Schweizer Mythen und Geschichte
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.
So poetisch drückte Friedrich Schiller in der Sage von »Wilhelm Tell« den Rütlischwur aus, den Gründungsmythos der Eidgenossenschaft.
In der Kuppelhalle des Berner Bundeshauses befindet sich eine große steinerne Monumentalgruppe, »Die drei Eidgenossen«. Sie wurde 1914 aufgestellt und soll die Schweizer Politiker auf die Werte der eidgenössischen Gründerväter von 1291 verpflichten. Die drei Vertreter der Orte Uri, Schwyz und Unterwalden schworen auf der Rütliwiese am Vierwaldstättersee einen ewigen Bund gegen die ungerechte Herrschaft der Habsburger und ihrer Vögte, von denen sie sich unterdrückt fühlten.
Die drei Eidgenossen, Bundeshaus Bern
Dass der Rütlischwur in dieser Form je stattgefunden hat, ist nicht erwiesen. In der Geschichtserzählung taucht er erstmals Ende des 15. Jahrhunderts auf, im 16. Jahrhundert kommt die Vorstellung dazu, der Bund sei schriftlich besiegelt worden. Aus dem gleichen Zeitraum gibt es jedoch über 80 Dokumente ähnlicher Art. Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine auf Anfang August 1291 datierte Urkunde als »Bundesbrief« in den Rang eines Gründungsdokuments erhoben; seither werden die drei schwörenden Eidgenossen mit einer Urkunde in der Hand dargestellt. Das Jahr 1291 als Gründungsjahr der Eidgenossenschaft und den ersten August als Nationalfeiertag festzulegen, geht auf eine Initiative der Berner zurück, als sie 1891 das 700-jährige Bestehen der Stadt feiern wollten. Was lag näher, als gleichzeitig die 600-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft zu begehen?
Der Schwur der drei Eidgenossen gehört zu den Gründungsmythen der Schweiz. Die Idee der Gleichheit in der Verschiedenheit ist, ebenso wie die viel beschworene Vielfalt in der Einheit, ein immer wiederkehrendes Motiv in der politischen Ideologie des Landes. Drei Männer mit verschiedener Herkunft und Motivation sowie unterschiedlichen Alters haben ein gemeinsames Ziel. Sie stehen für eine Gemeinschaft, die es durch Zusammenarbeit schafft, ein Rechtssystem, das als ungerecht empfunden wird, durch einen beschworenen Vertrag zu ersetzen. Symbolisch steht die »Drei« für drei Völker, drei Generationen und drei Stände: Bauernstand, Bürgertum und Handwerkerstand.
Relativ sicher ist, dass die drei Waldstätte Uri, Schwyz und Unterwalden nach dem Tod des römisch-deutschen Königs Rudolf I. von Habsburg ein älteres Bündnis vertraglich erneuert haben. Dieses wurde wohl mythologisch verklärt und der »Gründung« der Alten Eidgenossenschaft zugrunde gelegt.
Der Mythos bedurfte noch einer Verstärkung in Form eines legendären Schweizer Freiheitskämpfers, der mit dem Rütlischwur in Verbindung gebracht wird: Wilhelm Tell. Seine Geschichte wird auf das Jahr 1307 datiert und spielt in der Zentralschweiz:
Der habsburgische Landvogt Gessler lässt einen Hut auf eine Stange stecken und befiehlt seinen schweizerischen Untertanen, diesen jedes Mal zu grüßen, wenn sie vorbeigehen. Doch der weithin bekannte Armbrustschütze Wilhelm Tell weigert sich, den Hut zu grüßen. Zur Strafe befiehlt ihm der Vogt, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen. Nur so könne er seine Freiheit zurückerlangen, ansonsten müsse sein Kind mit ihm sterben. Widerstrebend lässt sich Tell darauf ein: Er schießt – und trifft den Apfel. Aber er gibt zu, dass sein zweiter Pfeil für den Vogt bestimmt gewesen wäre, wenn er sein Kind getroffen hätte. Daraufhin will ihn dieser gefesselt auf seine Burg nach Küssnacht bringen lassen. Auf dem Vierwaldstättersee wird Tell von seinen Fesseln befreit, um das Boot im aufkommenden Sturm zu lenken. Geschickt steuert er es in Ufernähe und wagt einen verwegenen Sprung auf eine hervorspringende Felsplatte, die heute noch Tellsplatte heißt. Er eilt nach Küssnacht, erwartet den Vogt in der »hohlen Gasse« und erschießt ihn mit seiner Armbrust. Damit wird er zum Tyrannenmörder.
Hohle Gasse, Küssnacht
Aber auch Wilhelm Tell erweist sich als nicht real. Ein Berner Pfarrer stellt im 18. Jahrhundert fest, dass die Sage vom Apfelschuss die Nachdichtung einer dänischen Sage aus dem 13. Jahrhundert ist. Warum also diese Mythen und warum gerade in der Schweiz, diesem überschaubaren Land inmitten Europas?
Vielleicht, weil ihren Bewohnern Mythen von Beginn an sehr vertraut waren? Der »Mythos Berg« als Sitz von Göttern und Dämonen hat seit Jahrtausenden die Menschen inspiriert und ihre Fantasie beflügelt. Und die Schweiz hat besonders viele hohe Berge – allein 48 Viertausender und über 1000 Dreitausender.
Oder weil die Schweiz von jeher ein Land der Kontraste und der Übergänge war? Von Nordosten nach Südwesten durchzieht mit Rhein- und Rhonetal eine große Längsfurche das Land. Aus den Tälern schrauben sich beängstigend steile Alpenpässe in unzähligen Serpentinen nach oben, überwinden über waghalsige Brückenkonstruktionen tiefe Schluchten, schlängeln sich an zerklüfteten Felsformationen, hohen Bergriesen und malerischen Bergseen vorbei, während tosende Wasserfälle eine furchteinflößende Geräuschkulisse liefern. Daneben prägen aber auch liebliche Voralpenlandschaften mit blühenden Wiesen und sanften Hügeln das Bild der Schweiz.
Vielleicht aber auch, weil dieses Land, dessen herrliche Landschaften uns heute so faszinieren, in früheren Jahrhunderten für viele Menschen ein hartes Leben mit großen Entbehrungen bedeutete. Die lebensfeindliche hochalpine Landschaft lud nicht gerade dazu ein, sich dort niederzulassen. Hatte man es dennoch irgendwie geschafft, erwies sich schon die Kommunikation mit den unmittelbaren Nachbarn als schwierig, oft stand deren Hof kilometerweit entfernt. Hinter jedem Pass lebten andere Menschen, andere Stämme mit anderen Gesetzen oder anderer Sprache. Nicht ein zusammenhängendes Land, sondern viele kleine Einheiten mit jeweils eigenen Traditionen und eigener Gesetzgebung prägten das Bild.
Das Gebiet der heutigen Schweiz ist schon seit der Altsteinzeit besiedelt. Der Name »Helvetier« taucht erstmals Anfang des 1. Jahrhunderts vor Christus auf. Zur Zeit Julius Cäsars lebten vor allem keltische Helvetier und Räter im Land, während der Völkerwanderung kamen die Alemannen dazu. Wie fast überall in Europa kolonisierten die Römer das Land, für ihre Handelsverbindungen brauchten sie Straßen und Pässe und waren die Ersten, die das Verkehrsnetz ausbauten. Weil man die strategisch wichtigen Alpenpässe nach Germanien sichern wollte, entstanden Simplon-, Septimer- und Julierpass.
Nach dem Abzug der Römer kamen im 5. Jahrhundert Burgunder in die leeren Gebiete. Im 6. Jahrhundert kam Helvetien unter die merowingischen, später unter die karolingischen Frankenkönige. Irische Mönche, wie Gallus oder Beatus, begannen mit der Christianisierung der Schweiz, zahlreiche Klostergründungen waren die Folge.
Im 9. Jahrhundert wurde das Frankenreich geteilt, die Westschweiz kam zum neuen Königreich Burgund, die Ostschweiz als Teil des Stammesherzogtums Schwaben zum Ostfrankenreich, dem späteren Heiligen Römischen Reich. Als 1032 auch Burgund ins Reich eingegliedert wurde, regierten dort inzwischen bereits einheimische Provinzfürsten nach eigenem Gutdünken. Die Grafen von Savoyen hatten über mehrere Generationen ihre Herrschaft erweitert, dazu kamen Rheinfelder, Kyburger, Zähringer – sie gründeten Bern und Freiburg – und die Habsburger mit ihrem Stammschloss im Aargau. Die Zähringer starben 1218 aus, ihre Erben waren die Habsburger. Rudolf von Habsburg errang 1273 die Königskrone. Als er 1291 starb, vermachte er das Reich inklusive der Waldstätte seinem Sohn. Der alte Vertrag, der nach seinem Tod erweitert wurde, um nach dem Willen des Adels die lokalen Zustände so zu erhalten, wie sie waren, wurde als Schutzbrief bezeichnet und die Geschichte um den »Gründungsakt« legendär »verfälscht«.
Die Landsleute der drei Waldstätte schlossen einen »ewigen Bund«, um sich im Falle einer Gefahr gegenseitig zu helfen. Zusammen mit der Tell-Legende ist dies eine Art Befreiungsmythos, mit dem eine 200-jährige Erfolgsgeschichte begann. Als die Habsburger die Waldstätte zur Ordnung rufen wollten, wurden sie attackiert und mussten 1315 am Morgarten herbe Verluste hinnehmen. Und auch in weiteren Schlachten, wie der von Sempach, waren die Habsburger unterlegen. Ein weiterer Mythos war geschaffen, den der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli später so auslegte: »Mit der Schlacht am Morgarten beginnt die ununterbrochene Abfolge siegreich bestandener Kämpfe, in denen Gott die schützende Hand über die Eidgenossen, sein Erwähltes Volk, hielt.« Da hat Zwingli wohl die Bibel als Vorlage benutzt. Der Chronist Johannes von Winterthur drückte es ähnlich aus: »Gott strafte den hochmütigen Tyrannen dadurch, dass er Bauern über Adelige triumphieren ließ.« In Krisenzeiten war dies ein hilfreicher Mythos, der bewirkte, dass man nach außen fest zusammenhielt. Wie gut das funktionierte, bestätigt die reale Geschichte: Bis zum 15. Jahrhundert erkämpfte man sich weitgehende Autonomie vom Heiligen Römischen Reich. Außerdem dehnte man sich durch Kriege...