TEIL 1. Tod und Abschied in der Praxis
1.1 Marcos Tod – 1997
Ihr kennt das sicherlich: Eine tolle Clique. Auf der einen Seite gibt es da die Singles, auf der anderen Seite die Pärchen. Man erlebt viel, hat viel Spaß und erlebt mit seiner Clique individuelle Dinge. Man wächst zusammen. Clique ist ein Teil des Lebens – Menschen, mit denen man wächst. Man lernt, sich gegenseitig zu respektieren und zu lieben.
Eben einer solch faszinierenden Clique gehörte ich 1997 an. Einen ganz besonderen Bezug hatte ich zu meinem Kumpel Micha. Ein wundervoller Mensch. Stets gut gelaunt – stets ein Lachen auf dem Gesicht und im Herzen.
Über ihn lernte ich seine Schwester und seinen Schwager kennen, Christine und José. Auch ihre beiden Kinder wurden mir am Rande bekannt, Sabrina und Marco. Zwei reizende Kinder. Sabrina war das ältere Kind.
Wir hatten alle miteinander viel Spaß über viele Monate hinweg.
Dann, ich weiß gar nicht mehr wann genau, begann die Zeit, da Christine und José nicht mehr so oft zu den regelmäßigen Treffs kamen, da der kleine Marco krank wurde. Irgendeine Infektion. Alle gingen davon aus, es handle sich um eine Erkältung. Somit haben wir dieser Situation zu Beginn keine besondere Bedeutung beigemessen.
Aber die vermeintliche Infektion – wir gingen immer noch alle davon aus, es handle sich um eine schwere Erkältung – wurde schlimmer und schlimmer.
Marco ging es zusehends schlechter.
Kennt Ihr diese Momente im Leben, wenn bestimmte Dinge allmählich ins Bewusstsein gelangen? In den Bereich, wo man öfter an etwas denkt als je zuvor?
Genau so erging es mir.
Ich beschäftigte mich intensiver mit Christine und José. Marco war bereits im Krankenhaus, und ich lernte ihn leider nicht mehr wirk - lich kennen.
Ich bin Bestattungsunternehmer. Es ist meine tiefe innere Bestimmung, Menschen in Verlustsituationen zu begleiten.
So war es mir ein besonderes Bedürfnis, den Kontakt mit Christine und José mit Ihren Kindern, zu intensivieren. Ich wollte mit meiner inneren Haltung Stärke zeigen und als Freund Unterstützung geben.
Mittlerweile hatte sich herausgestellt, dass Marco wohl eine Krankheit hatte, die bislang nur an insgesamt zwölf Kindern inklusive ihm selber diagnostiziert wurde. Das Furchtbare an dieser bislang unbekannten Krankheit war, das alle elf Kinder daran gestorben waren.
Die Bedeutung dieser neuen Situation wurde für jeden Beteiligten fast unerträglich.
Dann kam der Moment, der für mich von tiefer, innerer Kraft beseelt war: Ich durfte zu Marco ins Krankenhaus. Christine empfing mich, und wir gingen zusammen in das Krankenzimmer des Kinderkrankenhauses. Es war ein eigenartiges, neues Gefühl. Zu wissen, dass du gleich am Bett eines zum Tode verurteilten Kindes sitzt… Man kann das kaum beschreiben, wenn man es nicht selbst erlebt hat.
Trotz allem war ich der festen Überzeugung, dass Marco durch ein Wunder wieder gesund werden kann.
An seinem Bett angekommen – er döste gerade – sprach Christine Marco leise an: „Hey Marco – der Tom ist da“. Marco öffnete die Augen und ich begrüßte ihn ganz normal. Als ob alles in Ordnung sei. Es war mir wichtig, Marco das Gefühl zu geben bestärkt zu sein. Durch eine alltägliche Begrüßung würde er sich automatisch an seinen gesunden, normalen Alltag erinnern. Und genau so war es.
Ich kam mit Marco ins Gespräch und wir quasselten alles Mögliche. Was genau kann ich heute leider nicht mehr sagen – das ist schon so lange her. Ich erinnere mich lediglich, dass ich sowohl Marco wie auch Christine Worte der Hoffnung und Stärke gegeben habe.
Ob ihr mir das nun glaubt oder nicht: Es war ein angenehmer und sehr spannender Besuch. Als ich jedoch das Krankenhaus verließ, verließ mich die Kraft und ich weinte bitterlich, da Marcos Zustand keinen Zweifel daran ließ, dass er sterben würde.
Von nun an war ich in ständigen Kontakt mit Christine.
„Ich habe Marco beruhigt, als die Organe begannen zu versagen“ berichtete mir Christine unter Tränen. Ich hörte aus Ihrer Stimme, wie schwer es ihr fiel, Kraft zum Sprechen aufzubringen. „Ich habe ihm gesagt, dass Jesus auf ihn wartet und dass es dort wo er hin geht, sehr schön sein wird“, berichtete Christine von den letzten Stunden mit Ihrem Sohn. „Du wirst all die Hunde wieder treffen, die Oma und Opa hatten.“
Marcos Reaktion war der absolute „Hammer“. Noch heute läuft mir die Gänsehaut über den Körper:
„ Ich weiß Mama – Jesus ist schon da…..“
Ich bin fest überzeugt, dass das Wesen Jesus Christus nach wie vor im Äther der Gegenwart existiert. Marcos Aussage war für mich eine starke emotionale Erfahrung, geprägt durch Ehrfurcht und Sprachlosigkeit.
Ich selbst hatte ja im Alter von acht Jahren meine Nahtoderfahrung und weiß daher so manches über das Hier und das Drüben. Es gibt nichts Grandioseres, als dass (in diesem Fall) ein Sechsjähriger, der im Sterben liegt, mit klaren Worten und einem wachen Verstand eine Erfahrung beschreibt, die sich mit meiner Überzeugung vollkommen deckt und das sich bestätigt, woran ich glaube und mein Leben danach ausrichte. Eine unglaubliche Erfahrung! Marco hat bereits Kontakt zur anderen Seite, die ihn sanft hinüber führt. Hinein in den Zustand des reinen Friedens…
„… und auch die Hunde begrüßen mich schon…“
Es wurde immer unfassbarer, was sich da plötzlich abspielte.
Insbesondere war es nun vollkommen real: Marco wird sterben.
Eine Zeit des emotionalen Auf und Ab begann, für alle Beteiligten.
Marco war tot. – Schweigen – Leere – Unfassbarkeit – das Gefühl, verloren zu haben.
Schon mehrmals in meiner doch jungen Karriere hatte ich bereits Menschen beerdigt, die ich sehr gut kannte, sogar Verwandte und Freunde. Aber nun ein Kind. Darüber hinaus ein Kind, das ich persönlich kannte und mit dem ich wenige Tage vor seinem Tod noch gesprochen hatte. Ein Kind, das da frei heraus sagte, dass es Jesus Christus bereits wahrnehmen konnte.
Dann die Eltern, die ich zuvor auf eine Weise lieben lernte, die so einzigartig war. Eine Liebe, die es jetzt unter Beweis zu stellen galt.
Wir trafen uns unter Tränen im elterlichen Haus von Christine, um die Beerdigung, die Trauerfeierlichkeit wie auch insbesondere das Abschiednehmen von Marco zu gestalten. Das war eine Situation, die ich mein ganzes Leben nie vergessen werde. Ich möchte sie auch auf keinen Fall missen. Dazu später mehr.
Gemeinsam besprachen wir den Ablauf der bevorstehenden Trauerzeremonie. Ein Redner wurde bestimmt, Herr Walzebuck. Ein älterer Mann, der durch seinen weißen, vollen Bart sehr weise wirkte. Untermauert wurde dies durch seine vertraut klingende, tiefe Stimme. Ein wunderbarer Mensch, der leider inzwischen auch von uns gegangen ist. Wenn man bei ihm die Augen schloss, während man zuhörte, konnte man fast meinen, Gott selbst würde da sprechen. Dieser Mann war einzigartig. So einzigartig, wie es auch Marco war. So einzigartig wie Marcos kurzes Leben.
Wir besprachen den Abschied. Den Prozess dieser Phase der Trauer.
Schon damals hatte ich, basierend auf meiner Nahtoderfahrung, dieses bestimmte Wissen, das ich schon erwähnt habe.
So war es tief in mir verankert, wie wichtig nun jeder Schritt sein wird, der mit Marco zu tun hat, solange er noch physisch sichtbar ist.
So vereinbarten wir, dass ich mit Marco, sobald ich ihn im Krankenhaus holte, mit dem Leichenwagen zuerst an Omas und Opas Haus anhalte. Man redet dabei von einer sogenannten „Heimfahrt“. Nach dieser „Heimfahrt“ wird Marco auf den Friedhof gefahren, wo er dann zum Abschiednehmen aufgebahrt wird.
Wir vereinbarten, dass ich anrufen würde, sobald Marco auf dem Friedhof angekommen und von mir versorgt war, so dass die Familie direkt zu Marco kommen könne.
Nebenbei bemerkt möchte ich an dieser Stelle dem Großvater von Marco meinen größten Respekt zum Ausdruck bringen. Er war derjenige, der mit mir zusammen den kleinen Marco in den Sarg gelegt hatte und auch beim Anziehen der Kleidung geholfen hatte.
Ich hatte nun mittlerweile Marco unter ständigen Heulkrämpfen und einem unendlich scheinendem Schmerz im Krankenhaus abgeholt und fuhr nun zum großelterlichen Haus. Vorne im Leichenwagen hatte ich ein DIN-A-5-Foto von Marco in der Mitte der Windschutzscheibe angebracht. Auf der Motorhaube ein weißes Blumenbukett mit Trauerflor. Das war das Größte an Würde, das ich Marco in diesem Moment geben konnte.
Am großelterlichen Haus ging ich zur Familie hinein. Stille. Christine gab mir die Kleidung, die Marco angezogen bekommen sollte mit der Bitte: „Wenn Du meinen Marco angezogen hast – drücke ihn bitte noch einmal von mir…“
Ohne zu zögern schaute ich Christine tief in die Augen und sagte: „Selbstverständlich.“
Wiederum Stille.
Der Großvater stieg mit mir in den Leichenwagen, und wir fuhren Marco in Schrittgeschwindigkeit auf den Friedhof. Die Stille auf der gesamten Fahrt wurde von gegenseitigem Schluchzen unterbrochen. Es schien alles so schwer.
Auf dem Friedhof brachten wir Marco in seinem weißen Sarg in die Halle und versorgten ihn. Er war so klein – so zierlich. So still.
Immer wieder spukten mir die Bilder von Marco durch den Kopf, als er noch gesund war. Frech – agil – quirlig. Wie kleine Kinder nun mal so sind. Ein kleines Lächeln ging mir bei dieser Erinnerung übers Gesicht.
Marco war inzwischen versorgt und angezogen. Nun galt es, das Versprechen an seine Mutter einzulösen, Marco noch einmal ganz fest zu drücken und einen Gruß von Mama auszurichten. Dazu musste ich mich erst einmal sammeln.
Ich nahm einen tiefen...