Der Achtfache Pfad
Rechte Erkenntnis
Wenn uns nicht bewusst ist, dass wir gerade leiden, können wir auch nicht erforschen, weswegen wir leiden. Erst durch Erkenntnis erhalten wir die Chance, unser Leben zum Positiven hin zu verändern.
Kennen Sie den Postkartenspruch: Ich habe zwar keine Lösung, bewundere aber das Problem? Sehr wahrscheinlich haben auch Sie schon lange Gespräche mit Freunden oder Freundinnen über Probleme mit den Kindern, dem Partner, der Arbeit, dem Gewicht … geführt – irgendetwas stört uns immer, nichts ist hundertprozentig perfekt. Sie wünschen sich wirkliche Lösungen für Ihre Probleme? Die sind ohne bestimmte Erkenntnisse und Einsichten jedoch nicht möglich. Denn es geht vor allem darum, die richtige Einstellung zu unserem Leid zu finden. Wir ärgern uns, dass wir Schmerzen haben, regen uns auf, dass wir zu viel arbeiten müssen oder dass es heute schon wieder regnet, obwohl doch schon der Sommer so miserabel war – die Liste ließe sich wohl ziemlich lang fortsetzen. Alles in allem leiden wir darunter, dass wir leiden. Um aus dem Schlamassel herauszufinden, brauchen wir die rechte Erkenntnis. Sie ist der Beginn, um unser Leben zu optimieren.
Einerseits stellt sie den Anfang Ihres Achtfachen Pfades dar, denn ohne das Bewusstsein um Ihre aktuelle Situation wüssten Sie ja gar nicht, wo Sie ansetzen sollen. Sie lässt Sie wahrnehmen, dass es Leid in Ihrem Leben gibt, und macht Ihnen das Zusammenspiel von Ursache und Wirkung, die Auswirkungen Ihres Denkens, Redens und Tuns auf Sie selbst und Ihr Umfeld bewusst. Damit schafft sie die Basis, um Sie aus Ihren Leiden erzeugenden, destruktiven Prozessen zu führen.
Andererseits ist Erkenntnis das, was Sie auf Ihrem Weg durch die gesamte Übungspraxis des Achtfachen Pfades kontinuierlich begleiten und bereichern wird – bis Sie letztlich die Vollendung erreichen: die Befreiung von Leid und somit Erleuchtung.
ERLEUCHTUNG ERFAHREN
Also, es werden keine Engels-Chöre ein Lied anstimmen, wenn es so weit ist. Erleuchtung ist etwas ganz Alltägliches. Wir erleben es zum Beispiel immer dann, wenn wir das Licht anschalten: Der Raum, der vorher im Dunkel gelegen hat, wird nun sichtbar. Genauso verhält es sich mit unserem geistigen Prozess: Etwas, das wir vorher nicht gesehen haben, wird durch Erkenntnis und Übung sichtbar, und zwar so, wie es wirklich ist, und nicht wie wir denken, dass es ist. Angenommen, Sie sehen beim Spazierengehen einen gewundenen Gegenstand auf dem Waldboden liegen, dann wird Ihr Gehirn sofort versuchen, diesen einzuordnen. Da das Objekt dunkel, länglich und gewunden ist, sortiert Ihr Gehirn es als Schlange ein. Auf der Stelle wird der Überlebensmodus ausgelöst, Ihr Körper schüttet Stresshormone aus und Sie bekommen automatisch Angst. Damit stellt Ihr Organismus sicher, dass Sie sich dem Objekt (wenn überhaupt) nur vorsichtig nähern. Gehen wir davon aus, dass Sie neugierig und mutig genug sind, sich die Schlange etwas näher anzuschauen. Während Sie herantreten, erkennen Sie, dass es nur ein gekrümmter Ast ist. Schlagartig fällt alle Anspannung von Ihnen ab, denn für Ihren Organismus gibt es nun keine Bedrohung mehr. Vielleicht müssen Sie sogar ein wenig über sich selbst lachen. Das ist ein Erleuchtungsmoment. Klingt ziemlich unspektakulär, oder? Aber um viele solcher ähnlichen Prozesse wird es auf Ihrem Weg gehen.
Dramen den Nährboden entziehen
Wir leiden und haben Angst, weil wir nicht erkennen, wie die Dinge wirklich sind. Wir interpretieren und mutmaßen, steigern uns in Dramen hinein, verstricken uns, reißen andere noch mit in unser Dilemma, in der Hoffnung, dass es uns dann besser geht – stattdessen leiden wir noch mehr. Doch dann fangen wir an, achtsam zu sein, wir meditieren und lernen, uns zu sammeln, wir schauen genauer hin, erkennen die wahre Natur der Dinge und – heureka! – das Drama hat keinen Nährboden mehr. Wir reagieren angemessener, es tut alles immer weniger weh – und das einfach so, ohne weitere Anstrengung.
Von der vollen Erleuchtung spricht man, wenn man überhaupt nicht mehr in Täuschungen, Anhaftung und Ablehnung und die damit verbundenen Stör-Emotionen wie Wut, Angst, Verlangen … zurückfällt und der Geist dauerhaft, in jeder Situation stabil, frei und offen ist. Keine Sorge, Sie werden nicht zu einem unemotionalen Neutrum, nur das Leid, das Sie immer mehr oder weniger quält, ist verschwunden. Stattdessen wachsen Freude, Liebe, Mitgefühl und Glück.
Eine Bestandaufnahme
Hätten Sie das gern? Dann geht es jetzt erst einmal darum, dass Sie eine Bestandsaufnahme Ihres Leidens und seiner Ursachen machen. Sonst bleibt das Gelesene nur blanke Theorie. Außerdem, wie können Sie etwas ändern, wenn Sie nicht wissen, welches der Grund für Ihr Problem ist?
Übungen für den Alltag
Bei diesen Selbstbeobachtungsübungen geht es darum, dass Sie sich Ihr Leid und den Prozess, der Leid auslöst, in Ihrem Leben bewusst machen. Es geht dabei um eine Bestandsaufnahme, die Ihnen helfen wird, langfristig einen Weg aus Unzufriedenheit und Unglücklichsein zu finden. Lesen Sie sich die Übungen erst einmal alle durch und entscheiden Sie dann spontan, welche Sie heute angehen möchten. Wenn Ihnen eine Übung schwerfällt, wiederholen Sie diese ein paar Tage lang, sodass Sie sich damit vertraut machen. Wie lange Sie insgesamt bei der rechten Erkenntnis verweilen möchten, ob Sie alle vorgeschlagenen Übungen machen und wie viele Sie wiederholen möchten und wie oft, das entscheiden Sie am besten nach Gefühl.
Ablehnung und Zuneigung erkennen
Den wenigsten Menschen ist klar, dass wir permanent alles, was uns begegnet, bewerten. Seien es Menschen (der »blöde« Nachbar) Situationen (ich hab mich so »doof« verhalten) oder Gegenstände (»schickes« Handy!). Reize sind grundsätzlich erst einmal neutral. Erst wenn wir sie durch unseren Wahrnehmungsfilter laufen lassen und sie bewerten, bekommen sie einen subjektiven Stellenwert aufgedrückt und das löst in uns Begehren oder Antipathie aus. Doch damit nicht genug, denn mit diesem Begehren oder der Abneigung entstehen in uns auch Gefühle wie Gier oder Ärger. Diese erzeugen Leid bei uns und potenziell auch bei anderen, wenn wir entsprechende Handlungen folgen lassen. Ob wir uns selbst niedermachen, unserem blöden Nachbarn unsere Gemüseabfälle in den Garten kippen oder schmachtend vor dem schicken Handy stehen – nichts davon erzeugt wirklich dauerhaft gute Stimmung in uns. Die Geisteszustände Anhaftung und Ablehnung sind die Grundlage all unseres Leidens. Sie lassen uns nie mit allen Sinnen zufrieden im Hier und Jetzt verweilen und sorgen dafür, dass wir ständig angespannt und rastlos sind. Aus diesem Grund ist es auf dem buddhistischen Pfad unerlässlich, dass Sie sich dessen bewusst werden. Wie kann das funktionieren? Vorschlag:
- Beobachten Sie sich heute immer mal wieder zwischendurch und achten Sie darauf, ob Sie auf das, was gerade geschieht, mit Ablehnung/Abwehr oder Zuneigung/Anhaftung reagieren.
- Wenn Sie zum Beispiel in der U-Bahn sitzen, sehen Sie sich um: Vielleicht telefoniert ein Mann hinter Ihnen und Sie sagen sich: »Das Gerede ist viel zu laut, das ist schrecklich.« Zwei Mädchen sitzen beisammen und kichern um die Wette. Sie sagen sich: »Wie süß! Die Fröhlichkeit der beiden gefällt mir total gut.« Halten Sie auf diese Weise, wo immer Sie sind, kurz inne. Und werden Sie sich bewusst, dass Sie gerade etwas toll finden oder schrecklich, hübsch oder hässlich, niedlich oder abstoßend, dass Sie also gerade auf etwas in dieser bewertenden Form reagieren.
- Vielleicht können Sie dabei auch beobachten, wie in Ihnen der Impuls auftaucht, das, was Sie erleben, zu bekämpfen, zu ändern. Oder Sie fühlen den Drang, sich das, was Sie gerade erblicken, anzueignen, zum Beispiel etwas Leckeres sofort zu verschlingen oder etwas Reizvolles auf der Stelle zu kaufen.
- Es geht nur darum, es zu bemerken, Sie brauchen noch nichts zu verändern. Experimentieren Sie damit, den Handlungsimpuls lediglich wahrzunehmen und erst einmal abzuwarten. Das befreit Sie aus dem Zwang, automatisch auf etwas zu reagieren. Mit der Zeit können Sie mit Ihren Handlungsimpulsen kontrollierter umgehen.
Vergänglichkeit und Anhaftung
Kaum kreuzt etwas unseren Weg, das wir attraktiv, angenehm, ästhetisch, niedlich oder einfach hinreißend finden, reagieren die meisten von uns wie noch vor Urzeiten: als Jäger und Sammler. Die wenigsten können sich an dem, was sie sehen, nur erfreuen.
Meistens schlägt die Anhaftung zu und wir bleiben an einer Situation, einer Person oder einem Gegenstand regelrecht kleben, mal in Gedanken und mal, indem wir das Objekt der Begierde zu unserem Eigentum machen. So finden sich unzählige T-Shirts, Schuhe, Zeitungen, Bücher, Schrauben, Telefonnummern, CDs und so fort in unserem Besitz. Fotos und Videos werden gemacht, um das eigene Leben oder auch die ersten Schrittchen unseres Nachwuchses zu konservieren. Erleben wir zum Beispiel den perfekten Moment im Urlaub, taucht neben der Freude und dem Genuss, den uns dieser Augenblick beschert, unterschwellig der Gedanke auf, dass die Ferien...