Ein letzter Brief aus Bonn an seine Mutter: „Also gestern ist auch Dein jüngster Sohn in den Doktorstande eingetreten. Das Ziel also, das ich mir dieses Jahr steckte, ist erreicht und zwar erreicht ebenso wie bei Vater und Bruder summa cum laude."[157]
Seit dem I.Oktober 1913 leistet er seinen Militärdienst beim 10. Bayrischen Feldartillerie-Regiment in Erlangen.[158] Die Möglichkeit zu damaliger Zeit, sich den Standort für die Ableistung des Militärdienstes selbst auszusuchen, nutzt er, um bei einem Regiment unterzukommen, welches einen „Orden für produktiven Ungehorsam"[159] verleiht. Walter Eucken wird dieser Orden im Krieg auch verliehen, nachdem er bei einem Rückzugsgefecht im Elsaß gegen den Befehl des Vorgesetzten handelt und dabei die erfolgreichere Variante wählt.[160]
Noch im Sommer 1914 erhält Walter Eucken eine Einladung von der ColumbiaUniversität in New York, „ein Jahr hindurch über die Hauptfragen der deutschen Sozialpolitik als Glied des Lehrkörpers dort zu sprechen. Er war bereit, diese ehrenvolle Einladung anzunehmen, und wir hatten schon für den 3. Oktober 1914 einen Platz auf dem Dampfer ‘Columbia’ für ihn belegt, als der Krieg alle Pläne umwarf."[161]
Als Walter Eucken die Einladung an die Columbia-Universität erhält, ist die Ahnung vom nahen Ausbruch des Krieges schon fast allgegenwärtig. Wie steht der Sohn des Philosophen zu dessen Ideen, der mit seiner „Deutschtumsmetaphysik“ zu einem der herausragenden Beschwörer der welthistorischen Rolle des deutschen Geistes wird, der die Unbesiegbarkeit der deutschen Nation „aus der Identifikation ihres ‘Wesens’ mit dem ‘Sinn’ der Weltgeschichte ableitet“, um sie damit gegen den westlich geprägten Liberalismus zu erheben?[162] Ist der Weltkrieg für ihn ebenfalls die „Weltbewährungsprobe deutscher Innerlichkeit“, durch die „das deutsche Leben und Tun eine weltgeschichtliche Bedeutung“ erlange, um damit in den nur äußerlichen Zivilisationen, „die Kultur der Seele zu retten“?[163] Walter Oswalt weist darauf hin, daß Walter Eucken den kriegsphilosophischen Exkursen seines Vaters damals sehr distanziert gegenübersteht. Allerdings ginge man doch fehl in der Annahme, hier läge nur ein primitiver Chauvinismus vor. Rudolf Eucken war ernsthaft bemüht, Auswege aus der gesellschaftlich-politischen Zerrissenheit Deutschlands aufzuweisen. Und in diesem Zusammenhang verstieg er sich auch zur These von der Überlegenheit der deutschen Seele gegenüber dem westlichen Liberalismus. Dennoch: Der weltoffene und freiheitliche Geist des Hauses Eucken war allgemein bekannt.
Es ist wenig bekannt über die Kriegseinsätze Euckens. Nach den Aussagen seines Vaters zog er „willig und freudig in den Krieg“[164]. Walter Oswalt meint, daß es für ihn wichtig war, daß jeder Soldat seine persönliche Verantwortung sieht und sich nicht einfach als Rädchen im Getriebe begreift. Aus der mündlichen Überlieferung ist bekannt, daß er als Leutnant sowohl im Elsaß als auch in Rumänien und Rußland im Felde stand.[165] In einem Brief an seine Mutter werden Vogesen, Trotustal und Flandern genannt.[166] Während dieser Zeit dient er 15 Monate als Ordonanz-Offizier und Adjutant beim Regiment, die restliche Zeit kämpft er in seiner Batterie und wird am Ende des Krieges als Batterieführer eingeteilt.[167]
Später, nach Hitlers Machtübernahme, findet er einen Vergleich seiner Situation mit den letzten Gefechten im Krieg: „Immer wieder muß ich auch an die Herbsttage 1918 denken, in denen wir in heftigen Nachhutkämpfen mit den Franzosen lagen. Nein, wir haben sie verhältnismäßig anständig durchgepaukt. Heute fühlt man sich auch im Rückzug, den anständig zu führen unsere Hauptaufgabe bleibt.“[168]
Den Anfang vom Ende der deutschen Monarchie erlebt Walter Eucken noch in der Uniform. Inzwischen hat die gescheiterte Sommeroffensive von 1918 den Großteil an Hoffnung, doch noch siegreich zu sein, begraben. Das offizielle Eingeständnis der Niederlage läßt nicht mehr lange auf sich warten. Die Ereignisse in der Heimat lassen ihn daher natürlich nicht unberührt, seine Enttäuschung über das dortige Geschehen sitzt tief. Opferte man sich nicht seit nunmehr vier Jahren, um dabei mitzuhelfen, die weltpolitische Mission Deutschlands zu erfüllen? Sollte ein Sieg über den Feind nicht auch die Grundlage sein, damit das deutsche Volk in mehr „Gemeinschaft“, in mehr „Innerlichkeit“ zusammenfindet? Ist das, was da zu Hause geschieht, nicht ein verräterischer „Dolchstoß“ gegen das eigene Heer, ein Verrat an den gefallenen Kameraden?[169]
Eucken konstatiert: „Seit meinem Weggang von Euch hat sich ja so vieles trauriges ereignet ... Damals waren wir alle doch wirklich siegesbewußt. Und nun in dieser kurzen Zeit dieser traurige Umschwung. Das ist allerdings nicht das wesentliche, daß unser Heer hier und da eine Schlappe erlitten hat. Das Traurige ist die Haltung der Heimat, die so jammervoll versagt und jetzt gerade doch eigentlich die Flinte ins Korn wirft. Man fragt sich wirklich, wofür kämpfen wir? Etwa für die Jammerlappen zu Hause? ... Offen heraus gesagt, als Deutscher fühle ich mich nicht mehr stolz ein Aufgeben für das Vaterland gibt es nicht, weil mir mein Vaterland zu erbärmlich ist.“ [170]
Seine Konsequenz heißt Rückzug: „Immer wieder lernt man, daß man seine Arbeit nie auf die Menge, in die Weite gründen darf. Das ist ein falscher Trieb der Menschen. Die Sache, einige liebe Menschen - in diesem Milieu soll man arbeiten.“ [171] Doch die Ereignisse überschlagen sich. Der Aufstand der Matrosen läßt ahnen, wohin das Blatt sich wendet. Für Walter Eucken ist es in diesen Wochen sehr wichtig gewesen, daß in der von ihm geführten Einheit keine revolutionären Aktivitäten ausgebrochen sind, daß es nicht zu Befehlsverweigerung und Meuterei kam. Inwieweit dies von seiner eigenen Durchsetzungskraft abhängig war, ist nicht bekannt.[172]
Nach seiner Rückkehr in die Heimat[173] geht er als Assistent zu Schumacher nach Berlin. Da die in dieser Zeit recht kontinuierliche schriftliche Korrespondenz mit dem Elternhaus erst ab Mitte Februar 1919 einsetzt, ist zu vermuten, daß sich Eucken seit dieser Zeit in Berlin aufhält.
Natürlich sind die Geschehnisse so, wie sie sich entwickeln, für ihn nur schwerlich akzeptabel. Hier ist die eigene „Lebenswelt“ in Gefahr, hier sind für ihn die Zeichen weiterer geistiger Verflachung ganz offenbar, hin zu einer Gesellschaft die der geistigen Arbeit(er) wohl entbehren kann. Seine verbitterte politische Haltung gegenüber der jungen Republik in dieser dramatischen Zeit, geht unter anderem aus einem Flugblatt hervor, welches er wahrscheinlich im Vorfeld der Wahlen zur Nationalversammlung selbst entworfen hat:[174]
„1) Was hat die Revolution gebracht?
Arbeitslosigkeit und mit ihr Not und Elend.
Unsicherheit in Stadt und Land, Raub und Plünderung.
Hat die neue Regierung aber mehr Lebensmittel gebracht? Nein!
Die Hungersnot steht vor der Tür.
Darum wählt bürgerlich.
2) Was kostet die Revolution?
Alle deutsche Fürsten haben in einem Jahre nicht einmal 100 Millionen gebraucht.
Die Arbeiter- und Soldatenräte haben in 7 Wochen über 800 Millionen verschwendet.
Wer muß das zahlen? Das Volk.
Merkt Euch das und wählt bürgerlich.
3) Früher standen wir in Feindesland, jetzt rücken die Polen in Deutschland ein.
Früher herrschte Ordnung und Sicherheit, jetzt Willkür und Unsicherheit.
Früher fand fast jeder Beschäftigung, jetzt ist Arbeitslosigkeit, Not und Elend.
So geht es nicht weiter, wir stehen am Abgrund.
Wählt bürgerlich.“
Nach der „Berliner Blutwoche“, Anfang März, schreibt er: „Übrigens schelte ich jetzt nicht auf die Regierung. Noske tritt schneidig auf. Hier scheint mir mit dem Zusammenbruch des Generalstreiks viel erreicht zu sein.“[175]
Etwas später: „Wie Du beurteile ich auch unsere Zukunft pessimistisch. Zwar nicht ganz so, wie es fast alle Leute hier tuen, die meinen, der Bolschewismus käme notwendig auch für Deutschland. Aber eine unabhängige Regierung werden wir wohl bekommen. Die jetzige ist ja auch wirklich recht erbärmlich.“[176] „Aber man kann jetzt nichts tun als einerseits zu sorgen, daß Ruhe im Lande bleibt. Zu diesem Zweck habe ich mich zeitfreiwillig gemeldet. D.h. man wird nur im Notfall einberufen, wenn wirklich Unruhen hier sind. Andererseits kann man durch Einwirkung auf die Studenten wirken. Das geschieht auch. Wir werden hier eine große Kundgebung machen.“ [177]
Natürlich zeigt sich Walter Eucken auch in seiner Reaktion auf den Diktatfrieden von Versailles als typischer Vertreter jener preußisch-protestantischen Schichten, die die Niederlage im Weltkrieg noch nicht überwunden haben, ja die die Verursacher des Fiaskos der Niederlage...