einen und dem andern entsagst, treibst du Vielgötterei und die sorgloseste der Vielgöttereien. Opfre also deinen Geist und dein Herz auf dieser Bahn, sonst musst du verzichten, dir genügen zu können…
Das Tal der Einheit
Dies ist der Ort der Entblößung von allen Dingen und der Einung. Alle, die in dieser Wüste das Haupt erheben, ziehen es aus dem gleichen Kragen. Magst du auch viele Einzelwesen sehen, es gibt in Wirklichkeit nur wenige, nein, es gibt eines nur. Da die Menge von Personen wahrhaft nur eine ausmacht, ist diese vollkommen in ihrer Einheit. Was sich dir aber als eine Einheit darstellt, das ist nicht verschieden von dem, was gezählt wird. Da das Wesen, das ich verkündige, außer dieser Einheit und der Zahl ist, lasse du ab, der Ewigkeit des Vordem und der Ewigkeit des Darnach nachzusinnen; und da die beiden Ewigkeiten zerronnen sind, gedenke ihrer nicht mehr…
Wenn der Wanderer in dieses Tal eingetreten ist, verschwindet er wie die Erde unter seinen Füßen. Er wird verloren sein, denn das einzige Wesen wird offenbar sein. Er wird stumm sein, denn das einzige Wesen wird reden. Der Teil wird das Ganze werden, vielmehr es wird weder Teil noch Ganzes sein. Es wird eine Gestalt ohne Körper und Seele sein… Was ist der Verstand? Er ist an der Schwelle des Tors geblieben, wie ein blindgeborenes Kind. Wer etwas von diesem Geheimnis gefunden hat, wendet das Haupt vom Reiche beider Welten ab… Das Wesen, das ich verkündige, ist nicht gesondert da; die ganze Welt ist dieses Wesen; Sein oder Nichtsein, es ist immer dieses Wesen…
Das Tal der Bestürzung
Auf das Tal der Einheit folgt das der Bestürzung. Da ist man die Beute der Traurigkeit und des Stöhnens. Da sind die Seufzer wie Schwerter, und jeder Hauch ist eine bittre Klage. Da ist nichts als Weheruf, als Leid, als zehrende Glut; da ist Tag und Nacht zugleich, und da ist weder Tag noch Nacht. Da sieht man von jedes Haares Ende, ohne dass es abgeschnitten würde, das Blut tropfen… Wie wird der Mensch in seiner Bestürzung weitergehen können? Er wird betäubt werden und sich auf dem Wege verlieren. Aber der die Einheit im Herzen eingegraben hat, vergisst alles und vergisst sich selbst. Wenn man ihn fragt: „Bist du oder bist du nicht; hast du das Gefühl des Seins oder hast du es nicht; bist du in der Mitte oder bist du am Rande; bist du sichtbar oder verborgen; bist du vergänglich oder unsterblich; bist du das eine und das andere oder weder das eine noch das andere; bist du du selbst oder bist du es nicht?“, – wird er antworten: „Ich weiß nichts davon, ich bin dessen unkundig, und ich bin meiner unkundig. Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht in wen; ich bin weder treu noch ungetreu. Was bin ich doch? Ich bin selbst meiner Liebe unkundig; ich habe das Herz von Liebe voll und von Liebe leer zugleich“…
Wer in das Tal der Bestürzung eintritt, der tritt in jedem Augenblick in einen so großen Schmerz ein, dass er hinreichen...