Heinrich Boehmer: Die Aufgabe
Wenn man im 16. Jahrhundert den Charakter und die Schicksale eines Menschen wissenschaftlich erklären wollte, dann suchte man vor allem die Konstellation der Sterne in seiner Geburtsstunde festzustellen. Dies Verfahren hat man früher auch auf Luther angewendet. Melanchthon hat mehrfach die Nativität des Reformators ausgerechnet, und sein Beispiel ist von den Astronomen dieser und der folgenden Zeiten viel nachgeahmt worden, obwohl Luthers Spott über „die schäbige Kunst Astrologia“ ihnen wohlbekannt war. Heute gibt es kaum jemanden mehr, der mit solchen „Phantaseien“ das Problem Luther lösen zu können glaubt. Heute befragt man, wenn man die physische und psychische Konstitution eines Menschen erklären will, nicht mehr die Sterne, sondern man erforscht die Umwelt, in der er sich gebildet hat, und untersucht, ob und inwieweit seine physischen und psychischen Eigenheiten zur Erbmasse gehören oder als ein Produkt der Vererbung sich erweisen lassen. Die biologische Vererbungsforschung, die sich nur mit der körperlichen Struktur der Lebewesen beschäftigt, hat es schon zu einigen sicheren Ergebnissen gebracht, die psychologische steht dagegen noch in den allerersten Anfängen. Darüber aber sind Biologen und Psychologen sich einig, dass das Vererbungsproblem nur an Individuen studiert werden kann, deren Ahnen genau bekannt sind und für deren Entwicklung eine lückenlose Reihe exakter Beobachtungen von der frühesten Kindheit bis zum reiferen Alter vorliegt. Denn wie der Schädelindex und die Farbe der Augen und Haare, so ändert sich im Laufe der Jahre, wie jedermann weiß, auch der Charakter des Menschen. Der Jüngling ist anders als das Kind und der Mann anders als der Jüngling. Man kann daher die stabilen Eigenschaften des Charakters und der Begabung von den mehr labilen nie unterscheiden, wenn man nur den Jüngling oder nur den Mann kennt. Luthers Entwicklung können wir leider erst von seinem dreißigsten Lebensjahre an der Hand gleichzeitiger urkundlicher Nachrichten genau verfolgen. Für die vorhergehende Zeit steht uns nur eine Reihe zufällig überlieferter Äußerungen des Reformators über einzelne Ereignisse und Tatsachen zur Verfügung, die ihm später aus irgendwelchem Grunde besonders wichtig erschienen sind; ob sie aber für seine Entwicklung tatsächlich so wichtig waren, das können wir oft nicht mehr mit Sicherheit entscheiden. Was seine Vorfahren väterlicher- und mütterlicherseits anlangt, so sind wir nur über seinen Vater einigermaßen unterrichtet. Aber wie wenig wissen wir im Grunde auch von diesem! Von der Mutter, der er nach Spalatin „wie aus den Augen geschnitten“ gewesen sein soll, haben wir nur eine ganz schattenhafte Vorstellung. Von dem Großvater und der Großmutter väterlicherseits ist uns bloß der Name überliefert, von der mütterlichen Großmutter, deren Erbwirkung wir nach der Meinung einiger Forscher besonders hoch veranschlagen müssten, nicht einmal der Name. Nur, dass sie aus Schmalkalden stammte, also städtischer Herkunft war, können wir mit einiger Sicherheit behaupten. Daraus erhellt: auch wenn die Gesetze der psychischen Vererbung, auf die man nun schon so lange fahndet, einmal ermittelt werden sollten, wird der Psychologe nie imstande sein, die Persönlichkeit des Reformators mittels dieser Gesetze genetisch zu erklären. Aber die biologische Vererbungsforschung befindet sich diesem Problem gegenüber kaum in einer besseren Lage. Wenn man hört, dass die Eltern Luthers beide „kleine, kurze Personen, ein bräunlicht Volk“ waren, dann erscheint es einem allerdings nicht mehr wunderbar, dass auch er es nur zu mittlerer Größe gebracht und braune Augen und Haare gehabt hat. Aber mit dieser simplen Feststellung, mit der der Biologe nicht viel anfangen kann, sind wir wieder schon am Ende unserer Weisheit angelangt. Nicht einmal die anscheinend so leichte Frage, ob der Reformator mehr nach dem Vater oder nach der Mutter geartet war, können wir, wenn wir die im Lutherzimmer der Wartburg hängenden Porträts des alten Ehepaars von Lukas Cranach dem Älteren aus dem Jahre 1527 mit den wenigen echten Lutherbildern desselben Cranach vergleichen, trotz Spalatins eben angeführtem Ausspruch sicher beantworten.
Es ist somit eitel Humbug, wenn immer wieder versucht wird, gewisse wirkliche oder angebliche Eigenschaften Luthers von gewissen wirklichen oder angeblichen Eigenschaften seiner Ahnen abzuleiten, also wenn man z. B. behauptet: sein Vater habe gelegentlich etwas über den Durst getrunken, also sei er erblich mit einer Neigung zur Trunksucht belastet gewesen, oder: sein Onkel Klein-Hans Luder sei in den Jahren 1499 bis 1513 in Mansfeld nicht weniger als elfmal wegen Körperverletzung und Beleidigung gerichtlich verurteilt worden. Folglich stecke wohl nicht nur in der alten Legende, dass Luthers Vater, Groß-Hans Luder, wegen eines Totschlags aus Möhra geflohen sei, ein Körnlein Wahrheit, sondern es sei auch bei dem Reformator selber eine solche ererbte Anlage zu Gewalttätigkeiten oder doch zu jähen Affektausbrüchen vorauszusetzen. Dass Klein-Hans Luder ein Raufbold und „Messerheld“ war, ist allerdings nicht zu bestreiten. Aber aus dem Verhalten dieses einen einzigen, wie es scheint, etwas missratenen Mitgliedes der Möhraer Ludersippe ist schlechterdings kein Schluss auf die psychische Konstitution des Bruders oder gar des Neffen zu ziehen, zumal wir gar nicht wissen, ob dieses Verhalten durch einen psychischen Defekt oder nur durch die Verhältnisse bedingt war, in denen Klein-Hans Luder lebte. Ebenso steht es mit der kurzerhand dem Reformator zugeschriebenen Neigung zur Trunksucht. Dass Trunksucht sich vererbt und sehr schwere Folgen für die körperliche und seelische Verfassung der Nachkommen haben kann, wusste man schon im 16. Jahrhundert. Als ein warnendes Beispiel dieser Art nennt Luther später seinen Neffen Hans Polner, den, wie er sagt, im Rausch erzeugten Sohn seines trunksüchtigen Schwagers Hans Polner in Mansfeld. Aber diesem erblich belasteten Neffen stellt er ausdrücklich in eben jener viel zitierten Tischrede seinen Vater als Gegenbeispiel, d. h. als einen leiblich und seelisch gesunden Mann gegenüber, für den der Wein kein „Gift“ gewesen sei, auch wenn er ab und zu einmal einen Becher zuviel getrunken habe. Dass er sich hierin nicht geirrt hat, wird bestätigt durch die ganze Lebensgeschichte des alten Hans. Wäre er ein sogenannter „voller Bruder“ gewesen, so wäre es ihm sicher nie gelungen, sich vom einfachen Arbeiter zum wohlhabenden Kleinunternehmer emporzuarbeiten, und auch nie geglückt, unter den Mansfelder Kapitalisten jemanden zu finden, der ihm die für jene Zeit sehr erheblichen Kapitalien zur Gründung und Erweiterung seines Geschäfts vorgestreckt hätte.
Es bleibt also dabei, mit den Mitteln und Methoden der Vererbungstheorie ist das Problem „Luther“ weder ganz noch teilweise zu lösen. Aber die neuzeitliche Persönlichkeitsforschung arbeitet doch nicht nur mit dem Schlagworte „Vererbung“, sie rechnet auch noch immer mit den bildenden Einflüssen der „Umwelt“, ja sie legt auch heute noch hier und da auf die Feststellung dieser Einflüsse größeres Gewicht als auf die „Ahnenprobe“. Es wird wohl heute niemanden mehr geben, der die Bedeutung dieses Faktors für den psychischen Lebensprozess bestreitet. Es fragt sich nur, ob es möglich ist, die unübersehbare Fülle von Einflüssen, die das Wort Umwelt umfasst, jemals vollständig und exakt zu ermitteln. Die Antwort muss einfach lauten: nein. Was bei einem lebenden Individuum nicht möglich ist, ist natürlich bei einem Individuum der Vergangenheit von vornherein ausgeschlossen. Was in diesem Falle von der Umwelt noch sicher zu erkennen ist, ist immer nur ein Haufe einzelner zusammenhangloser Fragmente, zwischen denen erst die konstruktive Phantasie des Historikers eine Art Verbindung herstellt. Die Bilder, die auf diese Weise entstehen, haben zwar oft einen großen ästhetischen Reiz, aber man darf über dem Vergnügen, das man bei ihrer Betrachtung empfindet, doch nie vergessen, dass sie alle mehr oder weniger konstruiert sind und nie sicher erkennen lassen, ob und inwieweit das Individuum, dem sie als Folie dienen, durch die willkürlich mit der Etikette „Umwelt“ versehenen zufällig überlieferten Tatsachen und Tatbestände, die darin verarbeitet sind, tatsächlich beeinflusst worden ist. Denn wie die Pflanze, so nimmt auch der Mensch von seiner Umgebung nur das an, was seiner Natur zusagt. Welche Umweltreize auf ihn gewirkt haben, das steht also nie von vornherein fest, sondern muss immer erst von Fall zu Fall untersucht werden. Es ist somit unmöglich, Luthers Umwelt in Mansfeld, Magdeburg, Eisenach, Erfurt und selbst in Wittenberg zu rekonstruieren, unmöglich, so vollständig und exakt, wie es die Umweltstheorie erfordert, die „ubiquären“ und „solitären“ Umweltreize festzustellen, die hemmend oder fördernd auf seine Entwicklung eingewirkt haben. Dann aber tut man gut, von vornherein auf diesen aussichtslosen Versuch zu verzichten und sich lediglich auf die Ermittlung der Tatsachen und Tatbestände zu beschränken, die nachweislich für seine innere und äußere Entwicklung von Bedeutung gewesen sind.
Keine der beiden Theorien, welche die moderne Persönlichkeitsforschung beherrschen, ist also praktisch durchführbar, keine daher auch auf Luther anwendbar. Allein folgt daraus, dass die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, überhaupt nicht lösbar ist? Wenn das, was wir Persönlichkeit nennen, nur ein Produkt von Vererbung und Umwelt wäre, dann müssten wir in der Tat jetzt schon die Waffen strecken. Aber Persönlichkeit ist doch nicht bloß ein Sammelname für die zufällig in einem Individuum vorhandenen physischen und psychischen Eigenschaften, auch nicht bloß die Summe oder das Produkt dieser Eigenschaften, also...