I. Besprechung mit anschließendem Frühstück:
Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942
Die stille Villenstraße „Am Großen Wannsee“ gehört zu den ganz feinen Adressen in Berlin. Hier hatte die „Stiftung Nordhav“ Ende der 30er Jahre das Anwesen Nummer 56–58 erworben, und die Villa sollte als Erholungsort für Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der SS und deren Angehörige dienen. Hausherr und Gründer der Stiftung war Reinhard Heydrich. Als Chef des Reichssicherheitshauptamtes, der Polizei- und Geheimdienstzentrale des NS-Staats, war er einer der wichtigsten Männer des Regimes, wichtiger als fast alle Reichsminister; Weisungen empfing er, von Hitler abgesehen, nur von Göring als dem zweiten Mann im Staat und vom Reichsführer SS Heinrich Himmler, seinem unmittelbaren Chef.
In das Haus am Großen Wannsee hatte Heydrich am 29. November 1941 eine Anzahl hochrangiger Funktionäre zur „gemeinsamen Aussprache“ über Probleme der „Gesamtlösung der Judenfrage in Europa“ eingeladen. Das Treffen sollte ursprünglich schon am 9. Dezember 1941 stattfinden, wurde jedoch („aufgrund plötzlich bekanntgegebener Ereignisse und der damit verbundenen Inanspruchnahme eines Teils der geladenen Herren“) kurzfristig abgesagt.
Zum 20. Januar 1942 lud Heydrich den gleichen Teilnehmerkreis erneut zur „Besprechung mit anschließendem Frühstück“. Auf der Tagesordnung stand – selbstredend in bürokratische Formeln und Klauseln gehüllt – das singulär-monströseste Verbrechen der Menschheitsgeschichte, der Völkermord an den Juden. Das Treffen am Mittag des 20. Januar 1942 wird deshalb immer wieder mißverstanden und als der Anlaß verortet, bei dem die „Endlösung“ – der Völkermord – beschlossen worden ist. Das ist nicht richtig. Diese äußere Dramatik fehlte der Wannseekonferenz, die Tragödie des Massenmords an Juden war ja auch längst Wirklichkeit. Eine Verabredung zur Ausrottung von Millionen Menschen hätte die Kompetenz der Besprechungsteilnehmer überdies erheblich überstiegen. Trotzdem ist das Protokoll der Veranstaltung, die offiziell „Staatssekretär-Besprechung“ hieß und als „Wannseekonferenz“ in die Geschichtsbücher kam, ein Schlüsseldokument der Zeitgeschichte. Geladen waren dreizehn Herren der Bürokratie und Exekutive des NS-Staats, die im Range von Staatssekretären und als hohe Offiziere ungefähr die dritte Ebene der Führungshierarchie bildeten. Mit Heydrich, der die Szene beherrschte, und Adolf Eichmann, seinem Judendezernenten, der für das Protokoll zuständig war, und schließlich einer unbekannt gebliebenen Stenotypistin waren 16 Personen versammelt.
Die Beamten vertraten die Reichsministerien des Innern, der Justiz, für die besetzten Ostgebiete, die Reichskanzlei und die Parteikanzlei der NSDAP, das Auswärtige Amt, den Beauftragten für den Vierjahresplan, den Generalgouverneur in Krakau. Die SS-Offiziere waren als Angehörige des Repressionsapparats (Gestapo, Sicherheitspolizei und SD) im Reich und in den besetzten östlichen Territorien geladen. Auffällig war, daß Reichsverkehrsministerium und Reichsbahn als für die Deportation der Juden wichtige Instanzen und das Reichsfinanzministerium als oberste Institution, der die Ausplünderung der Juden oblag, nicht vertreten waren, ebenso die Wehrmacht. Die Präsenz dieser Stellen war aber auch gar nicht mehr notwendig, weil die Kooperation mit ihnen schon reibungslos lief; auch Wehrmacht und SS-Einsatzgruppen arbeiteten bei den Judenmassakern im Osten seit Kriegsbeginn zusammen. Die Mordkommandos der Einsatzgruppen waren, als die Herren am Großen Wannsee konferierten, längst an der Arbeit.
Der Gegenstand der Debatte in der Berliner Villa blieb in der abstrakten Dimension der Statistik, vermutlich sahen die Zuhörer auch nicht Menschen vor sich, als Reinhard Heydrich von insgesamt „über 11 Millionen“, verteilt auf alle Länder Europas, sprach, die ein Problem, nämlich „die Judenfrage“, darstellten, das einer endgültigen Lösung zugeführt werden müsse. Bestimmt dachten die Beamten und Offiziere in der Wannseevilla nicht an Individuen, an Menschen, die äußerster Demütigung und Qual ausgesetzt waren, die im Augenblick des Todes an Gott und der Menschheit verzweifelt sein mußten.
Die Herren am Konferenztisch befanden sich in gehobener Stimmung, lebhaft und freudig erregt folgten sie den Ausführungen Heydrichs, machten Vorschläge, waren guter Dinge. Adolf Eichmann, der Protokollant und Zuarbeiter Heydrichs, hat das zwei Jahrzehnte später ausdrücklich bestätigt: „Hier war nicht nur eine freudige Zustimmung allseits festzustellen, sondern darüber hinaus ein gänzlich Unerwartetes, ich möchte sagen Übertreffendes und Überbietendes im Hinblick auf die Forderung zur Endlösung der Judenfrage.“ Die gute Stimmung hielt an, als die Herren fertig waren, gefrühstückt hatten und gegangen waren. Heydrich blieb mit Gestapochef Müller und dem Referenten Eichmann zufrieden zurück. Man saß beisammen, trank Cognac, und Heydrich gab dabei Anweisungen, wie er das Protokoll haben wollte.
Die Staatssekretär-Besprechung hatte nicht allzu lange gedauert, vielleicht eine Stunde oder zwei, sicher nicht viel länger (exakt festgehalten wurde das nirgendwo), und es hatte keine Einwände und überhaupt keine kontroverse Diskussion gegeben. War denn ein dramatisches Ringen, gar ein Kampf der Bürokraten mit den SS-Offizieren um das Schicksal der europäischen Juden zu erwarten gewesen? Wollte Eichmann das andeuten, als er beim Verhör in Jerusalem im Frühjahr 1960 die Atmosphäre nach getaner Arbeit beschrieb? „Die Stimmung fand ihren sichtbaren Niederschlag in der aufgelockerten und zufriedenen Haltung Heydrichs. Er hatte sicherlich auf dieser Konferenz die größten Schwierigkeiten erwartet gehabt.“
Eichmann, 1906 geboren, war eine der Schlüsselfiguren der Bürokratie des Judenmords. Seit 1932 Mitglied der NSDAP und der SS, seit 1934 Judenreferent im Sicherheitsdienst (SD) Himmlers, organisiert er im August 1938 die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien und im Oktober 1939 die „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ in Berlin. In diesen Funktionen sammelt er Erfahrungen in der Vertreibung und Deportation von Juden, 1941 ist er der größte Experte dafür.
SS-Obersturmbannführer Eichmann, Referent IV B 4 (Judenangelegenheiten und Räumungsangelegenheiten) im Reichssicherheitshauptamt, der bei seinen Vernehmungen in Israel nicht müde wurde zu beteuern, welch kleines Rädchen im Getriebe, welch untergeordneter Aktentaschenträger er gewesen sei, der nur am Protokolltisch in der Ecke saß und lauschte, was die hohen Herren sprachen, Eichmann also, der Judendezernent in der Reichszentrale der Polizei im Range eines Oberstleutnants, hat auch überliefert, daß die Erörterung in recht offener Sprache stattfand. Er habe fürs Protokoll glätten und „gewisse Auswüchse“, einen gewissen „Jargon“ abmildern, „in dienstliche Worte“ kleiden müssen.
Die entsprechenden Passagen des Protokolls lesen sich trotzdem noch wie Klartext, jedenfalls für alle, die mit der Sprache des SS-Staats vertraut waren. Im Protokoll der Staatssekretärs-Besprechung im Gästehaus am Wannsee wird das Geschick, das elf Millionen Juden zugedacht war, unmißverständlich prognostiziert. Die zentrale Stelle lautet: „Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.“
Die restlose Ausrottung aller Juden in ganz Europa war also als längst beschlossene Sache angekündigt, und mindestens die Hälfte der Besprechungsteilnehmer hatte auch ganz konkrete Vorstellungen, wie die Massenmorde verübt wurden oder noch begangen werden sollten. Natürlich mußten sie nicht die Vokabeln Totschlagen, Vergasen, Erschießen benützen (für Mord hielten sie die beabsichtigte Ausrottung der Juden ohnehin nicht), sie waren ja gebildete und wohlerzogene Leute, oder doch wenigstens Männer von Rang und Stand, zusammengekommen zur Erledigung von Staatsgeschäften. Jedenfalls wußten sie genau, was mit den Worten „Aussiedlung“, „Endlösung“, „Sonderbehandlung“, „Evakuierung“ gemeint war.
Heydrich gab zu Beginn der Konferenz einen Überblick über „den bisher geführten Kampf gegen diesen Gegner“. Das Ziel sei gewesen, „auf legale Weise den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern“. Angesichts des Fehlens besserer...