Parität der Parias.
Jede Vorstellung imaginiert einen möglichen Zustand, intendiert persönliche Zielsetzung. Die Menschen sind davon besessen, sich selbst und ihre Umgebung zu verbessern, aus ihrem früheren Zustand der Abhängigkeit und Angreifbarkeit in den Zustand der Unabhängigkeit und Unangreifbarkeit überzugehen. Aus dieser Intention entstanden das Recht, das Werkzeug und die Religion, die alle dem Zweck dienen, die höhere Entwicklungsstufe zu erreichen, die Treppe der Evolution aufzusteigen. Das Christentum war einer der Meilensteine auf diesem Weg, indem es das neue Wunschbild des Menschen formulierte und es zum Gott erhob. Mit diesem neuen Gott sollte sich auch die Gesellschaft und die Welt verändern. Die Rechtsordnung sollte demnach nicht den Reichen dienen und die Willkür verteidigen, sondern umverteilen und jede Willkür abwenden. Das Werkzeug der Friedensstiftung mußte weder Vergessen noch Vergebung oder Vergeltung sein sondern die Gabe, die zum Grundsatz zwischenmenschlicher Beziehungen werden mußte, um die allgegenwärtige Gewalt und das Unrecht zu überwinden. Der gesellschaftliche Fortschritt soll Naturkatastrophen wie auch Krisen entgegenwirken, die im Inneren der Gesellschaft entstehen. Um diese Ziele zu erreichen, sollen nicht die Menschen geopfert werden, sondern die Ursachen des Unheils identifiziert werden, um sie zu überlisten.
Mit diesem neuen Bewußtsein richtete man viel Unheil an, nicht zuletzt, weil archaische, anachronistische Verhaltensformen das menschliche Schicksal ist. Es reicht nicht, die Ziele zu formulieren, es muß auch der Weg gefunden werden, um sie zu erreichen. Der Weg zum Heil erwies sich als Lauf mit Hindernissen, von Ver-Irrungen und Ent-Täuschungen begleitet. Aus den ursprünglichen Vorhaben des Christentums, einschließlich Domestizierung des Wilden, Namensgebung und Alphabetisierung, wurden herrschaftliche Vereinnahmungen, Gleichschaltungen, Umbenennungen und Auslöschung der Ursprachen, im Laufe derer die böswilligen Vorsätze die guten Absichten überdeckten, die Übergänge zwischen Jagd und Steuerung verflüchtigten, vom Kurs abgewichen und in die gemeinsame Katastrophe gesteuert wurde. Der Steuermann und der Steuerberater wurden zu Galionsfiguren dieser Imperfektion und Irrfahrt, deren Formen und Richtungen aus der Bibel herauszulesen versucht wurde.
Die Bibel wurde im Reich der Analphabeten als Gottes Wort gefeiert. Die Barbaren waren von der Innovation beeindruckt, die Worte festzuhalten und sie unsterblich machen zu können. Das Wort, das festgehalten und reproduziert werden konnte, schien magische Qualitäten zu haben: Der Gott lebte im Wort, seine Stimme und Sprache konnte jeder erfahren, der entweder selbst lesen konnte, oder dem vorgelesen wurde. Das Lesen war schon die Zauberkunst, weil man den Zugang zu sakralem Wissen erhielt, womit man die Aufmerksamkeit der Massen anziehen konnte, um sie in eine Art Trance zu versetzen: Sie zu den Hörer und zu den Hörigen zu machen, über sie Besitz und Befehlsgewalt zu ergreifen, ohne sie anzufassen oder anzugreifen. Diese telepathischen und teleportischen Qualitäten des festgehaltenen Wortes wurden von naiven Hirnen gleichfalls als zauberhaft wahrgenommen. Bis heute üben die Gesetzestexte, Lehrbücher, Verträge und übrigen Produkte der Machtausübung mit unsichtbarer Hand ihren sakralen Einfluß aus. Zur Autorität erhobene (ikonisierte) Bilder, Worte, Personen oder Gegenstände, um die Gesellschaft beliebig zu strukturieren (konstruieren) und zu beherrschen, wurden ins Instrumentarium der Verwaltungsapparate aufgenommen. Die Ausformung der Gesellschaft und Konstruktion des Bewußtseins mit Hilfe von Symbolen, Texten, Institutionen, nahm in der Zeiten der Verwissenschaftlichung der Politik wahrlich grandiöse Maßstäbe an. Alles, was zur Erhaltung eines bestimmten politischen Systems beitragen konnte, wurde bedenkenlos verwendet und angewendet: Fußballspiele, Nationalhymne, Denkmäler, Betriebsversammlungen, Verbände, kinematische Reproduktionsmethoden des Spielfilms und Fernsehers... Alles, was für das jeweilige System nicht dienlich war, wurde bekämpft und abgeschoben: Aufklärung, Protest, Selbstständigkeit, persönliche Entscheidung. An dem theatralisierten Bild der Realität durfte nicht gekratzt werden, und das Dirigieren der Massen durfte nicht gestört und mit den Mißtönen nicht unterbrochen werden. Das reibungslose Funktionieren des fetischistischen Systems konnte nur mit der Aufrechterhaltung des Glaubens an seine Symbole und Fetische erhalten und gewährleistet werden. Darum werden die staatlichen und übrigen Machtsymbole so sehr beschützt und von der Kritik und Verantwortung ausgenommen: Sie müssen eine heile Welt, eine Krippe der Macht, vorspielen. Schon Platon rechtfertigte in seinem Idealstaat die These, die Herrscher müssen stets ins beste Licht gesetzt werden, und Götter müssen nicht zu den Ursachern aller Dinge erklärt werden sondern nur der guten. Man verlangt den blinden Glauben an die Symbole und Autoritäten, die als unfragbare und unzweifelhafte Gegebenheiten präsentiert und aus dem Kontext der Sinngebung und Neupositionierung (Justierung) des Wissens herausgenommen werden.
Die Verwaltung als institutionalisierte Gewalt konzentriert kollektive Aggression der Bürokratie, vermeidet mit Bürokratisierung persönliche Konfrontation mit den Untergebenen, umverteilt und irreleitet ihren Zorn auf viele Objekte, und löscht den Rest der überschäumenden Emotionen mit weiteren Methoden aus. Auf diese Weise wird jeder Widerstand und Widersacher neutralisiert, der Gesellschaft wird jeglicher innere Impuls entzogen, um sie für bürokratische Ziele zu mobilisieren (unterminieren und vereinnahmen). In der technokratischen psychosozialen Ordnung realisiert sich die menschliche Gewaltsamkeit in der Vorgehensweise, die fordert, die Geheimnisse der Natur mit den wissenschaftlichen Instrumenten entreißen zu müssen. Die Vorstellung, das Wissen als Gabe der Natur empfangen zu können und zu dürfen, scheint vollständig verloren gegangen bzw. verdrängt zu sein. Obwohl der Kampf der Geschlechter (um die richtige Position) in vielen archaischen Sprachen (zu denen auch die deutsche Sprache angehört) allgegenwärtig ist, und der Geschlechtsakt in vielen Worten und Ausdrucken sich permanent vollzieht (Zeugnis ablegen, Erzeugnis, Werkzeug, Überzeugung) wird dieser Umstand in den gesellschaftlichen Institutionen übersehen, was die Erfüllung ihrer Intention, den Konflikt zu vermeiden, institutionell und konzeptionell behindert oder unmöglich macht. Die Rechtsordnung wird zu Streitregelung, das Gerichtsurteil zu Hinrichtung, die Bildung zu Indoktrination und Doktortitelvergabe in den bürokratischen Initiationsritualen, die Gesellschaft entgleist in Apartheid, die Architektur dirigiert Menschenmassen, trennt sie voneinander und sperrt sie ein, statt sie zu verbinden, und ihnen menschliche Lebensbedingungen anzubieten... die Liste der Verfehlungen und Mißerfolgen kann fortgesetzt werden.
Der gesellschaftliche Kontext muß wie ein literarischer Text bewertet, revidiert, korrigiert und auf semantische, logische und grammatische Fehler geprüft werden. In dem gegenwärtigen Kontext stimmt vieles nicht, der Text ergibt keinen Sinn, gleicht einem dadaistischen Spiel. Daß das reale Leben kein Spiel ist, wird heute von denen vergessen, die versuchen, die Spielregeln aufzuzwingen, die Massen spielerisch asemantisierten, d.h. sie verdummen und verwirren. Den Sinn des Wortes oder eines Gegenstandes erkennt man nur in sinnerfülltem Kontext, im Verhältnis zu den anderen Worten und Gegenständen, im Zusammenhang des Existierenden. Ohne dieses Ganze gibt es kein Einzelne, Elementare. Je mehr die Umwelt technisiert wird, desto mehr schrumpft der Lebensraum. Je häufiger und intensiver man die Werk- und Fahrzeuge nutzt, desto unbeweglicher werden Geist und Körper, deren Unbeweglichkeit bloß zum Transport“gut“ wird. Je mehr man sich aufs Automatische und auf die menschlichen Sklaven verlässt, überlässt man ihnen die mechanische und elementare Arbeit, desto mehr lässt man sich von den Sklaven versklaven, gerät man in die Abhängigkeit. Die Artefakte ziehen ihre Schöpfer in ihren Bann, entfremden sie, entziehen ihnen ihre Schöpfungskraft.
Die Tugenden entstehen aus der Not, nicht aus dem Überfluß. Das vergessen die Ideologen und Konstrukteure der verfressenen Überfluß-Gesellschaft, die einerseits allgemeine Glückseligkeit versprechen und ermahnen, die Not erzeuge erbitterten sozialen (Verteilungs)Kampf, unterlassen aber, ihre Versprechungen einzulösen und auf die negativen Seiten des Überflußes hinzuweisen. Aus der Überfluß-Gesellschaft entsteht die Überdruß-Gesellschaft, in der die Verhältnisse zwischen Not und Tugend zu Gunsten marktwirtschaftlicher Eliten, mittels Marken-Köder und mit dem Regelwerk der psychosozialen Manipulation pervertiert sind. Die ausgefallenen Regelwerke der Natur und Moral begünstigen die Entstehung teratogener psychosozialer Formen, die Vorstellungen von Norm, Maß, Gesundheit, Vernunft, Scham gehen verloren, alles wird maßlos, schamlos, pathologisch. Bei der Überwindung des Notwendigen überwiegen unbeabsichtigte Folgeerscheinungen industrieller Überproduktion die guten Absichten: Überbevölkerung, territoriale Konflikte, Kriege, Genozid, Müllproduktion, Gasproduktion, Umweltzerstörung.
Die Not der Massengesellschaft besteht in der Gleichförmigkeit ihrer Ziele: Alle haben auf das gleiche Pferd gesetzt, um zu gewinnen, was rein rechnerisch nicht funktionieren kann. Während Kinder wie Automaten alles Mögliche kopieren, nachahmen und verinnerlichen, um weiterzukommen und ihre Vorbilder zu übertreffen, trennen sich die Massenmenschen niemals von dem Kollektiv, bleiben in der gleichen Partei, wie z.B. im Fall der generationsübergreifenden...