Einführung
Wir schreiben das Jahr 2015. Deutschland ist (endlich) mal wieder Fußballweltmeister und immer noch Export(vize)weltmeister. Es steht – zumindest für den Moment – fest, dass die Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise der deutschen Volkswirtschaft nicht geschadet hat – ganz im Gegenteil. Wir verzeichnen Quartal für Quartal Rekordsteuereinnahmen und leisten uns nach 20 Jahren mal wieder einen sogenannten „ausgeglichenen Bundeshaushalt“. Der Dax knabbert an der 12.000er-Marke, und die Zahl der Insolvenzen ist auf einem Tiefststand. Lohnt es sich da, über das Thema Aufsichtsrat nachzudenken?
Als im Jahr 2011 der erste Band „Der professionelle Aufsichtsrat – Basiswissen für die Praxis. Ein 360°-Überblick“ erschien, befand sich die deutsche Corporate Governance Community im Aufbruch. Die sogenannte Regierungskommission machte sich Gedanken darüber, was noch alles im sogenannten Deutschen Corporate Governance Kodex stehen sollte. Die Seminarbetreiber und ihnen gleich die Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte, Personalberater und Unternehmensberater wurden nicht müde, auf Risiken und Gefahren der Aufsichtsratstätigkeit und deren (vermeintliche) Absicherung durch D&O-Versicherungen hinzuweisen. Es verwundert nicht, dass mit der Zeit die Dynamik der Corporate Governance in Deutschland erlahmte. Denn welcher Aufsichtsrat – und davon haben wir Tausende in Deutschland – will sich das Jahr für Jahr anhören?
Eine Wende zeichnete sich ab, als die Diskussion um die Frauenquote sowohl in Brüssel als auch in Berlin die Gemüter erhitzte. Betrachtet man Corporate Governance aus einer globalen Perspektive, so gibt es bei dem Thema eigentlich nicht viel zu diskutieren – man könnte sich höchstens wünschen, dass die Argumente unter dem Stichwort „Diversity“ breiter und differenzierter ausgetauscht würden.
Die Sache der Politik – Chancengleichheit versus Gleichberechtigung – ist die eine Seite. Die andere – zunächst unbeachtete – Seite des Themas ist jedoch, dass es bei Corporate Governance im Kern um die Frage geht, welche Kompetenz eine Person besitzen muss (und wie sie diese erlangen kann), um das Amt eines Aufsichtsrates auszuüben.
Die Beantwortung dieser Frage wird die Zukunft und den Erfolg deutscher Aufsichtsgremien bestimmen. Die Aktionäre – oder besser: die internationalen institutionellen Anleger und deren Proxy Agents – haben dies schon längst erkannt und hinterfragen immer häufiger: „Kann der zur Wahl gestellte Kandidat auch ,Aufsichtsrat‘?“ An einem deutlichen Ja kommen Aufsichtsratsvorsitzende und Nominierungsausschüsse nicht mehr vorbei, wenn sie sich nicht selbst der Kritik aussetzen wollen. Dies ist also ohne Zweifel eine Entwicklung, die auch deutsche Aufsichtsräte nachhaltig verändern wird.
Es gibt in Deutschland ein Hindernis, das einer nachhaltigen Veränderung im Weg steht. Professionelle Aufsichtsräte wachsen nicht auf den Bäumen. Und Radfahren lernt man nur durch Radfahren und nicht durch das Bücherlesen über Radfahren. Was nutzen Managementerfahrung und die beste theoretische Ausbildung als Aufsichtsrat, wenn Unternehmen ihre (neuen) Aufsichtsräte nicht konsequent einarbeiten. Ein „Lesen Sie das mal und setzen Sie sich mal dorthin, dann bekommen Sie schon schnell mit, wo es hier langgeht“ ersetzt nicht die systematische Einarbeitung in die unternehmensspezifischen und strategie- und überwachungsrelevanten Themenbereiche. Ein Aufsichtsrat braucht „unternehmerische Erfahrung“, aber nicht um zu managen, sondern um ein Gespür dafür zu bekommen, wo in dem von ihm zu überwachenden (komplexen) Unternehmen die überwachungsrelevanten Informationen zu finden sind. Ein solches „Onboarding“ für Aufsichtsräte ist international schon lange üblich und hat auch bei fortschrittlichen deutschen Unternehmen längst einen festen Platz auf der Agenda.
Auch wenn man es „draußen“ nicht immer sieht, „drinnen“ tut sich eine Menge im Bereich Corporate Governance in Deutschland. Es lohnt sich also im Jahr 2015 mehr denn je, über das Thema Aufsichtsrat nachzudenken.
Der Aufsichtsrat ist ein nur in Ansätzen durch das Aktiengesetz staatlich regulierter Beruf, der – gleich dem freiberuflich tätigen Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Rechtsanwalt, Ingenieur oder Architekt – in unternehmerischer Eigenverantwortung ausgeübt wird. Die Zulassung zum Beruf erfolgt nicht durch staatliche Zulassungsbehörden, sondern durch die Eigentümer eines Unternehmens. Das bedeutet, jedes Unternehmen bekommt den Aufsichtsrat, den es verdient, weil seine Aktionäre sich diesen gewählt haben.
Eine Berufsgruppe zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich bei ihrer Arbeit an bestimmten Grundsätzen und Selbstverständlichkeiten ausrichtet. Diese Grundsätze zu diskutieren und aufzuschreiben, hat sich der im Frühjahr 2012 gegründete deutsche Berufsverband der Aufsichtsräte, die Vereinigung der Aufsichtsräte in Deutschland e. V. (VARD), zur Aufgabe gemacht. Die VARD-Berufsgrundsätze sind ein in Europa viel beachtetes und bislang einmaliges Projekt, dem Profil des Aufsichtsrates und dessen Arbeit einen Rahmen in Form von Leitlinien zu geben – von Aufsichtsräten für Aufsichtsräte.
„Wo Aufsichtsrat drauf steht, muss Aufsichtsrat drin sein.“ Dieser Satz gilt für alle Unternehmen mit einem Aufsichtsgremium – große, kleine, private, staatliche und kommunale; denn das Aktiengesetz kennt nur einen Typus Aufsichtsrat. Nur wann ist man Aufsichtsrat, wenn es kein entsprechendes Examen gibt? Als Antwort hört man – insbesondere in Deutschland – immer noch den Satz: „Ich bin als Aufsichtsrat gewählt, also werde ich das auch können; denn sonst hätte man mich sicher nicht gewählt. Warum soll ich mich also in Frage stellen? Aufgrund meiner Erfahrung weiß ich, worauf es ankommt.“ Wen wundert es da, dass deutsche Aufsichtsräte so gut wie ohne Fort- und Weiterbildung auskommen?
Hand aufs Herz: „Können Sie Aufsichtsrat?“ Verfügen Sie über das theoretische Wissen und das praktische Können, um die Geschäftsleitung eines (komplexen) Unternehmens systematisch und mit Methode zu überwachen? Diese Fragen kann nur beantworten, wer seinem Ist-Profil ein abstraktes Soll-Profil gegenüberstellt. Um dieses Soll-Profil soll es nachstehend gehen.
Corporate Governance – als die Summe der geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, die die Führung und Überwachung eines Unternehmens bestimmen – ist kein deutsches, sondern ein internationales Thema. In der Theorie eine immer wieder Fragen aufwerfende Schnittmenge von Recht und Betriebswirtschaft. In der Praxis die stete Suche nach der Antwort auf die Frage, ob und wie diejenigen, die ein Unternehmen führen, effizient und effektiv überwacht werden können.
Das durch das deutsche Aktiengesetz vorgegebene zweigliedrige („duale“ oder „two tier“) System setzt Geschäftsleitung und Aufsichtsrat in – bildlich gesprochen – unterschiedliche Räume und lässt sie hin und wieder zusammenkommen. Dem steht das eingliedrige („monistische“ oder „one tier“) System gegenüber, bei dem in einem Gremium beide Seiten – mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen – stetig zusammensitzen und -wirken; ein intensives – bisweilen sehr unternehmerisches – Zusammenwirken.
Dass der Aufsichtsrat nicht dem Manager gleichzusetzen ist, ist in beiden Systemen unbestritten. Doch ist in Bezug auf den Aufsichtsrat in zweierlei Hinsicht eine Konkretisierung nötig.
- In § 111 AktG steht der Kern dessen, was einen Aufsichtsrat ausmacht. Der Aufsichtsrat muss „überwachen“ können. Was bedeutet „überwachen“, und wie funktioniert es? Die Gesetze und der Kodex schweigen sich hier aus – und lassen Recht und Betriebswirtschaft im Wettstreit aufeinander treffen.
- „Überwachen“ ist das Gegenstück zu „die Geschäfte führen“ und richtet sich an der Strategie sowie den Zielen und Werten des Unternehmens aus. Dabei beschreibt Überwachen nicht einen Punkt, sondern einen Prozess, der immer in einem Zusammenhang mit einer Unternehmensentscheidung (oder deren Unterlassung) steht. Stehen am Ende eines Überwachungsprozesses eine oder mehrere Überwachungsentscheidungen, so steht am Anfang eines jeden (Teil-)Überwachungsprozesses das Sammeln, Sortieren und Analysieren von (relevanten) Informationen, die sodann in eine gemeinsame Analyse und Diskussion im Rahmen des Aufsichtsgremiums einfließen. Wer überwachen will, muss also über relevante Informationen verfügen, sich eine eigene Meinung bilden und diese im Gremium vertreten können.
Bisweilen wird – insbesondere von denen, die dem monistischen System nahestehen –behauptet, dass der deutsche Aufsichtsrat auch eine Beratungsfunktion gegenüber der Geschäftsführung habe. Vorsicht! Hier ist das Aktiengesetz eindeutig: Es gibt eine „rote Linie“, die der Aufsichtsrat nicht überschreiten sollte, wenn er nicht in (Haftungs-) Gefahr geraten will. Wenn die Beratung im Sinne einer (gesprächsweisen) Abstimmung in Fragen der Unternehmensstrategie Ausfluss der Überwachungstätigkeit ist, wird der Aufsichtsrat im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens tätig. Gewährt er – gebeten oder ungebeten – Rat oder Beratung in operativen Angelegenheiten, dann überschreitet er die rote Linie. Schließlich kann ein Aufsichtsrat nicht heute in einer Angelegenheit beraten, die er morgen überwachen muss.
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