Der Lotse
Leider ist es in der heutigen Zeit etwas aus der Mode gekommen, sonntags in die Kirche zu gehen, um gemeinsam mit anderen Menschen Gott die Ehre zu erweisen. Abgesehen davon, dass für die meisten Menschen Gott überhaupt nicht existiert, ist der Kirchenbesuch selbst für die Menschen, die an Gott glauben, oftmals mit so vielen Hindernissen verbunden, dass sie es vorziehen, die für den Kirchgang notwendige Zeit anderwärtig zu verwenden. Die meist mehr oder weniger gut nachvollziehbaren Gründe für das Fernbleiben von den Feierstunden sind so vielgestaltig, dass man darüber wahrscheinlich ein Buch schreiben könnte.
Ich denke, dass die Prediger in den verschiedenen Kirchengemeinden meist vor leeren Bänken stehen, liegt nicht unbedingt daran, dass die Prediger so schlecht sind, oder dass das, was sie zu sagen haben, alles verstaubter Schnee von gestern ist. Ich glaube, der hauptsächliche Grund für das Fernbleiben der Menschen liegt darin, dass Gott in unserer Gesellschaft so gut wie gar keine Rolle mehr spielt. Egal in welchem meinungsbildenden Medium man schaut, Gott spielt in den Meldungen, wenn Er überhaupt erwähnt wird, nur eine völlig unbedeutende Statistenrolle. Die wirklichen Helden unserer Zeit sind Tennisspieler, junge, gut aussehende Schauspieler und Torwarte. In der Regel spielt Gott im Leben dieser Personen, wenn überhaupt, keine besonders wichtige Rolle. Zumindest aber erwecken sie bei ihren großen Fangemeinden nicht unbedingt den Eindruck, dass man den ungezügelten Spaß und die Freude an weltlichen Vergnügungen zugunsten eines nebulösen Gottes infrage stellen sollte.
Es ist daher nicht weiter verwunderlich, wenn dank der Medien die Menschen der heutigen Zeit auf alles Mögliche Lust haben, nur auf den ihnen unbekannten Gott haben sie keine Lust. Sie sind bereit für die Dinge, die ihnen Spaß und Ablenkung vom trüben Alltag bringen, viel Geld, Zeit und Energie aufzubringen, aber die Zeit, darüber nachzudenken, welchen Stellenwert Gott im Leben des Menschen haben sollte, haben sie nicht.
Eine, so finde ich, sehr bedauerliche Entwicklung in unserer Gesellschaft, denn auf diese Art und Weise werden in unserer mediengesteuerten Welt Menschen erzogen, die von der wirklichen Freude und der wahren Glückseligkeit keinerlei Vorstellungen haben. Einer Freude, die völlig unabhängig von dem Besitz materieller Güter ist, einer Freude, die nicht davon abhängt, ob der Mensch von anderen Menschen um seiner selbst willen geliebt wird, einer Freude, die nicht von außen in den Menschen hinein getragen wird, sondern die aus dem tiefsten Innern des Menschen emporwallt. Mit dieser Art von Freude kann die umsatzorientierte Mediengesellschaft natürlich nicht allzu viel anfangen, denn eine Freude, die von innen heraus kommt, die nicht teuer erkauft werden muss, bringt keine Werbeeinnahmen und somit keinen materiellen Gewinn. Und überhaupt, was nichts kostet, hat bekanntlich keinen Wert.
Ich denke, die medienorientierten Menschen der heutigen Zeit wissen meist gar nicht, mit wie viel Kraft und Energie es verbunden ist, von einer auf äußere Anreize angewiesenen Lebensliebe zu einer aus dem Inneren entspringenden Gottesliebe zu gelangen. Damit der Mensch einen Seelenzustand erreicht, der in ihm wahre Freude aufkommen lässt, sind oftmals schwerste innere Kämpfe notwendig. Es ist einer der schwierigsten Kämpfe im Leben des Menschen, wenn er seinen weltzugewandten Willen soweit umbilden will, dass durch das urwaldähnliche Dickicht der Begierden und weltlichen Neigungen der eine oder andere Strahl der göttlichen Liebe durchdringen kann.
Doch bevor dies geschehen kann, muss der Verstand des Menschen erkennen, dass die durch äußere Reize entstehende Befriedigung des weltzugewandten Willens ein ausgesprochen unökonomisches Unterfangen ist. Denn der aus der Lebensliebe gespeiste Wille des Menschen braucht immer wieder neue und bessere Außenimpulse, um meist nur für kurze Zeit zufrieden zu sein. Der Verstand ist normalerweise in der Lage zu erkennen, dass die ungezügelte Befriedigung des Willens mit weltlichen Lustbarkeiten langfristig zu einem Desaster führt. Zumal die göttliche Vorsehung dafür sorgt, dass es im Leben des Menschen immer wieder Situationen gibt, die dem Verstand die Begrenztheit und die Endlichkeit des irdischen Lebens vorführen. Die Folge dieses Erkennens ist die, dass der Verstand nach Auswegen sucht, die dem Willen, unabhängig von äußeren Reizen, Zufriedenheit schenken. Wenn er nun wahrhaftig sucht, dann wird er nicht umhin kommen, sich mit der Religion auseinander zu setzen. Die Auseinandersetzung mit Gott kann, wenn der Verstand des Menschen offen genug ist, dazu führen, dass es zu einer Verbindung der göttlichen Liebe mit dem Verstand kommt. Die daraus entspringende Weisheit ist die Kraft, die es dem Verstand ermöglicht, den nach weltlicher Befriedigung schielenden Willen umzubilden.
Jetzt geht der innere Kampf erst richtig los. Denn der weltzugewandte Wille ist nicht so ohne Weiteres bereit, von den vielen lieb gewonnenen im Falschen begründeten Wahrheiten loszulassen. Er wird immer wieder Begründungen finden, warum der Mensch unbedingt die eine oder andere weltliche Befriedigung benötigt. Er wird versuchen, den für die Befriedigung seiner weltlichen Gelüste schädlichen Einfluss der göttlichen Liebe zu unterbinden.
Spätestens an dieser Stelle der Weisheitsentwicklung wird der Verstand erkennen, dass er den Kampf gegen die Weltliebe in seiner Seele nicht allein gewinnen kann. Die aus der Erziehung stammenden Bedürfnisse nach weltlichen Glücksimpulsen sind im Willen des Menschen so stark verankert, dass es die von der göttlichen Liebe inspirierte Weisheit des Verstandes nicht ohne Hilfe schafft, den Willen umzubilden.
Was kann der Verstand in dieser Situation tun? Wie soll er als Steuermann das kleine Boot seiner Seele durch die gierigen Wogen der Welt führen, die alles daransetzen seine Lebensliebe zu verschlingen? Die Welt mit ihrer breiten Palette an materiellen Ablenkungen und Vergnügungen ist doch inzwischen so perfekt organisiert, dass es für den einzelnen Menschen einer kaum zu schaffenden Anstrengung bedarf, um diesen Verlockungen nicht zu erliegen. Um überhaupt eine Chance zu haben, durch das tobende Meer der weltlichen Verführungen einen sicheren Hafen zu erreichen, ist es unumgänglich, einen Lotsen an Bord zu nehmen.
Nun gibt es natürlich eine Menge Lotsen auf dieser Welt, die von sich sagen, dass sie die optimalen Voraussetzungen mitbringen, um unser kleines Seelenboot durch das tosende Meer der Welt mit ihren vielen Untiefen und Sandbänken zu führen. Das Erste, was diese Lotsen machen, besteht darin, dass sie uns ihre meist aus esoterischen Büchern bestehenden Seekarten verkaufen. Damit verknüpfen sie die Zusage, dass wir uns nur genau an ihre in den Seekarten angegebenen Routen halten müssen, um in den von ihnen als sicher propagierten Hafen zu gelangen. Ein kleines Detailproblem bei diesen Lotsen besteht darin, dass sie uns für gutes Geld lediglich die Karten mit einer mehr oder weniger guten Wegbeschreibung verkaufen, uns aber ansonsten ganz allein das Boot steuern lassen.
Leider sind viel zu viele Menschen, als sie allein gelassen nur mit einer auf Weltlotsen basierenden Seekarte durch das von Ungewittern hochgepeitschte Weltenmeer fuhren, in den Untiefen der falschen Begründungen versunken. Andere wiederum sind auf den Sandbänken ihrer neuen Philosophien aufgelaufen, ohne zu merken, dass sie bei der Umbildung ihres Willens feststecken. Aber dennoch gibt es Menschen, die den von diesen Lotsen versprochenen Hafen erreicht haben. Dort angekommen zurren sie an der Hafenmauer das Boot ihrer Seele fest, begeben sich in die nächste Herberge und wiegen sich in Sicherheit.
Doch diese Sicherheit, die sich meist auf die Philosophien von Menschen stützt, ist trügerisch. Denn der Sturm weltlicher Begründungen kennt keinen Halt vor weltlichen Glaubensgebäuden. Kaum glaubt sich die Seele sicher vor den Anfechtungen der Welt, schon stürmen neue und natürlich noch bessere Weltlotsen in die Herberge und wollen uns ihre wesentlich besseren Seekarten verkaufen. Sie beeilen sich, uns zu versichern, dass ihre Karten wesentlich genauer und detailreicher sind und dass das von ihnen angepriesene Ziel viel besser als diese dunkle Kaschemme ist. Und so wandern die suchenden Menschen von einem esoterischphilosophischen Hafen zum anderen, ohne dem Ziel einer wahrhaftigen Umwandlung ihrer Seele näher zu kommen.
Irgendwann, meist nach vielen Umwegen, wendet sich der Verstand an einen Lotsen, der ihm bisher nicht in den Sinn gekommen ist, weil er einerseits in der Welt nicht so besonders angepriesen wird und weil er andererseits seine Dienste umsonst anbietet, was ja doch recht verdächtig ist. Denn was nichts kostet, kann ja wohl auch nicht viel wert sein. Aber dennoch, nach den vielen angefahrenen Häfen, die sich alle als ziemlich dunkle Orte herausgestellt haben, in denen die Seele keinen Frieden gefunden hat, kann es ja nichts schaden, diesem von der Welt verschrienen Lotsen einen Besuch abzustatten.
An der Haustür des kleinen freundlich aussehenden Hauses am Rande der Stadt steht der wohlklingende Name Jesus Christus. Kaum haben wir den Klingelknopf berührt, öffnet sich schon die Haustür, und ein...