Money-Truffle
Zutaten: Roulette, 20 Mark, Lottofee, Superzahl
Die Verkaufstheke hatten sie selbst gebaut, ebenso das Brotregal und alle anderen Regale, den alten Kolonialwarenladen komplett neu renoviert. Der Name Booja-Booja war zur damaligen Zeit im Jahr 1988 nicht einmal 10 Jahre alt und wartet immer noch geduldig auf seine endgültige Erweckung, die aber erst 10 Jahre später erfolgen sollte. Wir hatten also noch Zeit.
Es war ein sehr warmer Sommer. Der Schokoladenverkäufer stand zum ersten Mal hinter seiner neuen Registrierkasse. Barfuß, ein langes Leinenkleid tragend, das in der Mitte von einen roten, pflanzen-gefärbten Seidenband zusammengehalten wurde. Die langen Haare, hennarot gefärbt, ebenfalls zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, die Haut von der Sonne braungebrannt. Er strahlte.
Nach dem Umbau wurde der verschönerte und vergrößerte Bioladen wieder eröffnet. Er war wie durch einen Zufall in diese Baustelle, in diesen Laden hineingeraten, nachdem er noch Monate zuvor sein Leben fernab aller westlichen Lebens- und Liebesweisheiten in Meditation zugebracht hatte.
Da stand sie vor ihm, seine erste Kundin. 20 Mark. Die „Grüne Dame“. Er nahm den Schein. Papier. Er schaute die Kundin lustig an. Er schaute den Schein belustigt an. Er fühlte sich wie als junger Ministrant beim katholischen Glaubensbekenntnis in seiner Dorfkirche: „Geboren aus der Jungfrau Maria... aufgefahren in den Himmel...“. Er hatte schon als Kind bei diesen Sätzen immer geschwiegen. Mann sollte ja keine Lügen verbreiten, so was war ganz schlecht für das Karma. Papier.
Das gleiche absurde Gefühl wie damals neben dem Altar stellte sich wieder ein, als er den Schein in seine Hände nahm und in die sich automatisch öffnende Kasse legte. Das ganze war reiner Glaube und funktionierte nur, wenn alle dieser Illusion zustimmten. Sie machte das Miteinander und den Austausch einfacher. Eine reine oder schmutzige Glaubenssache blieb es trotzdem, immer wieder menschlichen Verführungen unterworfen, da Kasse und Altar sich doch sehr ähnlich waren und beide stets abgeschlossen werden mussten. So eine Glaube konnte ja schnell verloren gehen oder einem gestohlen bleiben.
Ab diesem Moment war die Sache mit dem Geld für ihn wieder einmal erledigt. Es war ein Gebrauchsgegenstand, mehr nicht. Wenn der Schokoladenverkäufer es brauchte, besorgte er es sich. So begann in der Müsli-Bewegung der 1980er Jahre die Karriere des Schokoladenverkäufers. Er verkaufte alles mögliche. Selbstgemachte Massageöle und Teemischungen, Kräuter, selbst genähte Klamotten und alles, was es sonst so in einem Bioladen gab. „Killed Food“ und Zucker waren im Laden tabu. Das Gemüse für den Laden musste des Öfteren auf dem Acker des Demeter-Bauern selbst geerntet und abgewogen werden, da diesem die Arbeit über den Kopf wuchs. Was ihn allerdings nicht davon abhielt, Gedichte-Abende in seinem riesigen, beleuchteten Gewächshaus abzuhalten, wo Goethe, Rilke und Morgenstern samt eigenen Kreationen dem jungen Gemüse und den Besuchern vorgetragen wurden.
Sämtliche Ernährungsrichtungen und aphrodisierende Kräutermischungen der damaligen Zeit wurden intensiv zusammen mit den Kundinnen ausprobiert: 5 Elemente-Ernährung, Vegan, Sonnenkost, Makrobiotik, Instincto, Rohkost, Brucker, Bircher, Mayer... Ingrid, Nicola, Helga...
Verliebtheiten wurden gefeiert und Trennungen gemeinsam beweint oder kundenfreundlich getröstet. Am liebsten bediente der Schokoladenverkäufer schwangere Frauen. Sie waren großartig! Sie waren so schön, ätherisch, anmutig, rund und launisch. Keine Empfehlung passte und jeden Tag stand was anders auf dem Einkaufszettel. An solchen Kundinnen konnte ein Verkäufer nur wachsen.
Es gab die allererste Bio-Schokolade überhaupt: Nirwana! Als hätte sie jemand extra für unseren Schokoladenverkäufer kreiert. Gefühlt kostete sie damals 6 Mark. Das „Nirwana“ gab es nur bei Liebesdramen, beziehungsweise wenn Weihnachten und Ostern zusammenfielen.
Es blieb nicht die letzte Theke, hinter und vor und auf der sich der Schokoladenverkäufer in den nächsten Jahren vergnügte und voller Elan seiner Arbeit widmete. Gemüse- und Marktstände folgten, genau wie Vollkornbäckereinen, andere Bioläden und andere Städte bis zum Tage des sagenhaften Lottogewinns samt Superzahl mit randvollem Jackpot.
Wenige Tage nach diesem alles verändernden Ereignis saß der Schokoladenverkäufer wieder in seinem Bioladen, keiner da. Schaute immer noch benommen vor Glück in die prall gefüllten Regale, die sich beim längeren Anblick mehr und mehr zu leeren begannen, wie er es schon seit seiner Kindheit kannte, bis sie nur noch aus weißem Licht bestanden und die Stimme der freundlichen Lottofee plötzlich aus den entleerten Regalen sprach: „Wie lange willst du eigentlich noch so weitermachen?“
So ein Lottogewinn hatte seine eigene Dynamik, ein nicht vorhersehbares Eigenleben. Die Gnade des Gewinns wollte offensichtlich irgendwo hin, ausgegeben werden, sich verschenken, und sie beglückte den Schokoladenverkäufer mit dem Un-Zu-Erwartetsten auf der Welt – einem Kind.
Hier muss nun zum tieferen Verständnis des immer schon shakespeareschen Seelenlebens des Schokoladenverkäufers und der bereits erwähnten nackten Füße und Leinengewänder festgehalten werden, dass tief in seiner Schoko-Seele, zumindest fifty-fifty, wenn nicht sogar anteilig mehr, auch ein Wandermönch, wenn nicht sogar Bettelmönch wohnte. Auch im persönlichen Horoskop des zukünftigen Schokoladenverkäufers war nichts von Kindern, Familie oder Beziehungen zu lesen. Weder Lottogewinn, noch Superzahl oder Jackpot wurden auch nur am Rande in irgendeinem der Häuser erwähnt. Es wimmelte aber nur so von Mönchen, Wanderschaft und leeren Regalen.
Wander- und Bettelmönch hängten also von der Liebe und der Fee erschüttert sowie geläutert ihre Leinengewänder an den Nagel, beziehungsweise verbrannten sie endgültig, während etwas zur gleichen Zeit, noch unbemerkt vom werdenden Vater, die ersten Booja-Booja Pralinen das vegane Licht der Welt erblickten.
Der künftige Schokoladenverkäufer wechselte aber zunächst einmal von der Theke hinter einen Feng-Shui Bürotisch mit PC und Bildschirm. Lernte in den nächsten zwei Jahren alles über Computer, Buchhaltung und Chatrooms und die knallharte Schule des Handelns mit allerlei Waren und Geld im größeren Stile. Durchlebte als Crashkurs – wieder umringt von Zockern und Spielern – Zahlenkrisen, Goldgräberstimmung, Internet-Hypes, noch mehr Zahlenkrisen, das Scheitern und die Auferstehung als Phönix aus der Asche. Nicht nur die Zahlen stürzten ins scheinbar Bodenlose, was der Schokoladenverkäufer mit viel Geschick, Vertrauen und unbändigem Einsatz abfangen konnte, nein, auch seine so heilige Berufung fuhr erst einmal und für eine unbestimmte Zeit frontal gegen die Wand.
Er konnte in diesem wilden Casino, als die digitale Welt sich anschickte, die Aufmerksamkeit der Menschen vollkommen zu vereinnahmen, noch unwissend für wen und was, sich alles aneignen, was es brauchte, um später ein kleines, aber feines Schoko-Handelsunternehmen zu führen.
Diese kapitalistische Geld- und Zahlenwelt, wie sie sich ihm jetzt darstellte, konnte er nicht alleine durch sein Händlerkarma aus dem vorherigen Leben aus der Hängematte hinaus mit Hibiskusblüten im Haar bewältigen. Es erforderte das Ablegen jeder Naivität und eine Herzensklarheit, die allen Lügen, Verführungen, Manipulationen, Ausbeutungen und den täglichen Prostitutionsangeboten widerstanden. Ein Ex-Mönch konnte zur Not auch im Büro oder im Laden gut leben. Liebe und Miteinander blieben und waren die einzige Währung, der er sich unterwarf.
In einer Biographie des großen indischen Heiligen Ramakrishna und seinem wichtigsten Schüler Vivekananda, hatte der Schokoladenverkäufer zu Zeiten seines Mönchs-Fables eine sehr schöne Geschichte gelesen: Der blutjunge Student Vivekananda brauchte dringend Geld für sich und die Familie, für die er nach dem Tod seines Vaters als ältester Sohn sorgen musste. So schickte Ramakrishna seine geliebten Schüler mit der Anweisung in den Tempel, die große Göttin Kali in Dakshinesvar – einer großen Tempelanlage in Kalkutta – um materiellen Beistand zu bitten. Als Vivekananda aus dem Tempel zurückkam, fragte ihn sein Meister, was sie ihm geantwortet habe. Vivekananda senkte das Haupt und teilte ihm mit, dass er nur für die absolute Wahrheit und um Erleuchtung bitten konnte und seinen Auftrag schon wieder vergessen hatte, als er vor ihrem Bildnis stand. Das kam dem Schokoladenverkäufer ziemlich bekannt vor, wenn er vor seinen biologisch-göttlichen Müsli-Regalen stand, die sich plötzlich zu leeren begannen.
Ramakrishna war nicht sehr erfreut über diese Mitteilung und schickte ihn umgehend zurück in den Tempel. Auch als er das zweite Mal aus dem Tempel trat, war die Antwort Vivekanandas wieder dieselbe. Ramakrishna schimpfte jetzt laut mit ihm und schob ihn ein drittes mal in den Tempel. Doch auch diesmal war die Antwort des Schülers, dass er nur um vollkommene Befreiung und Erleuchtung bitten konnte. Ramakrishna ging nun, bewundernd und verärgert zugleich, selbst in den Tempel, um mit der Göttin zu sprechen. Strahlend kam er nach kurzer Zeit wieder hinaus und verkündete Vivekananda, dass Kali ihm zu gesichert hätte, er und seine Familie würden immer ein Auskommen haben und nie Not leiden.
Hier aber war der sich der Gnade verweigernde und entsagende Westen, hier gab es keinen Tempel der großen Kali, man sah auch schon sehr lange keine Wandermönche mehr umherziehen, die den Menschen die dringend benötigte Weisheit und wahres Mitgefühl schenken...