Einleitung
Eine rechtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem „Staat“ im arabischen Raum erscheint im Zeitalter der Zerfallserscheinungen jeglicher Ordnungsformen und der Entstehung eines Phänomens wie dem selbsternannten Islamischen Staat1 in diesem Teil der Welt als ein aus der Zeit gefallener Untersuchungsgegenstand. Es ist nicht auszuschließen, dass der Staat als die historisch gewachsene „institutionalisierte Form […] zur Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben“2 im arabischen Raum bald nicht mehr existiert. Dies betrifft aufgrund der Entwicklung seit 2011 insbesondere die republikanische Staatsform. Des Öfteren wird das Ende des Sykes-Picot-Abkommens vom 16. Mai 1916 als der historischen Grundlage für die Grenzziehung zwischen Syrien und dem Irak und eine damit einhergehende Grenzziehung zwischen beiden Staaten prophezeit. Auf der weltpolitischen Bühne wird also die Neugestaltung der Territorien der Staaten Irak, Syrien und weiterer arabischer Staaten wie Libyen und Jemen diskutiert, was im Endeffekt eine Umgestaltung anderer staatlicher Elemente, Volk und Staatsgewalt, nach sich zieht.3
Jedoch bleibt die verfassungsrechtliche Frage nach der Gestaltung dieser Staaten die Schlüsselfrage, wenn man die politische, gesellschaftliche und rechtliche Konstituierung in diesem Teil der Welt in ihrer Komplexität und ihrem ganzen Facettenreichtum wahrnehmen möchte. Die Staatlichkeit im arabischen Raum reflektiert in ihrer normativen, manchmal widersprüchlichen Gestaltung die tiefgreifenden Eigenschaften der Politik, der Gesellschaft und des Rechts arabischer Prägung. Der jetzige Zerfallsprozess der Staatlichkeit in mancher arabischen Republik lässt sich deutlicher erklären, wenn man sich mit den staatlichen Kriterien gemäß den Verfassungsnormen auseinandersetzt. Insbesondere vor dem Hintergrund der Entwicklung der Lage im Zuge des sog. Arabischen Frühlings 2011 erscheint eine komparative Betrachtung des verfassungsrechtlichen Zustandes des Staates davor und danach unersetzlich, um die arabisch-republikanische Staatlichkeit historisch erfassen zu können.
Angesichts dessen geht es in dieser Arbeit grundsätzlich darum, einen historischen Abriss der normativen Staatlichkeit in den arabischen Republiken darzustellen. Dabei wird die Auseinandersetzung nicht im Sinne von Stabilität vor 2011 vs. Instabilität nach 2011 geführt. Einerseits werden die Normen neutral betrachtet. Andererseits werden die normativen Brüche in der epochalen staatlichen Stabilität vor 2011 dargelegt, weshalb vor allem die großen Veränderungen des Jahres 2005 und kurz danach in den Staaten Irak und Sudan eine wesentliche Rolle bei der Behandlung der verfassungsrechtlichen Lage arabischer Prägung spielen. Die Untersuchung der Zeit nach 2011 beschränkt sich darauf, die Entwicklung der normativen Staatlichkeit bis Ende 2012 in den Blick zu nehmen, als eine Phase der Selbstfindung und des ersten Konstitutionalismus nach der Arabellion endete.4 Es handelt sich bei dieser Untersuchung also um eine Momentaufnahme der staatlichen Lage im arabischen Raum, denn der Prozess des Übergangs und der Fragilität in den von der Arabellion betroffenen Staaten setzte sich auch nach 2012 fort. Militärische Auseinandersetzungen, Kriege, Fragmentierungen und totale Fragilität stellen die Hauptmerkmale einer derzeit anhaltenden Übergangsphase einiger Staaten wie Syrien, Libyen und Jemen dar.5
Allerdings lassen sich Kriterien des Übergangs und der Fragilität auch in den arabischen Republiken finden, die keine oder nur geringfügige Veränderungen im Zuge der Arabellion 2011 erlebten. So stößt im Libanon das proportionale System der Machtverteilung an seine Grenzen. In Mauretanien wurde die Verfassung mit dem Zweck geändert, einen gesellschaftlichen Bruch aufgrund der Ungleichbehandlung von Ethnien zu vermeiden. Zudem finden sich Zeichen der Fragilität auch in Algerien, wo keine Veränderungen im Zuge der Arabellion stattfanden, wo die politischen und gesellschaftlichen Probleme Algeriens – trotz seines wirtschaftlichen Reichtums –aber graduell eine Übereinstimmung mit denen anderer arabischer Staaten aufweisen und jederzeit die Lage im Lande außer Kontrolle geraten lassen können.6
Im Leben des ägyptischen Staates hingegen dreht sich der Übergang nach 2012 insbesondere um die Verfassung. Die in einem Referendum ratifizierte und im Dezember 2012 in Kraft getretene endgültige Verfassung wurde vom Militärrat am 03.07.2013 außer Kraft gesetzt. Danach ließ der Präsident des Verfassungsgerichts in seiner Funktion als eingesetzter Übergangspräsident der Republik durch eine Kommission Änderungen an der Verfassung von 2012 ausarbeiten. Im Januar 2014 wurden dann die Verfassungsänderungen vom ägyptischen Volk in einem Referendum ratifiziert, so dass seit diesem Datum die geänderte Fassung der Verfassung 2012 als die neueste ägyptische Verfassung – die ägyptische Verfassung von 2014 – gilt.
Parallel dazu, aber ohne Referendum, einigte man sich in der im Oktober 2011 gewählten tunesischen verfassungsgebenden Versammlung erst im Januar 2014 darauf, den Verfassungsentwurf zur neuen Verfassung Tunesiens zu machen. Allerdings wurde die alte tunesische Verfassung von 1957 im Zuge der Entwicklung des Jahres 2011 nicht, wie in Ägypten die Verfassung von 1971, sofort außer Kraft gesetzt. Zudem spielte das tunesische Militär im Gegensatz zu Ägypten keine „offizielle“ Rolle in der Übergangsphase. Erst im März 2011 stellte der geschäftsführende Präsident der Republik in einem Dekret zur provisorischen Ausübung der Staatsgewalt fest, dass eine vollständige Anwendung der Bestimmungen der alten tunesischen Verfassung unter den damaligen Umständen – Abwesenheit des Präsidenten der Republik, nachdem Bin Ali das Land verlassen hat – nicht möglich sei. Eine ausdrückliche Außerkraftsetzung der Verfassung erfolgte dann im Gesetz Nr. 6 vom Dezember 2011, welches von der gewählten verfassungsgebenden Versammlung erlassen wurde.
Ausgehend von der zeitlichen Beschränkung auf eine bestimmte Phase des Staats- und Verfassungslebens bis zu den Entwicklungen des Jahres 2011 und danach bis Ende 2012 versteht sich diese Untersuchung neben der staatsrechtlichen Ausrichtung auch als eine verfassungshistorische Untersuchung. Sie will die Grundideen der ersten Epoche nach 2011 hinsichtlich der Entwicklung der Staatlichkeit im arabischen Raum vergleichsweise zur Lage vor der Arabellion erfassen. Im Übrigen gilt die zeitliche Beschränkung auch für die Verwendung von Quellen. Diese werden generell bis zum Ende 2012 berücksichtigt. Eine derartige Ausrichtung der Untersuchung an einer Schnittstelle zwischen Verfassungsrecht und Verfassungsgeschichte stellt die Grundlage dafür dar, zumindest in der Theorie von einer auf den arabischen Raum ausgedehnten Staatlichkeit zu sprechen, die an den in den verschiedenen Staatssystemen inkorporierten Staatscharakteristika ablesbar ist.
Mit anderen Worten geht es darum, Gemeinsamkeiten der Staatlichkeit im arabischen Raum, genauer gesagt im arabisch-republikanischen Raum, im Sinne eines theoretischen Konzepts herauszuarbeiten. Im weitesten Sinne des Worts werden generell die Eigenschaften dargelegt, die ein „gemeinarabisches“ Verfassungsrecht republikanischer Prägung charakterisieren könnten. Dabei leitet sich die Verwendung der Bezeichnung „gemeinarabisch“ in Bezug auf verfassungsrechtliche Inhalte von den Gedanken von Peter Häberle ab, der vom „Gemeineuropäischen Verfassungsrecht“ spricht. Nach ihm „umschreibt [dieses] einen Teilaspekt des europäischen Verfassungsstaates […] [und] speist sich aus Gemeinrechtsdenken und Prinzipiendenken […], ohne die Vielfalt der nationalen Rechtskulturen einebnen zu wollen.“7 Getragen von den einzelnen Aspekten des gemeineuropäischen Verfassungsrechts nach Häberle wird vom gemeinarabischen Verfassungsrecht als einer „rechtwissenschaftlichen Kategorie“ und „Prinzipienstruktur“ auszugehen sein.8 Die Verwendung von „gemeinarabisch“ als Begriff versteht sich also als Kontextbildung hinsichtlich der untersuchten arabischen Staaten mit republikanischer Ordnung.
Die Methode dieser Kontextbildung und der Gegenstand der Untersuchung sowie ihre Ziele werden zu Beginn der Untersuchung im 1. Kapitel präzisiert und ausführlich dargelegt. Zudem kommen die Gründe ausführlich zur Sprache, warum diesem Thema mit dieser Untersuchung wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Danach erfolgt im 2. Kapitel eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage, welches Bild vom Staat sich aufgrund der Normen verschiedener Verfassungen herauskristallisieren lässt. Im Rahmen dessen werden Form und Struktur der Verfassungsdokumente untersucht und ein Blick auf die Platzierung verschiedener Themenbereiche geworfen. Das 3. Kapitel geht dann anhand der Verfassungsbestimmungen dazu über, jeweils das Verhältnis zwischen der staatlichen Gestaltung und der Bewältigung verschiedener Krisensituationen zu untersuchen. Schließlich werden insbesondere die Entscheidung für eine föderale Staatsbildung in der irakischen und sudanesischen Verfassung und die Unterschiede zwischen beiden föderalen Modellen sowie die Entwicklung der Dezentralisierung nach der Arabellion in anderen arabischen Staaten untersucht. Am Ende des 3. Kapitels wird die Entscheidung für einen dauerhaften Reformprozess der Verfassungsnormen als eine verfassungsrechtliche Besonderheit behandelt, die in den Verfassungen des Iraks und Sudans sichtbar ist und ihre Spuren auch in anderen Verfassungen arabischer Staaten hinterließ.
Im 4. Kapitel wird die republikanische Staatsform als das erste Prinzip der Staatsstrukturprinzipien analysiert. Beginnend mit der Verwendung und der Bedeutung des...