Sie erfahren hier:
was Stellvertreterpositionen attraktiv macht,
welche Vorteile und welche Nachteile Stellvertreterpositionen haben,
wie man die Befugnisse von Stellvertretern definieren kann,
warum Stellvertretung eindeutig ein Führungsjob ist, und zwar ein ziemlich komplizierter.
Was Sie konkret für Ihre Praxis brauchen:
Sie machen sich klar, in welchem Rahmen Sie als Stellvertreter handeln dürfen,
Sie analysieren, welchen informellen Spielraum Sie als Stellvertreter haben,
Sie entwickeln eine Strategie für Ihre Rolle als Stellvertreter.
Der Job eines Stellvertreters ist begehrt. Wer den Chef vertritt, erfährt interessante Details, kann Entscheidungen beeinflussen und sich mindestens ab und zu einmal in der Führungsrolle ausprobieren. Das motiviert. Und mehr Renommee bringt diese Zusatzfunktion auch mit sich.
Beispiel: Julie Zeller, 29, arbeitet in einem großen Software-Unternehmen. Sie hat sich in ihrem Programmierteam durch Fleiß, Organisationsgeschick und gute Ideen ausgezeichnet. Als der bisherige Stellvertreter des Abteilungsleiters in Ruhestand geht, wird sie gefragt, ob sie dessen Funktion übernehmen möchte. Frau Zeller denkt kurz nach und spricht mit guten Kollegen und Freunden:
Welche konkreten Aufgaben kommen auf sie als neue Stellvertreterin zu?
Wie werden andere im Team, speziell die Älteren, die Nachricht aufnehmen?
Kann sie sich vorstellen, noch enger mit ihrem Chef zusammenzuarbeiten?
Frau Zeller bittet ihren Chef um ein zweites Gespräch. Sie holt sich Infos zur Aufgabenverteilung und bittet ihn um seine Einschätzung zur Reaktion des Teams. Der sagt: „Gut, dass Sie sich solche Gedanken machen, aber das wird schon alles glatt gehen.“ So ganz sicher ist sich Frau Zeller da nicht, dennoch gibt sie ihm am nächsten Tag das Signal: „Ich mach das!“ Ein mulmiges Gefühl bleibt, aber sie freut sich auf die neue Aufgabe und denkt sich, dass sie vielleicht dauerhaft einmal selbst eine Abteilung leiten möchte. Da wird sie doch als Stellvertreterin viel lernen können!
Kein Wunder, dass Frau Zeller zusagt. Sie hat den Reiz und die Chance sofort erfasst. Aber sie hat auch kurz innegehalten und sich ein paar wichtige Fragen gestellt. Ihr ist klar, dass der Stellvertreterjob kein reines Zuckerschlecken ist.
1.1 | Vor- und Nachteile der Position |
Tatsächlich handelt es sich bei der Stellvertretung um eine besonders ausgeprägte Sandwichposition: Viele Stellvertreter fühlen sich regelrecht eingequetscht zwischen den Ansprüchen von oben (zum Beispiel: „Sorg dafür, dass die Mitarbeiter tun, was ich will!“) und denen von unten (zum Beispiel: „Bring dem Chef bei, dass es so nicht geht!“). Die Arbeit als Stellvertreter oder Stellvertreterin hat eben Vorteile und Nachteile.
Vorteile der Stellvertreterposition:
mehr Renommee,
mehr Informationen über Strategien und Entscheidungen der Leitungsebene,
Teilnahme an wichtigen Besprechungen,
mehr Macht, zumindest in Abwesenheit des Chefs, und generell mehr Einfluss,
Teilhabe an der Führung, ohne selbst die volle Verantwortung zu tragen.
Nachteile der Stellvertreterposition:
mehr Verantwortung und Stress als in der Mitarbeiterrolle, oft verbunden mit Zeitproblemen,
Sonderstellung im Team und deshalb teilweise Misstrauen seitens der Mitarbeiter,
Abhängigkeit vom Verhalten und vom Wohlwollen des Chefs,
Klagemauerfunktion, weil die Mitarbeiter beim Stellvertreter ihre Sorgen abladen,
eigene Leistung als Stellvertreter ist nach außen kaum sichtbar.
Wer eine Stellvertreterposition angeboten bekommt, sollte abwägen: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich die Vorteile wirklich so einstellen? Können Sie mit den möglichen Nachteilen leben?
Frau Zeller befürchtet, dass manche Teammitglieder auf Distanz zu ihr gehen könnten, weil sie ja als Stellvertreterin sozusagen auf der Seite des Chefs steht. Bisher hatte sie zu praktisch allen im Team ein gutes Verhältnis. Sie fragt sich: „Würde ich auf Dauer mit Kritik, Misstrauen und vielleicht sogar Anfeindungen klarkommen?“ Ein Freund sagt ihr dazu: „Willst du dir von irgendwelchen Neidhammeln deine Karriere verbauen lassen?“ Eine andere Ratgeberin meint: „Das ist ja bis jetzt nur Fantasie. Geh doch erst einmal davon aus, dass die Kollegen dich auch weiterhin akzeptieren.“ Beides leuchtet Frau Zeller ein. Letztlich ist die Aussicht auf Teilhabe an einer Führungsposition für sie zu reizvoll, als dass sie ihren Befürchtungen nachgeben möchte.
Es ist richtig und wichtig, sich etwas Zeit für die Entscheidung über eine Stellvertreterfunktion zu nehmen. Wie Sie im Laufe dieses Buches sehen werden, ist die Aufgabe eines Stellvertreters komplizierter, als man zunächst denkt. Mag auch nicht jede Befürchtung vom Anfang später so eintreffen, die Stellvertreterrolle bringt doch Probleme mit sich, die man anfangs nicht überschauen kann. Sie ist genau genommen sogar schwieriger als etwa die eines Abteilungsleiters, also einer sogenannten Linienführungskraft. Denn die Linienführungskraft weiß, wo ihre Entscheidungsverantwortung anfängt und aufhört und sie hat die sogenannte Weisungsbefugnis gegenüber den Mitarbeitern. Beides trifft auf einen Stellvertreter so klar nicht zu.
Das sollte aber niemanden reflexartig zurückzucken lassen. Stellvertreter zu sein, kann eine spannende und erfüllende Aufgabe sein. Es ist eine verantwortungsvolle Rolle, die viel zum Teamerfolg beitragen kann. Und es ist oft tatsächlich der Einstieg in weitere Führungsaufgaben ? schon deshalb, weil man als Stellvertreter auf dem Radar der nächsthöheren Managementebene erscheint.
Mehr noch: Ein engagierter Stellvertreter bereitet sich nebenbei auf viele Aspekte einer „normalen“ Führungsposition vor. Manche, die diesen Karriereschritt später wirklich vollziehen, erleben den Aufstieg zum Abteilungsleiter oder Bereichsleiter dann als Entlastung: Endlich eindeutig Chef sein! Das geht ja ganz leicht! Aber das ist für frischgebackene Stellvertreter wie Frau Zeller noch weit weg. Ihr steht eine anstrengende Zeit bevor, in der sie allerdings auch große Lern- und Entwicklungsschritte machen kann.
1.2 | Aufgaben des Stellvertreters |
Warum gibt es eigentlich Stellvertretungen? Die wichtigste Begründung: Damit der Betrieb reibungslos weiterläuft, wenn der Chef einmal krank oder im Urlaub ist. Genauer bedeutet das: In einer Abteilung oder einer Organisation müssen zu jedem Zeitpunkt Entscheidungen fallen können. Gemeint sind hier zunächst kleine Entscheidungen. Jeden Tag gibt es organisatorische Fragen oder dringende Probleme (zum Beispiel Fehler und Beschwerden), die möglichst sofort geklärt werden müssen. Stellvertretung bedeutet zuallererst, diese kleinen Steine aus dem Weg zu räumen, wenn der Chef es gerade nicht kann.
Aus der Sicht des Teams heißt Stellvertretung also: „Wir können weiterarbeiten, wenn der Boss nicht da ist.“ Aus der Sicht des Chefs: „Ich kann ruhig einmal weg sein. Der Laden läuft weiter.“ Aus der Sicht der Gesamtorganisation oder der externen Partner und Kunden: „Die Abteilung ist jederzeit ansprechbar und funktioniert.“
Die zentrale Aufgabe aller Stellvertreter ist es, den Betrieb am Laufen zu halten, wenn die zuständige Führungskraft abwesend ist.
Das ist eine recht enge Definition der Stellvertreteraufgaben. Im Umkehrschluss würde das ja bedeuten: Die Zuständigkeit des Stellvertreters endet automatisch, sobald der Chef anwesend ist, und sie berührt auch nur kleinere Entscheidungen im Alltag. Denn mit allem anderen, etwa mit Richtungsentscheidungen, haben Stellvertreter nichts zu schaffen.
Doch das wäre zu schwarz-weiß gemalt. Jeder kennt Stellvertreter, die auch in Anwesenheit des Chefs eine hervorgehobene Rolle spielen und die mitentscheiden, wenn es um große Projekte und die künftige Ausrichtung geht. Manche scheinen gar eine Art Generalbefugnis zu haben und machen zu können, was sie für richtig halten. Sie sind eine Art Chef-neben-dem-Chef. Tatsächlich müssen wir den Merksatz durch einen zweiten ergänzen:
Stellvertreter können sehr weitgehende Zuständigkeiten und Befugnisse innehaben. Das ist jedoch Verhandlungssache zwischen Chef und Stellvertreter oder bildet sich in gelebter betrieblicher Praxis heraus.
Und daraus ergibt sich automatisch ein dritter Merksatz:
Eine allgemeingültige Definition, wie die Aufgaben und die Rolle eines Stellvertreters zu verstehen sind, gibt es nicht.
Für Sie als amtierende oder künftige Stellvertreter bedeutet das: Alles ist möglich. Der Normalfall wäre, dass Chef und Stellvertreter die Befugnisse des Stellvertreters miteinander aushandeln und dies schriftlich festhalten, in einem sogenannten Geschäftsverteilungsplan. Tun sie das aber aus irgendwelchen Gründen nicht, dann stellt sich trotzdem mit der Zeit heraus, welche Befugnisse der Stellvertreter hat. Die praktische Zusammenarbeit von Tag zu Tag und Monat zu Monat wird es zeigen. Auch das ist eine Rollenklärung.
Die Rollenklärung gehört also zu jeder Stellvertreterposition dazu. Sie verläuft jedes Mal anders und selten konfliktfrei. Kein Wunder, denn beim Thema...