Vorbemerkung
Hinter mir liegt ein Projekt, das mir so einiges abverlangte. Ich war überrascht, auf welche Schwierigkeiten ich beim Schreiben dieses Buches stieß, schließlich hatte ich mich nicht zum ersten Mal auf ein Thema eingelassen, das schmerzhafte Aspekte birgt. Ich schreibe, unterrichte und spreche seit Jahrzehnten über die Shoah, eines der umfassendsten Beispiele für einen staatlich geförderten Genozid. Ich hatte einen Großteil meiner wissenschaftlichen wie privaten Zeit in der Kloake von Antisemitismus und Genozid verbracht, woher kamen denn plötzlich diese Schwierigkeiten? Warum sollte sich ausgerechnet dieses Projekt von den vielen anderen, die ihm vorangingen, unterscheiden? Die Antwort darauf fand ich während des Schreibens. So schrecklich der Holocaust auch war, so ruht er doch fest in der Vergangenheit. Wenn ich über ihn schreibe, schreibe ich über etwas, das vergangen ist. So sehr mich das Geschehene auch erschüttert, es bleibt Geschichte. Der zeitgenössische Antisemitismus dagegen ist nicht Geschichte. Hier geht es um die Gegenwart. Es geht darum, was Leute jetzt tun und sagen, womit sie sich heute auseinandersetzen. Das verleiht dem Thema eine Unmittelbarkeit, die kein historisches Ereignis je haben kann.
Zudem geht es nicht nur um die Gegenwart. Es geht auch um die Zukunft. Doch auf was für eine Zukunft deuten die besorgniserregenden Phänomene, die ich hier untersuche? Diese Frage verweist auf eine weitere Schwierigkeit. Die meisten Historiker vermeiden es, über die Zukunft zu spekulieren. Wir machen um Vorhersagen einen großen Bogen, weil wir wissen, wie schnell sich die Dinge ändern können. Oft haben gerade jene Historiker, die sich bei Zukunftsprognosen auf ihr Wissen über die Vergangenheit verlassen haben, geirrt. Und doch fällt es, wenn man über aktuelle Probleme schreibt, schwer, nicht auch über die Zukunft zu reden. Dessen bin ich mir bewusst, und ich will dies, so gut es geht, vermeiden. Nachdem ich einige Grundlagen der Thematik angesprochen habe – wie lässt sich Antisemitismus definieren, wie lassen sich Antisemiten kategorisieren –, versuche ich aufzudecken, was das von uns Beobachtete eigentlich ausmacht. Ist der heutige Antisemitismus derselbe wie jener, den wir von früher kennen, oder unterscheidet er sich? Wo ist er verwurzelt: bei linken oder rechten Gruppierungen? Geht es, wie nicht wenige behaupten, nur um Israel? Erkennen wir Antisemitismus auch dort, wo gar keiner ist? Weigern sich andere, Antisemitismus dort zu sehen, wo er deutlich zutage tritt? Und was können wir dagegen tun? Können wir überhaupt etwas tun?
Obwohl in den letzten Jahren sowohl physische als auch verbale Akte von Antisemitismus allem Anschein nach entschieden zugenommen haben, sollte unsere Unterhaltung weder auf Zahlen und antisemitischen Taten gründen, noch von ihnen motiviert werden. Denn das würde umgekehrt bedeuten, dass bei einem Rückgang der statistischen Zahlen unsere Besorgnis abklingen sollte. Ich erinnere mich, dass während des US-Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 2000 viele Juden glaubten, Al Gores Nominierung von Joseph Lieberman als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft würde eine Zunahme des Antisemitismus zufolge haben. Das war nicht der Fall. Einige Experten schlossen daraus, dass der Antisemitismus vielleicht tot sei. Sie betrachteten das gesellschaftliche Gefüge in den USA und sahen Juden an der Spitze von Universitäten, die früher sehr strenge Zulassungsregeln hatten. Sie sahen Juden in den Vorstandsetagen der größten Unternehmen und als Wahlsieger in Wahlkreisen ohne nennenswerten jüdischen Bevölkerungsanteil. Selbst der ansteigenden Zahl an Mischehen, innerhalb der jüdischen Gemeinden oft ein Grund zur Sorge, konnte etwas Positives abgewonnen werden. Wenn so viele Nichtjuden gewillt waren, Juden in ihre Familien aufzunehmen, wie verbreitet konnte Antisemitismus dann überhaupt sein? Doch heute ist der Antisemitismus »wieder da«. (Ich bin mir nicht sicher, ob er je wirklich weg war.) Statistiken über den Anstieg antisemitischer Vorfälle sind wichtig, weil sie die notwendige empirische Evidenz liefern. Dennoch sollten uns nicht vorrangig die Zahlen antreiben. Was uns wirklich wachrütteln sollte, ist die Tatsache, dass es immer noch Menschen gibt, die Verschwörungstheorien anhängen, Juden dämonisieren und sie für alles Böse verantwortlich machen. Antisemiten erhalten diese spezielle Variante uralten Hasses am Leben. Sie rechtfertigen ihn ebenso wie die Taten, die in seinem Namen verübt werden. Die historischen Konsequenzen dieser schändlichen Leidenschaft waren so desaströs, dass es unverantwortlich wäre, ihre aktuellen Erscheinungsformen zu ignorieren.
Ein weiterer Grund, warum wir uns nicht von Zahlen leiten lassen sollten, liegt darin, dass Antisemitismus eine Weltanschauung, eine Verschwörungstheorie ist. Deshalb kann er nicht einfach durch die Anzahl an erfassten antisemitischen Straftaten oder die Menge der als antisemitisch einzustufenden Menschen gemessen werden. Eine neuere Studie zu Großbritannien nannte meinen Ansatz den »elastischen« Blick auf Antisemitismus. Wenn Judenhass eine Einstellung ist, so existiert er, wie alle Einstellungen, »innerhalb einer Gesellschaft in unterschiedlicher Intensität, mit unterschiedlichen Schattierungen … Einige Menschen mögen stark antisemitisch sein, andere in geringerer Ausprägung; und auch wenn wieder andere weder in die eine, noch in die andere Kategorie passen, könnten sie dennoch gewisse [antisemitische] Einstellungen in sich tragen – mögen diese auch in geringer Anzahl und schwacher Intensität auftreten.«[1]
Da Antisemitismus sich gegen Juden richtet, könnten einige Leser vielleicht denken, dass nur Juden etwas zu befürchten hätten. Doch das wäre ein Fehler. Juden, als das intendierte Ziel des Antisemiten, sollten vielleicht tatsächlich vorsichtiger darauf reagieren. Ein Gleiches gilt bei jedem Ausdruck eines bestimmten Hasses und Vorurteils. Doch schon die Existenz von Vorurteilen, in welcher Form auch immer, bedroht all jene, die eine inklusive, demokratische und multikulturelle Gesellschaft wertschätzen. Es liegt auf der Hand, dass sich auch andere Minderheiten nicht sicher fühlen sollten, wenn Juden mit hasserfüllten Parolen und Vorurteilen angegriffen werden; dass es bei den Juden bleibt, ist eher unwahrscheinlich. Und umgekehrt sollten sich Juden nicht sicher fühlen, wenn andere Minderheitengruppen mit Hass und Vorurteilen überzogen werden; es ist genauso unwahrscheinlich, dass es bei diesen Gruppen bleibt. Antisemitismus gedeiht in einer Gesellschaft, die sich als intolerant anderen gegenüber erweist, sei es gegenüber Immigranten oder ethnischen und religiösen Minderheiten. Sobald Ausdrücke der Verachtung für eine bestimmte Gruppe zur Norm werden, ist es so gut wie unvermeidlich, dass ähnlicher Hass sich auch gegen andere Gruppen richtet. Wie das Feuer, das ein Brandstifter legt, schießen leidenschaftlicher Hass und verschwörungstheoretische Weltanschauungen weit über ihr ursprüngliches Ziel hinaus. Sie entbehren jeder Rationalität. Keine Vernunft hält sie in Zaum. Selbst wenn Antisemiten ihr Gift ausschließlich gegen Juden einsetzen, deutet die reine Existenz von Judenhass darauf hin, dass mit der gesamten Gesellschaft etwas nicht stimmt. Keine gesunde Gesellschaft gewährt umfassendem Antisemitismus – oder jeder anderen Form von Hass – Unterschlupf.
Ich habe dieses Buch als einen Austausch mit zwei fiktionalen Personen konzipiert, die ich an der Universität, an der ich unterrichte, »kennengelernt« habe. Die erste ist »Abigail«, eine brillante jüdische Studentin, die mehrere meiner Seminare belegt hat und das Phänomen des Antisemitismus zu verstehen versucht. Die andere Person ist »Joe«, ein Kollege, der an der juristischen Fakultät der Universität unterrichtet. Als Nichtjude bekundet er höchste Anerkennung für die Erfolge und Mühen des jüdischen Volks. Er zählt einige seiner jüdischen Kollegen zu seinen wichtigsten Gesprächspartnern an der Uni. Abigail und Joe tragen in sich Anteile von vielen Menschen, die sich in den letzten Jahren an mich gewandt haben, um ihre Verwirrung, Sorgen und Bestürzung sowohl über den Antisemitismus im Allgemeinen als auch über Vorfälle, die sie in ihrem persönlichen Umfeld beobachten konnten, zum Ausdruck zu bringen. Sicher, sie sind fiktionale Charaktere, doch die Fragen, die sie aufwerfen, und die Ängste, denen sie sich stellen, stammen von sehr realen Menschen. Die E-Mails sind so konstruiert, dass sie die Situation im Sommer 2018 widerspiegeln.
Während die Gegenwärtigkeit der diskutierten Ereignisse eine Herausforderung beim Schreiben dieses Buches darstellte, machte es ihre rasche Abfolge zu einem Buch, das eigentlich nicht zu beenden war. Es schien, als würden täglich neue Entwicklungen eine Analyse und Einbeziehung in diese Untersuchung verlangen – der Mord an einer Holocaust-Überlebenden in Paris, Wahlen in Ungarn, bei denen sich die Wahlsieger auf offen antisemitische Tropen verließen, ein Gesetz in Polen, das die Geschichte des Holocaust uminterpretiert, White-Power-Demonstrationen in den Vereinigten Staaten, Kampagnen an Universitäten gegen Israel, die nur allzu leicht in antisemitische Kundgebungen kippten, der Antisemitismus in der britischen Labour Party, die Empfehlung des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, wonach Juden in der Öffentlichkeit keine Kippa tragen sollten, und vieles mehr. So traurig es ist, bin ich mir angesichts der nicht enden wollenden Saga, die der Antisemitismus ist, sicher, dass bis zum Erscheinen dieses Buches neue Beispiele von Antisemitismus auftreten werden, die Teil...