Persona und Schatten
Die Metapher von Licht und Schatten weist, wie oben erwähnt, auf zwei Konzepte von C. G. Jung hin: den Schatten und die Persona. Der Ausdruck Persona geht zurück auf das Schauspiel im alten Griechenland. Da stülpte sich der Schauspieler eine Maske – eine Persona – der mythischen Gestalt über, die er spielte, und damit war er identifiziert mit dieser Gestalt. Nun sind wir, wenn wir uns unsere »Seelenmasken«4 überstülpen, meist nicht identifiziert mit einer mythischen Gestalt, sondern mit einer Vorstellung von uns selbst, wie wir uns in einer Situation am besten präsentieren. Dieses Bild von uns, das wir der Welt zeigen, kann gut mit unserer Identität übereinstimmen, wir können aber auch das Gefühl haben, unecht zu sein, eine Rolle zu spielen, die uns wenig liegt, uns verkleidet zu haben.
Die Persona entspricht zum einen unserem Ichideal, zum anderen unserer Vorstellung davon, wie die Menschen uns sehen wollen. Damit wir möglichst ansehnlich sind, verdrängen wir die Seiten, die nicht zu unserem »schönen« Bild von uns gehören, und daraus wird dann der Schatten, verstanden als die Seiten, die wir an uns nicht akzeptieren können, zu denen wir nicht stehen können. Sie gehören aber dennoch zu unserer Persönlichkeit und zeigen sich, wie alles Verdrängte, auch immer wieder gegen unseren Willen.
Im Zusammenhang mit der jeweiligen Personahaltung oder dem Personaausdruck steht zum Beispiel die Frage, was »man« denn zu einem bestimmen Anlass anzieht, wie »man« sich herrichtet. Eine weitere Frage ist die nach der Kontrolle: Wie sehr kontrolliert »man« in einer bestimmten Umgebung zum Beispiel die Emotionen, wie viel gibt »man« preis von seinen Gefühlen? Welche Seiten von sich selbst zeigt »man«?
Kleider, die Frisur, das Make-up, Hüllen, Fassaden, Masken, aber auch Autos usw. sind symbolische Darstellungen der Persona. Wie wir uns verhüllen, enthüllt auch etwas von uns, präsentiert etwas von uns. Und sehr oft zeigen wir nicht nur das, was wir zu zeigen beabsichtigen, sondern durchaus auch das, was wir eigentlich verhüllen wollen, nämlich den Schatten.
Die Persona ist also das, was wir der Welt in den jeweiligen Beziehungssituationen von uns zeigen, was wir darstellen, wie wir unsere Persönlichkeit in den jeweiligen sozialen Situationen zum Ausdruck bringen. Wir können den Begriff »Persona« eher statisch betrachten, wie man das früher getan hat, und ihn als Identifikation mit einer sozialen Rolle verstehen, wir können ihn aber auch, wie das heute der Fall ist, sehr viel dynamischer bestimmen.
Jung spricht auch gelegentlich dann von der Persona, wenn ein Mensch so ganz und gar identifiziert ist mit der Rolle, die er in der Welt spielt: »Ein häufiger Fall ist die Identität mit der Persona, jenem Anpassungssystem oder jener Manier, in der wir mit der Welt verkehren. So hat fast jeder Beruf die für ihn charakteristische Persona. […] Die Welt erzwingt ein gewisses Benehmen, und die professionellen Leute strengen sich an, diesen Erwartungen zu entsprechen. Die Gefahr ist nur, daß man mit der Persona identisch wird, wie etwa der Professor mit seinem Lehrbuch […].«5 Hier beschreibt Jung eine »erstarrte« Persona: Ein Mensch spielt eine Rolle, kann auch nichts anderes mehr spielen als diese Rolle, ist darin erstarrt, und die lebendige Persönlichkeit ist nicht mehr spürbar.
Heute sind sowohl die Persona an sich als auch das Konzept der Persona viel flexibler geworden. So sind auch Lebensübergänge nicht mehr mit Forderungen nach einer bestimmten Persona verbunden: Unsere Großmütter kleideten sich nach der Menopause in Schwarz, heutzutage kennt die Mode keine Altersgrenze mehr. Es ist immer mehr auch ein spielerischer Umgang mit der Persona auszumachen, bis hin zur Frage: Wie inszeniere ich mich in einem bestimmten sozialen Zusammenhang? Möglicherweise ist das eine Folge der Mediengesellschaft: Zum einen bieten uns die Medien sehr viele Modelle, wie wir uns darstellen können, zum anderen nötigen sie uns auch, uns zu inszenieren.
Solche Inszenierungen werden auch von Künstlerinnen und Künstlern gemacht, etwa von Cindy Sherman, die damit die Absicht der künstlerischen »Demaskierung der gesellschaftlichen Maskenbildnerei von Identitätszwangsjacken für die sogenannte ›Frau‹«6 verbindet. Gesellschaftliche Maskenbildnerei als Rollenzwang und damit auch Personazwang wird durch diese Künstlerinnen in Frage gestellt, und gleichzeitig wird demonstriert, dass man sich diesem Zwang nicht unterwerfen muss.
Wenn der Rollenzwang sich lockert, die Personahaltungen flexibler und auch spielerischer gehandhabt werden, dann ist damit zu rechnen, dass Menschen eher zu gewissen Schattenseiten stehen können, sich nicht mehr »nur schön« sehen müssen. Es ist aber auch damit zu rechnen, dass die fixierten Rollenvorstellungen zu Schatten werden, zu etwas, das wir ablehnen und dann bei anderen Menschen als unemanzipiert geißeln. Ins Bewusstsein kommen müsste eigentlich die Differenz zwischen diesem Spiel mit der Persona – und damit auch der Frage, wie wir unsere Persönlichkeit ausdrücken können – und dem alten, starren Rollenverhalten. Mit der Flexibilisierung der Persona, und das ist bestimmt die Wirkung von einem Jahrhundert tiefenpsychologischen Denkens, setzt unabweisbar die Frage nach der eigenen Identität ein.
Der Funktion der Persona
Die Persona regelt unsere Beziehung zur Außenwelt, zeigt, was wir zeigen möchten, und bestimmt, welche Aspekte unserer Persönlichkeit von den Mitmenschen gesehen und auch anerkannt werden sollen. Ob ich mich darstelle als ein Mensch mit »vielen Gesichtern« oder als jemand, der sich eigentlich immer gleicht – in genau diesen Aussagen über mich selbst will ich bestätigt werden. Insofern zeigen wir mit unserer Persona durchaus einen Aspekt unserer Identität. Identität ist ja nie allein etwas Inneres, sondern sie muss von der Umwelt immer auch bestätigt werden. Wenn nur ich selbst mich für eine Künstlerin halte und niemand in der Umwelt mir das bestätigt, dann bin ich eben doch keine Künstlerin.
Diese Bestätigung von außen reguliert auch unser Selbstwertgefühl. Wir werden in der Regel versuchen, jeweils die Personahaltung einzunehmen, die uns am meisten Akzeptanz garantiert. Möglicherweise wird uns aber bewusst, dass wir eine solche Haltung nicht einnehmen können, weil wir damit unsere wahre Persönlichkeit verraten. Wir wüssten jeweils schon, wie wir uns zeigen und verhalten müssten, aber wir können das nicht, weil wir authentisch sein wollen. Das Bedürfnis, echt zu sein, und die gesellschaftliche Notwendigkeit, eine bestimmte Rolle zu spielen, können zu einem Konflikt führen.
Andere wiederum haben es längst aufgegeben, Akzeptanz zu erstreben, sie kultivieren eine Persona, die erschrecken soll, die andere Menschen aufschrecken soll und die zumindest Beachtung verschafft. Und Menschen, die sich immer wieder in anderer Aufmachung und auch in einem anderen Stil zeigen, stellen mit ihren Inszenierungen die Frage, wer sie eigentlich sind. Personadarstellungen und Personahaltungen sind also nicht nur die Kehrseite des Schattens, sie verweisen auch auf den Kern der Persönlichkeit.
Die Persona regelt, wie oben erwähnt, die Beziehung zur Außenwelt auch in dem Sinne, dass wir uns entsprechend der Vorstellung geben, wie wir unsere Gefühle in bestimmten Situationen einbringen wollen, in welchem Maße wir unsere Emotionen kontrollieren, in welcher Art wir sie auch kommunizieren wollen. Zur Personahaltung gehören zudem die Konventionen des alltäglichen Miteinanders wie etwa Regeln der Höflichkeit. Mario Jacoby7 betont, wie sehr die Persona die Intimität des einzelnen Menschen schützt, und malt aus, wie es wäre, wenn wir einfach jedes Gefühl ausagieren würden, wenn wir uns an keine Konventionen halten würden.
Jeder Schutz kann indessen auch zu einer Einengung werden. Im Bereich der Emotionen ist das besonders deutlich: Kontrollieren wir unsere Emotionen zu sehr, dann werden die menschlichen Beziehungen kalt, distanziert. Wer die Emotionen zu sehr kontrolliert, empfindet sich bald als unlebendig, verliert den Kontakt zu sich selbst.8 Wer die Emotionen allerdings zu wenig kontrolliert, wird distanzlos, überfällt Menschen ständig mit der eigenen Befindlichkeit. Die Persona schützt also nicht nur die eigene Intimität, sie schützt auch die anderen Menschen vor zu viel Intimität. Die Gefahr besteht darin, dass die Kontrolle übermäßig wird, dass Konventionen – im Dienste der Angepasstheit – übertrieben werden und die Echtheit unserer Gefühle, die ja immer auch zu unkonventionellem Verhalten führt und daher mit gewissen Komplikationen verbunden ist, im zwischenmenschlichen Bereich darunter leidet. Wir spüren dann den anderen Menschen nicht mehr wirklich, fühlen uns nicht mehr auf ihn bezogen.
Die Sozialisation der Persona
In der Familie werden wir auf eine bestimmte Personahaltung und Personadarstellung hin sozialisiert. Kleine Kinder zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie kaum Persona zeigen. Erst mit der Entwicklung des Schamgefühls zwischen drei und sechs Jahren9 entwickelt sich auch die Personahaltung, die weitgehend Frucht der Erziehung ist. Kontinuierlich spürt dann das Kind, dass man sich nicht in allen Umgebungen gleich gibt, dass man sich je nachdem unterschiedlich benimmt, um gut anzukommen und nicht anzuecken. In der Adoleszenz werden dann verschiedene Personahaltungen und Personadarstellungen ausprobiert, meist in großer Übereinstimmung mit...